Chapter 127

(Bild: Tower Bridge)

Lily Evans P.o.V.:

Da wir nicht alle in Vernons Auto passen und wir uns noch nicht voneinander verabschieden wollten, begleiten mich die Rumtreiber zu Fuß nach Hause. Es ist keine besonders kurze Strecke, aber der Spaziergang tut uns allen gut.
Inzwischen sind die heißen Sommertemperaturen heruntergekühlt und ein angenehmer Wind lässt den Rock meines Kleides tanzen.
Eher mental als körperlich erschöpft schaue ich ihm dabei zu.

Selena geht neben mir, den Kopf in den Nacken gelegt und den wolkenlosen Himmel betrachtend.
"Ich habe mich gar nicht bedankt.", sagt sie nach einer Weile, sodass die Jungs, die einige Meter vor uns gehen und sich ausglassen unterhalten, es nicht hören können.
"Hm?", frage ich, ehe ich den Blicke hebe. Selena lächelt mich mit einem Funkeln in den Augen an, das mit der letzten Nachricht des Armbands erlischt war.
"Danke, dass du ihm geholfen hast. Er meinte, er hat dich ganz schön erschreckt."
"Immer wieder gerne."
Wir sehen beide auf den Gehsteig vor uns.
"Du bleibst also wirklich bei Petunia?", fragt Sel.
Ich nicke. "Sie ist vielleicht nicht nett, aber das heißt nicht, dass ich jetzt einfach abhauen und sie hier allein lassen kann. Wir müssen einiges klären und dann ist da ja auch noch ihre Hochzeit. Ich will, dass sie schön wird. Trotz allem."
Sel nickt, runzelte Stirn, sagt aber nichts mehr dazu.

"Wann wirst du das nächste Mal ans Grab gehen?", fragt sie stattdessen mit sanfter Stimme.
Ich kicke einen Kieselstein aus dem Weg. "Weiß nicht. Vielleicht morgen oder übermorgen."
Ich spüre Sels aufmerksamen Blick auf mir. Sie weiß genau, dass ich weder morgen, noch übermorgen diesen Friedhof betreten werde.
"Darf ich dich in einer Woche besuchen und wir schauen mal vorbei?", schlägt sie vor. Ich könnte den Kopf schütteln und sie würde es eine Zeit lang akzeptieren.
Aber mit meiner besten Freundin könnte ich es mir tatsächlich vorstellen, zumindest mal am Friedhof vorbeizugehen.
"Ich würde mich freuen."

Wir sind beinahe Zuhause angekommen. Nur noch eine Querstraße und wir werden erneut Petunia gegenüberstehen.
"Ist es gemein, wenn ich euch nicht ins Haus bitte? Ich glaube, Petunia und ich brauchen jetzt etwas Ruhe."
"Mach dir keine Gedanken. Wir verstehen das."
"Danke." Ich sehe auf und Selena direkt in die Augen. Sie muss sehen, dass ich ohne sie und ihre Brüder schon lange durchgedreht wäre.
In den letzten Tagen haben mich nur die drei auf den Beinen gehalten.
Selena lächelt, bleibt stehen und zieht mich in eine Umarmung. "Schon gut. Alles wird gut, Lily."
Unbeteiligt lasse ich es geschehen, ehe ich kraftlos eine Hand auf ihre Schulter lege.
Wie kann es sein, dass Umarmungen zu Selenas Stärken geworden sind? In unserem ersten Jahr konnte man sie nicht einmal zufällig an der Hand berühren ohne das sie einen Sprung rückwärts gemacht hat.

Über ihre Schulter hinweg sehe ich das Haus unserer neuen Nachbarn.
"Ich hab dir doch mal geschrieben, dass wir einen süßen Nachbarn bekommen haben, oder?", frage ich als wir weiterschlendern. Die Jungs sind inzwischen vor unserer Haustür angekommen und haben in unserem Vorgarten einen Kreis gebildet.
"Jaa", sagt Sel langgezogen. Neugier nimmt ihre ganze Stimme ein.
"Ich hab dir nicht alles gesagt."
Sel hebt die Augenbrauen und sieht mich gespannt an. "Na sag schon!", fordert sie.
"Wir sind einmal zusammen ausgegangen und beim nach Hause bringen hat er mich geküsst.", erzähle ich ihr leise.
Selena quietscht auf und springt einige Mal auf und ab.

