𝟏𝟕. - 𝐃𝐚𝐬 𝐄𝐧𝐝𝐞 𝐨𝐡𝐧𝐞 𝐀𝐧𝐟𝐚𝐧𝐠

Diese Nacht war Riu zu einer Qual geworden. So verdammt unendlich war der Wunsch, loszulassen und sich dem Schicksal zu ergeben. Sein Körper bebte von diesem Verlangen. Zu verlockend war das Stück Käse in der Mausefalle, das so mühevoll für ihn zubereitet wurde; das alles – damit er dort gleich einem lästigen Ungeziefer sein Leben ließ. Nur noch Nox und Tenebris hielten ihn bei Laune, brachten Motivation. Natürlich, sie konnten ja nicht wissen, wieso er hier war; wieso er sich überhaupt auf den weiten Weg gemacht hatte. Er war da, weil ihm sein Leben wichtiger war als jedes andere. Bei dem Gedanken schmerzte sein Herz. Aber das war die Wahrheit. Was könnte sie denn sonst sein? Er war ein Egoist.

„Dhara! Da ist Dhara! Sie ist da, sie ist wirklich da! Freundin, unsere liebe Freundin, wir sind hier!", schrie Tenebris aus voller Kehle. Sein Miauen war heiser und schrill zugleich. Doch seine Stimme war von solcher Freude getränkt, dass sie ausgereicht hätte, um alle Lorniraner auf einmal glücklich zu machen.

Riu sah sich um, kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Sein Vater hatte ihn früher mal mein Adler genannt, weil er so aufmerksam Dingen gegenüber war, die sonst niemand zu bemerken schien. Doch da war nichts. „Warte ... Vielleicht ist es eine Illusion!" Aber es schien nicht so – Nox sah die Hexe auch. Für einen Moment blieb das Herz des Diebes stillstehen, als die Krähe wie ein Stein von seiner Schulter hinunterfiel. Doch es musste wohl gewollt sein, denn sie stürzte sich genau wie der Kater auf die Zauberin zu, die auch Riu bald erkannte.

Sie saß zusammengekauert auf dem trockenen Boden, denn um sie herum schien eine ganz eigene Welt zu existieren. Hier war alles ausgedörrt, Nebel bedeckte den leblosen, gräulichen Asphalt. Es flogen keine Glühwürmchen, denn das Schweigen, das lastend in der Luft lag, schien tödlich zu sein, einen förmlich zu erdrücken.

Riu kam näher, mit Bedacht setzte er seine Schritte, denn er hatte den Eindruck, als könnte jedes Geräusch den Ort zum Explodieren bringen. Das Stück Land musste ohnehin schon kurz davor sein, denn es schien vor Anspannung zu zittern.

„Dhara! Gesellin! Was ist denn los? Wir haben dich vermisst ... Und du? Dhara, sag doch etwas!", miaute Tenebris und mit jeder Note klang es immer mehr wie ein tragisches, verletztes Weinen. Er schlug behutsam, aber bestimmt gegen ihr Bein, schmiegte sich an ihr Leib und dennoch war alles vergeblich. Nox krähte laut, erzählte der ganzen Welt von dem Schmerz, den sie gerade erlitt.

Der Dieb beobachtete die Dinge stumm wie ein Außenstehender. Im Grunde war er das ja auch. Denn ... Wer war er der Krähe? Dem Kater? Der Hexe? Wer war er dem Oberhaupt, seiner ganzer Heimat? Ein Passant. Ein Passant, wie man diese in Tausenden auf der Straße traf; ein Passant, dessen Gesicht man sofort vergaß, sobald dieses hinter dem Rücken verschwand. Er war ein Moment, nichts weiter als ein kurzer Moment in ihren Leben; ein Schatten. Er war unbedeutend. Überflüssig.

„Nox? Ist sie ..."

„Nein, aber so gut wie", sagte die Krähe. Sie verstanden sich auch ohne viel miteinander zu reden. Der Kater und die Krähe – sie verstanden sich. Wie hatte es Riu nicht vorher bemerkt? Wie hatte er die Freundschaft zwischen ihnen trotz der ganzen Neckereien nicht wahrgenommen? Nein, er war kein Adler. Nicht einmal für einen schlauen Dieb war er gut genug gewesen, sonst hätte man ihn nicht erwischt, nicht mit einem Mörder verwechselt. Er war blind Dingen gegenüber, die wichtig waren. Er war ein Feigling. Etwas, was niemandem von Nutzen war.

„Riu, rette sie", sagte plötzlich der Vogel. Der Genannte zuckte zusammen, riss baff seine Augen auf. „Sie ist gefangen. Somnia hat sie. Rette unsere Vertraute!"

Er musste sich zurückhalten, um nicht aufzulachen. War es vielleicht ein Spiel, was die Krähe gerade führte? Nein, ganz bestimmt nicht – zu ernst war die Lage, zu schwer und lastend die Gefühle. Aber was war es dann? „Wie?"

„Du kannst sie zurückholen. Benutze deine Gabe!"

