𝟏𝟎. - 𝐃𝐞𝐫 𝐖𝐞𝐠 𝐧𝐚𝐜𝐡 𝐒𝐨𝐦𝐧𝐢𝐚
„Ich habe heute seltsam gut geschlafen. Ich habe eine Präsenz gespürt. Ich glaube, da war etwas in meinem Traum, in meinem Kopf", sprach Tenebris das Thema irgendwann tatsächlich an. Er war schon am frühen Morgen aufgewacht, hatte mit seinem durchdringenden Schweigen Riu und der Krähe den letzten Nerv genommen. Sie wussten alle beide, was geschehen war, wenn auch Nox es nur vermuten konnte. Tenebris hingegen war bisher in Unwissenheit geblieben.
„Rede keinen Blödsinn, fetter Kater, so etwas gibt's doch überhaupt nicht", antwortete die Krähe. Währenddessen zupfte sie konzentriert an ihrem Gefieder und schüttelte es, wollte so ihr glänzendes Federkleid ein wenig reinigen.
„Und auch wenn, wir haben keine Zeit mehr, um uns um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Wir müssen entscheiden, wie es weitergeht", meinte Riu. Er hatte letzte Nacht lange überlegt, war ratlos gewesen. Er hatte nachgegrübelt, ob er den Tod durch den ewigen Schwur nicht doch lieber bevorzugen sollte, anstatt sich zu stressen und sich auf eine zum Scheitern verurteilte Mission zu fokussieren.
„Was gibt's da zu entscheiden?" Die Krähe wirkte empört. „Ich weiß nicht wie ihr es seht, aber ich gehe bis ans Ende der Welt, um Dhara zurückzuholen! Somnia macht mir da keine Angst!"
„Sollte sie aber!", fauchte der Kater. „Für eine, die weiß, was dort vor sich geht, bist du aber ganz schön schwachsinnig, du blödes Schnabeltier!"
„Es geht um Dhara!"
„Tu nicht so, als wäre sie mir unwichtig! Aber es geht eben nicht nur um Dhara, sondern auch um unsere Leben. Und was, wenn es ihr bestens geht? Wenn bei ihr dort alles nach Plan läuft? Wir wissen's ja nicht. Aber wir könnten verloren gehen, noch bevor wir auf unsere Gefährtin treffen! Ist es das, was du willst?"
„Du hast bloß noch nie Liebe zu jemandem verspürt."
Es war deutlich zu weit gegangen, denn Tenebris knurrte wie ein wahrlicher Panther und fletschte daraufhin seine spitzen Zähne. Sein langes, welliges Fell sträubte sich und die goldenen Augen offenbarten so viel Hass und Abscheu, wie Riu noch nie in seinem Dasein erlebt hatte.
„Glaub du doch, was du willst, Krähe. Ich mag ein Feigling sein, vielleicht sogar nicht gut genug für euch und meine Artgenossen, aber ich habe weit mehr gesehen als nur Liebe und Leben. Ich habe den Tod gesehen! Ich habe gesehen, wie schnell das Leben aus dem Körper anderer gewichen war. Wie leicht, einfach. Als wäre es selbstverständlich!"
Der Dieb verkrampfte sich. Es war wieder alles da. Einfach alles. Zu viel. Seine eigenen Erinnerungen an Lord Drazhan, Tenebris' Erinnerungen aus letzter Nacht, die Gefühle der Tiere, die nun ein Teil seiner wurden. Es war zu intensiv, zu schrecklich, um es zu beschreiben.
Nur sein einer Gedanke blieb bestehen, er war schon immer da gewesen, aber nun zeigte er sich mehr denn je; ließ ihn beinahe explodieren: Er wollte leben. Ihn trieb seine Lebenslust an, wie nur sie es in der Lage war, zu tun.
„Dann lass uns den Menschenjungen fragen, lass ihn die Entscheidung auf sich nehmen. Seinetwegen hat das ja alles schließlich begonnen, dann soll er es sein, der es beendet!", schlug Nox vor, worauf Tenebris zustimmend nickte.