Die Jungs sehen zu uns auf die andere Straßenseite.
"Moment!", Sel verstummt innerhalb eines Hüpfers. "Und was ist mit...", sie nickt in Richtung der Jungs. Ich weiß natürlich, dass sie James meint.
"Das war davor. Da wusste ich noch nicht, wie ... naja, wie er eben ist.", bedeutungsvoll sehe ich Sel an, deren Grinsen wieder breiter wird.

"Und, wie war er?" Sie meint den Kuss. Meinen ersten Kuss.
"Gut."
Enttäuscht lässt Sel die Schultern sinken. "Gut?"
"Ja. Gut." Ich zucke die Achseln.
"Oh man!"
"Über was redet ihr?", fragt Sirius mit seinem besten Unschuldslamm-Gesicht.
"Über Lilys ersten Kuss. Sie hat mir erst jetzt davon erzählt!" Sel zieht einen Schmollmund und bückt sich weg, als ich einen Angriff starte.
"Verräterin!", mit roten Wangen stemme ich die Hände in die Hüften. Ich würde jetzt gerne zu James sehen, doch dafür habe ich zuviel Angst vor seiner Reaktion.

Sirius lacht auf. "Nur gut? Oh man. Hoffentlich nicht von unserem Jamesie!" Er wirft seinem besten Freund einen neugierigen Blick zu.
Ohne es geplant zu haben, richte ich meine Augen doch auf ihn.

James sieht mich an und bemerkt Sirius gar nicht. Sein Blick ist ... undeutbar.
Sowohl wütend als auch so, als würde er sich zurückhalten, die Sache von gestern endlich zu Ende zu bringen und seine Lippen auf meine zu pressen. Gänsehaut überzieht meinen Körper als ich rasch den Blick von James abwende und mich wieder Sel zuwende.
Die hat sich inzwischen hinter Sirius in Sicherheit gebracht.
"Hallo?", fragt dieser. "Ich warte hier auf Infos!"
Ich antworte ihm nicht.

"Ein Kuss von mir wäre niemals nur gut."
Ich höre auf, Selena mit Blicken zu töten und sehe zu James. In seiner dunklen Stimme lag ein Versprechen.
Seine Augen halten meine gefangen und ich weiß, dass das alle Umstehenden merken. Doch das ist nicht wichtig. Mein Kopf und mein Herz sind viel zu sehr damit beschäftigt, so wichtige Sachen wie Atmen und Blutzirkulation hinzubekommen.

Sirius stöhnt. "Na super! Wenn Lily echt hier bleibt, darf ich die Klagen unseres Jamesies wieder ertragen!" Er schlägt James mit der Faust gegen die Schulter wie die Jungs es ständig machen und James bricht den Blickkontakt ab.
Ich räuspere mich so unauffällig wie möglich. "Danke, dass ihr heute hier wart. Das bedeutet mir echt viel. Und vielen Dank, dass ich bei euch wohnen durfte."
"Und schlafen.", fügt Sirius flüsternd hinzu, was ihm einen Schlag von James einbringt.
Ich umarme alle nacheinander einmal kurz und als James an der Reihe ist, kribbelt jeder Zentimeter meines Körpers wie verrückt.
Rasch und verlegen löse ich mich von ihm, und weiche dabei seinen stechenden Augen aus.

Sirius disappariert als erstes. Remus und Selena folgen. Ich sehe zu James, der allerdings keine Anstalt macht, gleich zu verschwinden.
"Kann ich noch ein Glas Wasser haben?", fragt er, als würde seine Reise nach Hause nicht nur zwei Sekunden dauern.
Ich kneife die Augen zusammen, öffne aber im nächsten Moment die Haustür. "Klar."

