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»Les' das bitte. Ich erkläre dir dann alles weitere«, murmelte Jeongguk vorsichtig und hielt Jimin einen Zettel entgegen, der aber kurz zögerte.
Irgendwie hatte er Angst. Angst vor den geschriebenen Zeilen und was sie bedeuteten. Da er aber endlich die Wahrheit wissen wollte, nahm er es entgegen und entfaltete das Papier, nur um die Augen zu weiten. Es war kein normaler Brief, es war ein ärztliches Attest, ein Befund.
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Diagnostik und Therapiezentrum für psychische und psychiatrische Erkrankungen Kinder
und Jugendlicher
Ärztliches Attest über den
Patienten: KIM HYUK
geb. am: 5. Juli 1995
Beim oben genannten Patienten wurde das Krankheitsbild nach F90-F98, eine Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn der Kindheit und Jugend, festgestellt. Nach einem Verhaltenstest, sowie ausführlichen Sprechstunden wurde nach ICD-10 eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung heraufgefiltert.
Der Patient neigt zu:
━ Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
━ Unerwarteter und nicht berücksichtigter Handlung mit Ausblendung möglicher Konsequenzen
━ Unbeständiger und launischer Stimmung
Es wurde festgestellt, dass die ICD-10 in differenzierten Etappen beim Patienten auftrifft, und durch Konflikte, unerwiderte Handlungen und dem vermittelten Gefühl von Eifersucht stimuliert wird. Der Patient hat, laut eigener Aussage, unter anderem antisoziales Verhalten seinen Mitmenschen gegenüber gezeigt, und die Konsequenzen, sowie begangenen Schritte im Nachhinein bereut. Er würde seine Handlungen nicht wahrnehmen – siehe Protokoll der letzten Therapiestunde.
Vorgesehene Therapie für den Patienten:
Medikamentöse Therapie mit Neuroleptika – siehe Medikamentenprotokoll – unter Aufsicht des Psychotherapeuten, Dr. Mag. Ahn.
Dr. Ahn
27. Mai 2009
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Jimin schluckte schwer und wusste nicht, was er sagen sollte. Mit glasigen und geweiteten Augen hob er seinen Blick und starrte in Jeongguks bemitleidenswerte Miene, die Jimins zitternden Körper musterte.
»Ich kenn' Hyuk schon seit ich ein Kind bin«, begann der Rothaarige und jede Faser in Jimins Körper spannte sich an.
Er war für die Wahrheit nicht bereit.
»Hyuk und Junghyun kennen sich seit der Geburt. Sie waren und sind noch immer beste Freunde.«
Kurz stoppte Jeongguk und fuhr sich überfordert mit den Händen über das Gesicht. Ihm war unwohl, er wollte nicht drüber sprechen.
»Jimin, kennst du Hyuks wahre Geschichte? Seine Familie?«
Der Schwarzhaarige überlegte nicht lange, schüttelte dafür aber umso langsamer den Kopf. Er wusste rein gar nichts über Hyuk. Außer dass sein Ex das schwarze Schaf der Familie war. Zumindest laut dessen ehemaligen Aussagen, die der Student auch schon Hoseok geschildert hatte.
»Hyuks Mutter ist bei seiner Geburt verstorben und sein Vater... war nicht der netteste Mensch.«
»Hyuks Persönlichkeitsstörung hat sich wahrscheinlich durch die fehlende Mutterrolle und das aggressive Verhalten seines Vaters entwickelt. Er wurde zwar nicht geschlagen, dafür aber zur Sau gemacht und angeschrien. Ihm wurde immer gesagt, dass er ein Fehler sei und an dem Tod seiner Mutter schuld war. Ich weiß nicht genau, an was seine Mutter verstorben ist, aber ich glaube, dass sie damals zu viel Blut verloren hat«, sprach Jeongguk.
Jimin brachte keinen Laut heraus. Dafür aber sprach seine Mimik mehr als es tausend Wörter jemals konnten. Die Atmung wurde schnell und unregelmäßig, die Hände schweißgebadet und die Augen glasig.
»Hyuks Vater ging zu seiner Schwägerin und übergab ihr sein eigenes Kind, nur um danach spurlos zu verschwinden, da er mit der Krankheit seines Sohnes überfordert war«, erzählte Jeongguk, der mittlerweile Jimins zitternde Hände hielt und sanft streichelte, weiter.
»Genau wie bei...«
»Taehyung. Ich weiß«, schnitt Jeongguk Jimin das Wort ab und verstummte kurz, um dem Schwarzhaarigen die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
»Taehyung hatte Hyuk lieber als du denkst. Glaub' mir.«
Jimin blinzelte sich die Tränen aus den Augen, da sie seine Sehkraft beeinträchtigten. Ungläubig schüttelte er seinen schmerzenden Kopf.
»A-Aber er hat doch gesagt, dass er Hyuk hasst...«
Jeongguk seufzte kurz, nur um danach Jimins weiche Gesichtszüge mit den Händen umrahmen zu können.
»Jimin, das haben wir alle gesagt. Es war nur gelogen«, murmelte er tief.
