III - Karin

Mit dem hölzernen Schaben des Türblatts setzte Karins Herz einen Schlag aus. Die Zeit, ein Versteck zu suchen, fehlte. Dort betrat jemand das Zimmer. Ihre Verfolger. Ohne einen weiteren Gedanken an ihre Optionen zu verschwenden, warf sie sich auf den Boden und schlängelte sich wie ein Tausendfüßler unter das Himmelbett. Mit dem Gesicht durchbrach sie dichtes, klebriges Gespinst. Unterdrückte ihren Ekel, wandte sich hindurch und schuf mit ihrer verkrampften Hand, die immer noch das leuchtende Smartphone umfasste, Platz. Das Licht! So ein Mist. Mit zittrigen Fingern schaltete sie die Aufnahme aus, damit sie sich nicht durch die Helligkeit verriet. Abonnenten hin oder her – hier ging es um ihr Leben.

Schwer atmend kam sie zur Ruhe. Verdammt. Ihre pumpende Lunge würde man deutlich hören. Bewusst konzentrierte sie sich darauf, ihren Atem und Puls unter Kontrolle zu bekommen. Ein Hoch auf die Achtsamkeitsübungen ihrer Smartwatch. Sie hätte nie gedacht, dass diese ihr Leben retten könnten.

Gedämpft erscholl der Ruf einer männlichen Stimme: „Hey! Wir wollen euch nichts tun, aber wir sind bewaffnet. Kommt langsam mit erhobenen Händen auf den Flur."

Shit. Und jetzt? Die kämen gleich herein und schauten garantiert unter das Bett.

„Psst."

Vor Schreck riss sie ihr Haupt hoch und schlug kräftig gegen eine Holzstrebe. Nur mit Mühe konnte sie einen Aufschrei unterdrücken und hielt sich die Hand vor den Mund. Der Laut kam von hinten.

Mit zittrigen Fingern und kurz vor einem Herzinfarkt, so heftig hämmerte der arg beanspruchte Muskel in ihrer Brust, schaltete sie die Lampe ihres Handys an. Mit Mühe wandte sie ihren Kopf und spähte in Richtung der anderen Wand. Beinahe wäre ihr erneut ein Schrei entfahren und sie versuchte, robbend möglichst viel Abstand zu gewinnen.

Von dort schaute sie, mit einem Lächeln auf den Lippen ein junges, maximal acht Jahre altes Mädchen an. Hielt ihren Finger vor den Mund und zwinkerte ihr zu. Das Mädel lag genau wie sie zwischen den dichten Spinnweben. Sie hatte, soweit das im fahlen Schein zu erkennen war, lockige dunkle Haare und trug ein Kleid mit einem Stickkragen. Wie zum Teufel kam die hierher? Unter dieses Bett. War es etwa ...

Von hinten unterbrach ein langgezogenes Schaben ihre rasenden Gedanken, während sich die Tür vollständig aufschob. Scheiße. Auf der einen Seite ein verirrtes Mädchen, Geistererscheinung oder was auch immer. Auf der anderen bewaffnete Kerle, die gleich das Zimmer durchsuchen würden. Zügig schaltete sie das Licht wieder aus und konzentrierte sich auf die Tür. Zumindest schien die Kleine ihr wohlgesonnen zu sein. Jetzt musste sie zunächst hoffen, dass die nicht unter das Bett schauen würden.

Ein paar schwarzer Militärstiefel trat in das Zimmer und leuchtete mit einer Taschenlampe herum.

„Da ist niemand zusehen", sprach die gleiche Stimme wie eben.

Kurz darauf folgten zwei weitere Stiefel. Zügig durchsuchten sie den Raum.

„Hm ... da habe ich mich wohl geirrt", meinte eine zweite, deutlich weniger selbstbewusst klingende Stimme eines Mannes.