Petunia und Vernon sitzen im Wohnzimmer. Sie berühren sich nicht einmal an der Hand und ich frage mich mal wieder, ob die beiden wirklich ein Paar sind. Geschweige denn verlobt.
Ich habe sie noch nicht einmal Händchenhalten gesehen.

Wir gehen ohne Worte an ihnen vorbei in die Küche. James lehnt sich entspannt an die Küchentheke und lockert seine Krawatte, während ich ein Glas unter den Wasserhahn halte.
"Was machst du heute noch?", fragt James scheinbar beiläufig.

Ich warte mit der Antwort. Nicht sicher, ob ich ihn dabei haben will.
Doch alleine zu gehen finde ich auch nicht gerade verführerisch.
"Ich wollte nach London.", beginne ich, "zur Towerbridge."
James sieht auf. Sein Blick drückt Überraschung, aber auch Verständnis aus.
"Willst du einen Reisebegleiter?"
Ich reiche ihm das Glas und er nimmt einen großen Schluck.
"Willst du Ewigkeiten ohne ein Wort zu sagen auf die Themse starren?", stelle ich die Gegenfrage.
"Nichts dagegen." Er stellt das Glas beiseite und sieht an sich herab. Dann zuckt er die Achseln und dreht auf der Ferse, um das Haus zu verlassen.
Er scheint zu ahnen, dass ich Anti-Apparierzauber und noch ein paar andere Schutzzauber auf das Haus gelegt habe.

"Wir gehen nochmal ein bisschen raus.", teile ich meiner Schwester im Vorbeigehen mit, die nicht aufsieht. Vernon dagegen ruft uns ein "Bis dann" hinterher.

Wir apparieren zusammen in eine Seitengasse keine hundert Meter von der Towerbridge entfernt, an der nur wenige Anzeichen für eine Explosion zu sehen sind. Einzig ein paar Verkehrshütchen verraten, dass hier Bauarbeiten stattfinden.
Ohne uns abzusprechen gehen wir am Ufer des Flusses entlang auf das beeindruckende Wahrzeichen Londons zu.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie ausgerechnet hier gestoben sind. Es hat sich einfach nichts verändert!
Die Brücke wird von Autos befahren und auf beiden Straßenseiten sind breite Fußgängerwege.
Vorsichtig setze ich einen Fuß drauf. Im nächsten Moment stolpere ich zurück und beinahe in den Mann, der hinter mir geht.
Am Rand bekomme ich mit, wie James sich für mich entschuldigt und mir eine Hand auf die Schulter legt.

Mein Blick ist auf eine Stelle etwa fünf Meter entfernt gerichtet. Sobald ich es einmal gesehen habe, kann ich meine Augen nicht von der kleinen Andachtsstätte lösen, an der viele Menschen einfach vorbeigehen. Nur wenige bleiben stehen, sehen die Bilder der Opfer und die Kerzen und Blumen darum herum an und schütteln den Kopf.

"Willst du hingehen?", fragt James behutsam. Als würde ich jeden Moment zerbrechen.
Rasch schüttle ich den Kopf. "Können wir uns auf eine der Bänke setzen?"
James nickt und führt mich zur nächsten freien Bank, die am Themseufer entlang auf der Fußgängerpassage aufgereiht sind.
"Danke.", murmle ich, nachdem er mich auf die Bank gedrückt und sich neben mich hat fallen lassen.
Ich komme nicht mehr mit, wie oft ich mich heute schon bedankt habe. Wahrscheinlich hunderte Male.
"Ich dachte, du sagtest ohne ein Wort.", zieht er mich auf und ich werfe ihm einen kurzen Blick zu.

Ich hätte wirklich niemals darauf gewettet, dass James Potter es schafft, schweigend dazusitzen und nachzudenken. Oder nein - vor einer Woche hätte ich es niemals getan. Heute, wo ich ihn besser kenne, ist es keine große Überraschung, als er genauso nachdenklich wie ich auf die Themse und die Towerbridge starrt.
Mein Gefühlszustand, der sich heute auf einer Dauerachterbahnfahrt befand, stabilisiert sich allmählich und meine Gedanken ordnen sich.