Diesmal schaffte der Dieb es nicht, seine wahren Gefühle zu verbergen – ein spöttisches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Er sollte seine Gabe benutzen? Die Gabe, dank der er in das ganze Schlamassel reingeraten war? Die Gabe, die ihn zum Monster machte? Die Gabe, die nichts als eine Last, sein größtes Problem war?

Aber nur ein Blick zu Tenebris reichte aus, um ihn zu überzeugen. Er musste durch. Vielleicht als Gegenleistung für die ganzen Wahrheiten, die er vor den Tieren geheim hielt; für die Wahrheiten, die er ihnen verschwieg.

Riu zitterte, als er sich neben der Hexe niederließ. Sie war jung, zumindest sah sie so aus. Nur war ihre Haut blass wie bei einem Leichnam, die Augen starr und die Lippen zu einer geraden Linie gepresst. Der Blick des jungen Mannes fiel auf ihre Hand und bevor er es sich anders überlegen konnte, berührte er sie.

✩☾✩

Es war zu viel Schmerz. So unfassbar viel Schmerz, dass sein Körper vor Anspannung vibrierte. Egal wie viel Mühe er sich nun geben würde, er wusste – er würde ihr das Leid nicht einmal ansatzweise nehmen können. Obgleich es nur ein Gedanke war, der bitter schmerzte. Nur ein einziger Alptraum – ihr Alptraum. Dabei war er etwas, was Riu kannte, was ihm vertrauter war als alles andere. Es war Einsamkeit.

Die Hexe träumte, wie Tenebris und Nox starben. Sie kamen um friedlich, waren schon deutlich gealtert und doch tat es weh. Tat so weh, dass es beinahe die Seele zerriss, sie entzweite.

Riu wusste nicht, ob er sich nun wundern sollte oder nicht. Dennoch entschied er sich in Kürze dafür – Einsamkeit war wahrlich etwas Gewöhnliches, etwas, wo jeder einmal durch musste. Was weniger normal war, war der Tod, dem sie zufolge war. Aber waren es wirklich die Gedanken einer Hexe? Die Gedanken einer Bestie?

Riu fand sich plötzlich an einem Ort wieder, jedoch nicht unmittelbar in Somnia. Es schien, als wäre er irgendwo anders zu sich gekommen. Hier gab es gar nichts, buchstäblich nichts. Bloß eine Leere, die sich zu einem reinweißen Korridor formte, ohne Decke und ohne Boden. Ohne Ende.

Hier war die Luft sogar irgendwie leer, genauso wie die sinnlose Stille. Und als der Dieb die Hexe bemerkte, wusste er, wo er war. Er befand sich in ihrem Kopf, ihren Ängsten, ihrer Somnia. Nox hatte recht gehabt – die junge Frau wurde erwischt, obgleich sie allerlei Magie besaß, diese kontrollieren konnte. Aber es stellte sich heraus, dass die Mächte keine Rolle spielten, wenn der Verstand nicht klar und das Herz furchtlos blieben.

Er kniete sich neben der Hexe hin und berührte sie, strich so über ihren Geist. Er erblickte ihre Trauer mehr und mehr, bis er geschwächt war wie ein gelähmtes Beutetier und bis sie in der Lage war, gemächlich ihren Kopf zu heben. Ihre Augen glänzten in einer undefinierbaren Farbe, waren getränkt mit Qual. Sie öffnete ihren Mund, bemühte sich zwecklos um ein Wort.

„Nox und Tenebris warten auf dich. Du musst zurückkommen, sonst stirbst du", hauchte er. Sonst sterben wir beide. Doch er wusste, dass sie sowieso nicht überleben würden, auch wenn sie hier hinauskämen – Somnia würde es nicht zulassen. Spätestens in der nächsten Nacht würde sie ihnen ihre Leben stehlen, wie Riu einst Münzen gestohlen hatte. Die Erkenntnis traf ihn wie die Spitze eines giftigen Pfeils.

Nox, Tenebris, die Hexe, er – sie alle waren Gefangene. Das Spiel hatte bereits seit Langem sein Ende gefunden, ohne je einen Anfang gehabt zu haben.

Er wartete, nahm seine Hand nicht von der der Hexe. Er war zu weit gegangen, hatte viel zu viel von sich erwartet. Welchen Unterschied machte es jetzt noch, ob er nun sein Messer aus der Tasche zog und die Frau vor sich tötete oder sie mit seiner letzten Energie rettete? Welchen Unterschied machten die Sekunden, die zwischen diesem Moment und dem Tod vergehen würden – ganz egal, ob es das Ende Dharas oder sein eigenes sein würde? Denn nur so konnte er sie retten – indem er sich opferte. Somnia forderte Leben für Leben, wie anfänglich Arwan, das Dorfoberhaupt, sein Leben für das des Lords gefordert hatte. Es ging nicht anders, denn nichts war umsonst.

Aber wer nun für diese letzten Augenblicke – er oder sie? Dies war die einzige Frage, die an diesem Ort noch Sinn machte. Doch er hatte sich bereits entschieden.

Riu seufzte und zwang die Gedanken aus seinem Kopf. Er lehnte sich nach hinten und ließ die Energie aus seinem Körper weichen; ließ sich von dem grenzenlosen Schmerz überfüllen, der ihm den letzten Atem nehmen würde. 

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