Die beiden wendeten sich dem Ausgang zu. Erleichtert ließ sie den Atem entweichen und entspannte sich. In diesem Augenblick landete ein Körper mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden und ein grelles Licht blendete sie. Daneben zeigte sich die bedrohliche Öffnung einer Pistole. Geblendet schloss sie die Augen und wollte sich ergeben.

„Nix außer jede Menge Spinnenweben", sprach der Erste zu ihrer endlosen Verblüffung und erhob sich wieder.

„Okay", meinte der andere. „Vermutlich war das nur Einbildung. Wollen wir weitersuchen?"

„Vergiss es. In diesem Kasten kann man sich praktisch überall verstecken. Wir behalten einfach unsere Ausrüstung in der Nähe und passen auf, dass uns niemand in den Rücken fällt. Vielleicht war es ja wirklich nichts."

Wenig später entfernten sich gedämpfte Schritte, während die Tür offen stehen blieb. Erneut schaltet sie ihre LED ein und wandte sich dem Mädchen auf der anderen Seite zu. Im Lichtschein zeigten sich nur Spinnenweben und kleine weghuschende Körper, die versuchten, sich ihrem Schein zu entziehen.

Verflucht! Was war hier gerade passiert? Ihre Gedanken fuhren Karussell. Hatte sie einen Geist gesehen, der ihr geholfen hatte? Sie unsichtbar gemacht? Oder war das nur ihre überspannte Fantasie? Hatte der Mann sie entdeckt, aber aus welchen Gründen auch immer ignoriert, und seinem Kumpan nur etwas vorgespielt? War das eine Falle und die beiden warteten weiterhin auf dem Flur darauf, dass sie hinaustrat?

Tausend Fragen und eine Million Antworten, von denen keine einen echten Sinn ergab, strömten wie eine Flut durch ihr Gehirn. Aber unter dem Bett fände sie keine Lösung. Sich nochmals umschauend kroch sie langsam heraus. In der Ferne schlug eine Tür ins Schloss. Vermutlich hatte das Paar den Korridor verlassen – oder zumindest einer der beiden.

„Ruhig Karin", sprach sie zu sich, als sie erneut im Zimmer stand und sich Staub und Spinnenweben von Gesicht, Haar und Körper klopfte. „Komm wieder runter und sieh zu, dass du dich vom Acker machst."

Sie musste einfach ihre eigene Stimme hören, um nicht komplett verrückt zu werden, auch wenn das riskant war. Das war nicht ihre erste brenzlige oder seltsame Situation und am Ende war sie immer mit einem blauen Auge davon gekommen. Nur echte Geister, die waren ihr nie begegnet. Egal. Hauptsache weg.

Zügig schritt sie zu den doppelten Fensterläden, um diese zu öffnen. Die dunkelbraune Farbe blätterte bereits ab und eine der verschmierten Scheiben hatte einen Sprung. Der simple Drehgriff, mit dem sich die Flügel entsperren lassen sollten, saß jedoch bombenfest. Kein Wunder. Hundert Jahre Rost und Dreck hatten ihre Arbeit getan. Mit Gewalt zog und rüttelte sie an den klapprigen Läden. Ohne Erfolg. Die Teile waren deutlich stabiler, als die Optik vermuten ließ.

„Na wartet ...", murmelte sie vor sich hin.

Entschlossen holte sie ihr kurzes Stemmeisen aus dem Rucksack, das sie für genau diese Fälle mitschleppte. Das gebogene Ende rammte sie in den Spalt zwischen den Fensterflügeln, schloss vorsichtshalber die Augen und zog ruckartig mit ihrem Körpergewicht. Das Krachen und Bersten, das sie erwartet hatte, blieb aus. Die Metallkante rutschte aus dem Schlitz, ohne einen sichtbaren Schaden zu hinterlassen.

„Was zum ...?"