Wir sitzen so lange auf dieser Bank, bis es keine Gedanken oder Gefühle mehr zum ordnen gibt und noch länger. Irgendwann starre ich einfach nur noch aufs Wasser und denke an gar nichts.
Wir sitzen so lange, dass irgendwann mein Kopf schwer wird und ich ihn auf James' Schulter ablege. Sofort lehnt er seinen Kopf gegen meinen und wir verharren weiter auf unserer Bank, während die Welt sich um uns herum weiterdreht.
Die Leute passieren uns und bemerken uns kaum.
Mit der Zeit wird das Sonnenlicht immer weniger, genauso wie die Menschen.

Als ich den Kopf müde wieder hebe, ist einzig ein älterer Mann im Lichtkegel der Straßenlaterne ein paar Meter entfernt.
James sieht mich fragend an. "Bereit?", seine Stimme ist rau vom Schweigen und ich bekomme eine Gänsehaut.
Ich nicke und halte seinem Blick stand. "Bereit."

James lächelt schwach, genauso erledigt wie ich mich fühle. Doch plötzlich finden seine Augen etwas hinter mir und seine Mundwinkel senken sich wieder. Ich sehe, wie seine Hand zu seinem Zauberstab zuckt.
Bemüht ruhig steht er auf und zieht mich mit sich.
"Komm mit. Ruhig und unauffällig." Er verschränkt unsere Finger und ich bemerke, dass seine zittern.
"Was ist los? Was hast du gesehen?"
James umklammert meine Hand fester und wir gehen schnellen aber nicht zu schnellen Schrittes in die Richtung, aus der wir auch gekommen waren.
"Späher. Oder auch Greifer genannt. Sie streifen durch die Straßen und suchen Leute, die auf der Flucht sind. Es sind fünf Männer hinter uns. Zwei davon stehen jeden Tag im Tagespropheten. Sie werden vom Ministerium - ich glaub - wegen Entführung gesucht."

Ich umklammere meinen Zauberstab, jederzeit bereit, einen Fluch zu sprechen.
"Sind wir denn auf der Flucht?", frage ich unsicher.
"Meine Eltern sind es irgendwie schon ihr ganzes Leben lang. Auch wenn sie gleichzeitig auf der Jagd sind. Ironisch, oder?", meint James tonlos. "Wenn sie mich entführen, können sie meine Eltern erpressen. Und du bist muggelstämmig, Lily. Das ist für die manchmal Grund genug für einen Angriff."
"Ich dachte, es sind die Todesser, die auf offener Straße angreifen?"
James wirft mir einen Blick zu. So ungläubig, dass ich ihm die Hand entzogen hätte, hätte er nicht in dem Augenblick seinen Griff verstärkt und mich so an unsere Situation erinnert.
"Die groß geplanten Anschläge, das sind die Todesser. Die gelegentlichen Angriffe auf Einzelne erledigen die Späher. Wie kannst du das nicht wissen?"

"Hey! Ihr da!", ertönt mit einem Mal ein schnarrender Ruf hinter uns. Die gerade noch kaum wahrnehmbaren Schritte der fünf Männer werden so laut und schwer, dass klar ist, dass sie rennen.
James Augen weiten sich und im nächsten Augenblick hat er einen Schockzauber hinter sich geschleudert.
Ein Aufschrei ertönt, doch wir haben beide keine Zeit, zurückzuschauen. Ich sehe nur nach vorne - doch dort ist nirgendwo Deckung zu sehen.
Ein zu erwartender Fluch rauscht über uns hinweg und gleich darauf streift einer meine Schulter. Ich glaube, mein Kleid hat jetzt dort einen Riss und ich blute oberflächlich; aber wissen tue ich es nicht. Ehrlich gesagt, kümmert es mich gerade auch herzlich wenig. Wir müssen hier weg. Am besten apparieren.