Für Jimin war das alles zu viel. Er wollte aus dem Auto steigen, fliehen und sich verkriechen, doch er konnte nicht. Er wollte die Wahrheit wissen, und nun musste er sich auch den Rest anhören.
»Die Schwägerin von Hyuks Vater, die somit Hyuks Tante ist, ist Frau Kim. Deine Chefin.«
Jimin ließ die Schultern sinken. Das war nicht sein Ernst, oder? Hyuk verstand sich so gut mit Namjoon und Seokjin weil sie seine Cousins waren? Das erklärte immerhin warum Hyuk so vertraut mit Namjoon war, oder damals am Grillabend beim Kinderheim anwesend war, obwohl Jimin ihn nicht in Kenntnis gesetzt hatte.
»Frau Kim hat Hyuk als ihren eigenen Sohn adoptiert. Dadurch kam sie auf die Idee, ein Kinderheim zu errichten.«
Jimin begann zu schluchzen, wusste keine andere Reaktion, die er stattdessen zeigen hätte können. Das Puzzle, das ihm so lange verwehrt wurde, setzte sich langsam zusammen.
»Aber... w-warum habt ihr das alles gemacht? D-Das Ködern... d-das Anlügen mit der Beziehung...«, wimmerte der Schwarzhaarige, dessen Brustkorb so sehr schmerzte, dass er schon glaubte, er würde an Ort und Stelle sterben.
»Jimin, ich hab' mich wirklich zu Tode in dich verliebt. Ich würde für dich sterben, glaub' mir«, begann Jeongguk erneut, fuhr mit einem seiner Daumen über Jimins bebende, feuchte Lippe und entgegnete dessen verheultes Antlitz mit einem warmen Ausdruck.
»Aber wir wussten, was mit Hyuk passieren wird. Er wollte es so.«
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Jimin fuhr mit Jeongguk schnurstracks zu Hyuks Wohnung. Er weinte noch immer, versteckte verzweifelt das tränende Gesicht hinter den zitternden Händen und spürte den Gurt, der sich in seine bebende Brust schnitt. Er konnte nicht glauben, dass Hyuk jedes Mal die Wahrheit sagte, als er meinte, er würde das alles nicht mit Absicht machen. Jimin hatte ihn als ein Monster und einen Tyrannen bezeichnet. Schuldgefühle rammten ihre eisigen Krallen in seine zitternde Statur, raubte seine Körperwärme.
Warum hatte Hyuk ihm das nie gesagt? Warum wurde ihm so etwas wichtiges vorenthalten? Jimin hätte doch alles Mögliche versucht, um seinen Ex therapieren zu lassen. Eine Therapie hätte vielleicht die Beziehung der Zwei gerettet, sie am Leben erhalten. Jimin wäre vielleicht das Antidot für Hyuks Störung gewesen, oder waren das nur vage Hoffnungen von Jimin, der sich selbst vollkommen verrückt machte? Das alles war wie ein Schlag ins Gesicht. Gestern noch verfluchte er Hyuk, Jeongguk, Junghyun – alle, die eingeweiht waren, und jetzt sah er sie mit völlig anderen Augen.
Er sah in den Kim-Brüdern keine verlogenen Verräter mehr. Junghyun und Taehyung waren keine Lügner mehr. Jeongguk war kein Herzensbrecher mehr, und Hyuk war kein Monster und Psychopath mehr. Jimin wollte seinen Ex sehen. Er wollte sich bei ihm entschuldigen, ausheulen und ihm um den Hals fallen. Seine Berührungen, seine Wärme und die Nähe spüren, die er tief in seinem Unterbewusstsein, das er mit aller Kraft unterdrückte, verlangte.
Jimins glasige Augen fixierten Jeongguk, der sich auf das Fahren konzentrierte. Seine mandelförmigen, tiefbraunen Augen waren auf die schneeweiße Fahrbahn und die pechschwarze Umgebung der Nacht fokussiert. Doch auch seine Augen glänzten vor Sorge, ihm gingen die verschiedensten Gefühle durch den Kopf. Jimin wandte sich wieder ab und versuchte stattdessen durch Atemübungen seinen Kreislauf zu regulieren. Ansonsten würde er noch umkippen, und das wollte er niemanden zumuten. Er musste einfach mit Hyuk reden.
Sogleich Jeongguk auf einem der Besucherparkplätze geparkt hatte, riss Jimin die Autotür wie ein Gestörter auf und rannte zu Hyuks Wohnung, die noch immer stockfinster war. Jimin wollte sich nicht nur entschuldigen, er wollte auch wissen, was es mit Hyuks Arbeit auf sich hatte. Warum hatte er Jimin erzählt, er würde jeden Tag zur Arbeit gehen, sogar einen Monat im Ausland verbringen, obwohl er anscheinend seit einem Jahr nicht mehr berufstätig war? Das würde immerhin den Einbruch von Hyuks Einkommen erklären.