Verwundert betrachtete sie das unversehrte, brüchig wirkende Holz und fuhr mit der Hand drüber. Ganz normale alte Fensterläden, an denen man sich leicht Splitter in die Finger hieb. Aber auch ihr zweiter Versuch, mit geöffneten Augen, machte keinen Unterschied. Als wenn das extrem fester Kunststoff oder Metall wäre. Und jetzt? Dann eben auf die harte Tour. Sie deckte mit der Jacke ihr Gesicht ab und schlug mit dem Stemmeisen auf eine der Scheiben. Mit einem dumpfen Aufschlag wäre ihr fast das Werkzeug aus der Hand gesprungen, als hätte sie auf massiven Beton eingeprügelt, oder Panzerglas.

War das möglich? War diese ganze Villa ein Fake? Versteckte Kamera oder irgendein krankes Experiment? Langsam wurde ihr ernsthaft mulmig. Das ihre überstrapazierten Nerven ihr Geister vorgaukelten und irgendwelche Typen hier in der Villa unterwegs waren, das ließ sie sich ja noch eingehen. Aber warum sollte jemand Fensterrahmen aus Stahl und Panzerglas einsetzen, das authentisch alt wirkte?

Kopfschüttelnd machte sie die Probe aufs Exempel. Mit einem kräftigen Ruck des Stemmeisens fielen Stuhl und Kommode auseinander. Auch die Vorhänge am Himmelbett und Fenster lösten sich quasi bei der ersten Berührung aufgrund ihres Alters in Staub auf. Und die Spinnweben unter dem Bett waren definitiv kein Fake. In der Toilette, die hinter der Seitentür zu finden war, bot sich das gleiche Bild. Ehemals weiße Fliesen mit verschnörkelten blauen Mustern und altertümlichen Messingarmaturen sowie ein Fenster, das Fort Knox alle Ehre gemacht hätte. Hier passte irgendwas hinten und vorne nicht.

Ein leises Mädchenkichern ließ sie im Türrahmen des Badezimmers erschrocken herumfahren.

Das gleiche Mädchen, das ihr unter dem Bett geholfen hatte, saß im Schein ihrer Taschenlampe, die sie inzwischen anstelle der Smartphonefunzel verwendete, auf der Matratze und hielt sich die Hand vor dem Mund. Kornblumenblaue Augen schauten sie vergnügt aus einem bleichen Gesicht an. Ihre braune Haarpracht war zu einem Zopf gebändigt. Dazu trug sie ein mit blassrosa Rüschen besetztes Kleid, weiße Strumpfhose und passende Ballerinas. Eine hübsche Achtjährige – aus dem vorletzten Jahrhundert, der Kleidung nach zu urteilen.

„Äh ... hi", grüßte Karin und war sich unschlüssig, was sie davon halten sollte. „Darf ich fragen, wer du bist und was du hier machst?"

„Ich möchte dir beistehen, du Tölpel. Das sollte doch offensichtlich sein." Mit einem Hüpfer sprang sie vom Bett, zeigte ein Lächeln auf ihren kirschroten Lippen und deutete auf die Tür. „Komm, begleite mich!"

Damit lief sie mit federnden Schritten aus dem Zimmer. Unfähig zu begreifen, ob es sich um eine reale Person oder eine Geistererscheinung handelte, verharrte sie an Ort und Stelle. Entweder das hier war ein ultra-realistisch gemachter Prank oder ... sie wusste auch nicht, was sonst.

„Worauf wartest du?", hörte sie Stimme der Kleinen aus dem Korridor rufen.

Dem Mädchen folgen. War das schlau? Aber hier ausharren brachte sie nicht weiter.

„Warte!", rief Karin und folgte ihr mit langen Schritten auf den endlosen finsteren Flur. Der Schein ihrer Taschenlampe fand die Kleine etwa zehn Meter weiter in der Finsternis in Richtung Hausinneres. „Wie heißt du eigentlich? Und wo willst du hin?"

Keine normale Achtjährige würde einfach so in einen stockdunklen Gang einer verlassenen Villa spazieren. So viel war klar.

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