Ohne Vorwarnung bleibe ich stehen. Da wir uns noch immer fest an den Händen halten und durch den Ruck wird James abgebremst, doch er stolpert immer noch einige Schritte weiter. Da aber keiner von uns die Hand des anderen loslässt, stolpert er um meine Achse - Genau darauf habe ich gesetzt. Ich lasse mich von seinem Schwung drehen und appariere im selben Sekundenbruchteil.
Wir werden in einen Schlauch gezogen, der alle Luft aus den Lungen presst und kurzzeitig droht mir James Hand zu entgleiten. Doch dann blitzt auch schon mein Elternhaus vor meinen Augen auf und wir landen auf unserer Terrasse. Durch die Dunkelheit hoffentlich vor allen Augen geschützt.

"Was sollte das?", fährt James mich plötzlich an, während ich noch nach Luft schnappe.
"Was?", frage ich atemlos. "Wir mussten schnellstmöglich apparieren und dafür musste ich mich im Kreis drehen! Das war der einfachste Weg."
"Aber auch der schmerzhafteste!", James reibt sich über die Schulter, noch immer fassungslos, was gerade passiert war.
"Das tut mir Leid.", sage ich ernst.
Seine Bewegung stoppt und er nickt. "Mir tut's auch Leid. Ich war gerade echt ... zickig oder so.", seine Stimme wird immer leiser; er hat meine blutende Schulter entdeckt.
James macht einen Schritt auf mich zu und hebt zaghaft eine Hand.

Doch bevor er irgendetwas erkennen kann, geht das Wohnzimmerlicht an und Petunia steht in der Terrassentür. Im Morgenmantel und mit großen Augen sieht sie von mir zu James und zu dem Blut, dass langsam einen kreisrunden Fleck auf dem schwarzen Stoff bildet.
"Was habt ihr gemacht?", fragt sie in ihrem typischen kritisierenden Ton.
"Alles gut. Sind ja davongekommen.", antworte ich genervt. Sie hat sich heute den ganzen Tag über wie die schlimmste Schwester der Welt benommen und meinen Freunden ihre schlechteste Seite gezeigt; ich kann jetzt wirklich nicht mehr nur meinen Ärger darüber hinunterschlucken und gute Miene zum bösen Spiel machen.

Ich dränge mich an ihr vorbei und renne schon fast in mein Zimmer. James auf den Fersen. Ich weiß, dass er erst gehen wird, wenn er gesehen hat, dass meine Schulter nur leicht verletzt ist. Und obwohl das süß ist, nervt es mich ein bisschen.
Er bleibt im Türrahmen stehen. Das Haar vom Rennen verwuschelt und das Hemd verrutscht. Seine Krawatte sitzt jetzt noch lockerer und es wundert mich, dass sie nicht beim apparieren verloren gegangen ist.
"Ziehst du dich kurz um?" Er deutet auf meine Schulter.
Sobald ich genickt habe, zieht er die Tür vor sich ins Schloss und ich höre, wie er sich von außen dagegen lehnt.

In bequemen Shorts und Spaghettiträger-Top öffne ich seufzend die Tür nur einen spaltbreit, damit er mir nicht gleich vor die Füße fällt. Den Kratzer an meiner Schulter habe ich bereits mit einem einfachen Heilzauber zum Großteil selbst verarztet.
Ich wende mich ab, um in meinem Nachtschrank nach der Salbe zu suchen, mit der meine Mutter jede kleinere Verletzung behandelt hat.
"Es ist nur ein Kratzer. Das Kleid hat das Meiste abbekommen.", meine ich, während ich gleichzeitig die Salbentube aufdrehe.
Bei meinem Aufsehen, richtet James seine Augen schnell auf meine Schulter.
"Darf ich?", er streckt die Hand aus.
"Ich schaff das schon.", schlage ich sein Angebot aus.
Ich verteile etwas Salbe und verreibe es auf dem etwa drei Zentimeter langen Überrest des Fluches, der mich glücklicherweise lediglich gestreift hatte.