Im Nachhinein fiel Jimin so viel auf. So viele Details und Kleinigkeiten, die stets existierten, von ihm aber immer ignoriert und gar nicht beachtet wurden. So viel machte nun Sinn und doch bestand noch immer keine wirkliche Klarheit. Viele Sachen waren noch totgeschwiegen und wirkten wie ein dichter Nebel, durch den sich Jimin nun eigenhändig kämpfen musste. Weinend und mit Jeongguk hinter sich stürmte Jimin die Treppen rauf, ignorierte die eisige Kälte der Winternacht und klingelte wie ein Verrückter an. Ungeduldig tippte er mit dem Fuß auf und ab, wollte schon erneut klingeln, wurde aber sanft von Jeongguk aufgehalten, da dieser sein Handgelenk festhielt.
Jimin ignorierte ihn und klopfte verzweifelt an die hölzerne Tür. Leise wimmerte er Hyuks Namen vor sich hin, und sank kraftlos in die Knie. Nur vage nahm er Jeongguks Arme wahr, die ihn festhielten. Obwohl Jeongguks Berührungen meist beruhigend auf Jimin wirkten, konnte der in diesem Moment einfach nicht abschalten. Seine braunen Augen senkten sich und als er die abgenutzte Fußmatte sah, traf es ihn wie einen Blitz. Es existierte noch immer der Zweitschlüssel für die Wohnung. Sofort glitt Jimins Hand unter die Fußmatte und kurz schnaubte er, als er den Schlüssel in der Hand hielt, nur um ihn sofort ins Schlüsselloch zu stecken.
Jimin fetzte die Tür auf und rannte in die Wohnung, blieb geschockt inmitten des verwüsteten Wohnzimmers stehen. Die Fenster wurden von den tiefdunklen Vorhängen bedeckt, sodass kein einziges Licht, abgesehen von dem, das Jimin gerade einschaltete, die Wohnung erhellte. Die Möbel waren verstellt, teils umgeschmissen. Der Glastisch vor der, nun vollkommen verrückten, Couch war nur noch ein Scherbenhaufen. Der Fernseher war zersprungen, die Küche ein Chaos. Überall lagen Alkoholflaschen, sowie überfüllte Aschenbecher und zig leere Zigarettenschachteln herum.
Der Geruch der Zigaretten lag noch immer in der Luft, wenn auch schal.
»Hyuk? Hyuk?!«, rief Jimin verzweifelt, erhielt aber keine Antwort.
Sein Ex musste in der Wohnung sein, immerhin waren seine ganzen Sachen in der Garderobe. Der Schwarzhaarige sank in die Knie und brach wie ein Häufchen Elend in sich zusammen. Die Tränen strömten unkontrolliert über sein Gesicht und sein lautes Heulen war das einzige Geräusch in der gesamten Wohnung, die Jimin einst so liebte.
»Jimin.«
Jeongguk kniete sich neben den vollkommen aufgelösten Studenten, nahm ihn vorsichtig in die Arme und küsste kurz seinen Kopfscheitel. Das Gesicht des Älteren war rot wie Feuer, ebenso die Lederhäute seiner verengten und tränenden Augen.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Jeongguk vorsichtig und hielt ihm eine Medikamentenpackung unter die Nase.
Mit zitternden Fingern nahm Jimin sie in die Hände, analysierte die geschriebenen Worte.
»Das sind Zytostatika«, erklärte der Rothaarige, ehe er aufstand und kurz in der Küche verschwand.
Jimin wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und wartete schluchzend auf die Rückkehr des Jüngeren. Jimin wusste nicht, was ihre Wirkung war. Er wusste genauso wenig, dass Hyuk solche Medikamente besaß. Jimin hob wieder seinen Blick und starrte zu Jeongguk rauf, der erneut einen Zettel in der Hand hielt und ihn Jimin übergab. Zögerlich nahm dieser ihn in die Hände.
»Zytostatika werden in der Chemotherapie verwendet. Hyuk wurde vor circa einem Jahr mit Lungenkrebs diagnostiziert.«
Als ein lauter Knall zu hören war, erhob sich Jimin auf die schwachen, wackeligen Beine, stieß Jeongguk an dessen Brust grob von sich und rannte zu der Treppe. Er stürzte hinauf, war auf der Suche nach Hyuk. Er riss die Tür von dem Badezimmer auf, starrte aber nur in die dunkle Leere. Sofort rannte er zum Schlafzimmer und drückte verzweifelt auf der Türklinke herum, die ihm aber keinen Einlass gewährte. Das verdammte Zimmer war abgeschlossen.
»Hyuk! Hyuk, b-bitte! Ich weiß, dass du hier drin bist! Komm raus!«, wimmerte Jimin verzweifelt und klopfte so lange an das Holz, bis ihn seine Kräfte verließen und er wieder auf dem Boden zusammenbrach.
Mit dem Rücken lehnte er an der Tür, versuchte Geräusche aus dem Inneren des Zimmers zu orten, was aber erfolglos blieb. Das einzige, was seine Ohren vernahmen, waren Jeongguks Schritte, der gerade die Treppe rauf kam und ein altes, abgenutztes Taschenbuch in den Händen hielt. Langsam setzte er sich neben Jimin und übergab es ihm.
Jimins Fingerkuppen fuhren über das weiche Leder, ehe er die erste Seite aufschlug. Er wünschte sich, das Buch nie geöffnet zu haben.
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