Der Dieb kam dem Kater näher, kniete sich vor ihm hin, erwies seinen Respekt zu diesem kleinen dunklen Fellknäuel, der sich sein Leben lang vorgestellt hatte, etwas Größeres zu sein. Aber taten sie es denn insgeheim nicht alle? Sich ein besseres Ich zu erträumen?
„Du bist ganz bestimmt kein Feigling, kleiner Panther. Du bist gewiss mutiger als man denkt, wenn du beschlossen hast, uns diese Streichstäbchen zu bringen, obwohl du es nicht einmal musstest. Du hast uns gerettet! Es liegt auch nichts Falsches darin, vorsichtig zu sein. Jeder findet seine eigene Grenze zwischen Vorsicht und Risiko. Aber ich denke, wir haben schon zu viel auf das Spiel gesetzt und zu viel geopfert, um jetzt noch umzukehren."
Tenebris' Pupillen schrumpften, doch Riu bekam die Antwort des Katers nicht mehr mit. Starke Kopfschmerzen, wenn auch etwas schwächer als die letzten Male, eroberten seinen Kopf. Er fiel wieder in die Finsternis mit der einzigen Mühe, die rote Blume in seiner Hand nicht loszulassen.
✩☾✩
Riu wurde von der vertrauten, echoartigen Stimme geweckt, die ihn – das wusste er genau – noch jahrelang in seinen Alpträumen verfolgen würde, falls er das alles hier überlebte.
„Meine Lilie! Ach, so wunderschön und sogar in meiner Lieblingsfarbe!" Jemand riss ihm die Pflanze weg. Der Dieb sprang auf, Funken flogen vor seinen Augen, doch er schaffte es noch vergleichsweise schnell, sich in den Griff zu bekommen.
Das Szenario vor ihm nahm ihm aber fast schon die Motivation. Die Betonwelt wirkte neben dieser grässlichen, leeren Landschaft wie der Himmel auf Erden. Die roten Monde strahlten noch bedrohlicher und heller als das letzte Mal; sie waren wie zwei Unheilbringer, schüchterten ihn abermals ein. Nicht einmal der Allwissende machte ihm mehr Angst. Dieser war eher wie ein kleines Kind, als er seine Blume bewunderte, obwohl diese schon halb verwelkt war. Jetzt fehlte nur noch, dass er begeistert in die Hände klatschte.
Müde beäugte Riu ihn näher, bemerkte ein paar lilane Flecken auf dem blauen Fell, die Spitzen der Hörner, die wolfsartigen Zähne.
„Du hast, was du von uns verlangt hast. Sagst du uns jetzt, was die Hexe genau in dieser ... dieser Somnia sucht? Du hast etwas von einem Alptraum gesagt, was meintest du damit?" Rius Augen funkelten hoffnungsvoll, während er das fragte, obwohl er im Voraus wusste, dass es vergeblich sein würde.
Das Wesen lachte. „Das ist meine Welt, Freunde, ich beschließe hier die Regeln. Die Lilie ist dafür, dass ich euch am Leben lasse, nicht dafür, dass ich euch etwas verrate. Jetzt dürft ihr höchstens sagen, wohin ihr wollt. Ich führe euch hier weg, aber nur, weil ich heute gnädig bin, ausnahmsweise."
„Wir wollen nach Somnia", sagte Tenebris, sobald das letzte Wort den Mund der Bestie verlassen hatte. Überrascht starrten ihn der Dieb und die Krähe an. Warum die plötzliche Meinungsänderung? „Wir retten Dhara, wie Dhara einst mich gerettet hat!"
Die Mundwinkel des Wolfs hoben sich grotesk bis zu den Ohren. Er lächelte, doch es schien Riu eher wie ein Auslachen. „Nun gut, meine sterblichen Freunde. Ich wünsche euch viel Glück, auch wenn ihr weitaus mehr als das auf eurem Weg benötigt. Lebt wohl!"
Da war wieder Kopfweh. Dunkelheit.
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