James geht derweil zu meinem Bett, auf das ich das Kleid geschmissen hatte, und schließt nicht nur den Riss, sondern entfernt auch das Blut mit unausgesprochenen Zaubern.
"Ob du den einen Späher richtig getroffen hast?", frage ich, als ich die Salbe wieder aufräume.
James zuckt die Achseln. "Selbst wenn. Schockzauber sind harmlos. Wir können von Glück reden, dass die keine Unverzeihlichen benutzt haben, sobald wir losgelaufen sind."

Ich bemerke selbst, dass ich blass werde.
James macht einen kleinen Schritt auf mich zu. "Hey, es ist ja alles gut gegangen.", meint er zurückrudernd und möglichst beruhigend. Auch wenn die steile Falte auf seiner Stirn bleibt.
Dann weicht er nervös meinem Blick aus. "Bist du sicher, dass du hierbleiben willst?" Er fährt sich durch die Haare und sieht mich mit seinen rehbraunen Augen direkt an. Fast schon bittend.
"Ich muss. Sie ist immer noch meine Schwester und auch wenn sie es nicht zeigt, sie ist kurz vorm Durchdrehen. Mum hat sie bei der Hochzeit am meisten unterstützt. Jetzt bin ich dran."
"Du wirst hier nicht glücklich sein."
Ich lächle schief. "Ich weiß."

"Was ist mit uns?", fragt James nach einer kurzen Stille.
"Was soll damit sein?" Ich sehe zum Fenster, indem wir uns deutlich spiegeln. Wir stehen nah beieinander. Deswegen kann ich James' Blick aber noch lange nicht deuten.
"Lily, zwischen uns hat sich was verändert, du kannst mir nicht sagen, dass du das nicht gemerkt hast!"
"Jetzt ist meine Familie wichtiger als ein Beinahe-Kuss, James."
James verstummt, nickt, wendet sich ab, hält aber in der Tür noch einmal inne. "Du bist bei uns immer willkommen, Lily. Ganz egal, was zwischen uns vorfällt, das Angebot steht.", seine Augen sind so ernsthaft, so besorgt, so James.

Sein Blick hält mich gefangen und ohne es zu merken bin ich einen Schritt auf ihn zugegangen. Er kann so nicht gehen. Nicht mit so vielen unaufgeräumten Dingen, die uns im Weg stehen.
Kurz schließe ich die Augen, um auszusprechen, was mir bereits auf den Lippen liegt.
"James? Bevor du gehst... Krieg ich noch einen Abschiedskuss?"
James erstarrt mit der Hand am Türrahmen. Seine Augen finden erneut die meinen und zeigen mir den Kampf, der dahinter herrscht. Ich sehe ihm an, dass er damit nicht gerechnet hat. Er hat keine Ahnung, was er sagen oder tun soll.

Wie unfair ich bin. Er wollte etwas besonderes draus machen. Abwarten bis nicht unsere ganze bisher aufgebaute Freundschaft daran zerbrechen kann. Und ich frage ihn einfach so. Nach diesem höllischen Tag im unromantischsten Augenblick überhaupt.
Ich winke ab. "Vergiss es. Tut mir Leid, das hätte ich nicht-", ich verstumme.
James steht plötzlich so dicht vor mir, dass meine Füße zwischen seinen sind. Seine Lippen, die jetzt ein "Ja?" formen, befinden sich nur Zentimeter vor meinen.
"-nicht... nicht... fragen dürfen. Das war egoistisch.", beende ich stockend meinen Satz.

"Bin ich auch egoistisch, wenn mir die Folgen egal sind und ich dich jetzt endlich einfach küsse?", James Stimme ist heißer und bereitet mir am ganzen Körper Gänsehaut. War sie immer schon so rau und dunkel?
"Total", bringe ich gerade so heraus. Er ist viel zu nah, um einen richtigen Satz zu bilden. Schon Atmen ist schwierig.

James lässt mich keine Sekunde aus den Augen, als er erst den einen, dann den andere Arm um mich legt. Ich werde an seinen Körper gezogen, der im Gegensatz zu meinem wackligen mit den zitternden Knien wie ein Fels in der Brandung ist.
Sein Blick wandert von meinen Augen zu meinen Lippen.
Ich mache es ihm automatisch gleich. Diese Lippen habe ich erst gestern beinahe geküsst. Und ich bin auf dem besten Weg, es erneut darauf ankommen zu lassen.
Seltsamerweise habe ich keine Angst und nervös bin ich auch nicht. Mein Herz schlägt nur deswegen so schnell, weil ich James Lippen endlich kosten will.

Ich hebe die Hände und finde seine Ellenbogen. Ohne es wirklich zu steuern, lasse ich sie seine Arme hinauf auf seine sich im schnellen Rhythmus hebende Brust wandern.
James senkt den Kopf. Ich hebe das Kinn an. Sein Atem fällt auf meine Lippen, meiner stockt.
"Lily", raunt er. Eine seiner Hände löst sich von meinem Rücken und findet seinen Weg an meine Wange.
Die Wärme seiner Hand ist nichts gegen das Kribbeln seiner Berührung.
Er lässt seine Hand in meinen Nacken wandern, in dem Moment indem er die Lücke zwischen uns schließt.
Die erste Berührung unserer Lippen ist tastend, unschuldig kurz. Doch das passt einfach nicht. Wir atmen beide schwer, nicht sicher, was jetzt kommt.
Als James' Daumen sanft über meinen Kieferknochen fährt, reagiere ich, indem ich meine Arme auf seinen Schulten ablege und die Hände in seinen Haaren vergrabe. Sofort sind wir uns wieder näher und als diesmal seine Lippen die meinen berühren, ist keinerlei Zurückhaltung mehr übrig.
Berühren wird zu heranziehen, sanfte Lippenbewegungen zur leidenschaftliche Eroberung.
Einerseits spielt er mit mir, fordert mich heraus und weicht zurück , um mich dann noch nachdrücklicher zu küssen. Andererseits ist jede seiner Berührungen unfassbar sanft und vorsichtig.
Ich habe noch nie jemanden so widersprüchlichen getroffen.

James fährt mit seinen Zähnen über meine Unterlippe und löst sich dann ein Stückweit. Atemstöße treffen auf meine Haut, hin und wieder berühren sich unsere Münder und ich weiß, dass er mich ansieht; doch ich bin viel zu überwältigt, um die Augen zu öffnen.
Es kommt mir vor, als würde mein Blut beben.
Tausendmal habe ich mir das hier vorgestellt. Tausendmal wurden meine Erwartungen übertroffen.
Das hier war kein Abschiedskuss. Sondern das Einlösen eines Versprechens.
Mein erster Kuss war nur das: ein Kuss.
Aber James zu küssen ist, als hätte er meinen Körper in Brand gesteckt und mein Herz in den Händen gehalten.

James' Hand löst sich von meiner Wange und die andere wandert an meine Seite, als würde er sie gleich wegnehmen. "Ich hoffe, der war besser als gut."
Tausendmal.
Ich öffne die Augen und nehme meine Finger aus seinem Haar.
Er grinst.
Als würde ich die süßen Grübchen in seiner Wange zum ersten Mal sehen betrachte ich ihn; und ich bekomme kein Wort heraus.

James senkt den Kopf und kitzelt mich mit seinen abstehenden Haaren an der Stirn. "Träum was schönes, Lady Lily." Für einen klitzekleinen Augenblick legt er noch einmal seine Lippen auf meine.
Als er zurückweicht fallen meine Arm kraftlos an meine Seiten.
In der Tür sieht James noch einmal zurück. Dann ist er verschwunden und alles, was bleibt, ist das Geräusch seiner Schritte auf der Treppe und das Zuschlagen der Haustür.
Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper und lasse mich auf mein Bett fallen.
Irgendwie war es doch ein Abschiedskuss.

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(Bildquelle: https://i.imgur.com/kH1xF23.jpg)

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