Sante Fe

Ich möchte euch die anschließende, hochnotpeinliche Situation sowie meine gestammelten Erklärungen und Versuche, mich bei der Dame zu entschuldigen, ersparen. Das war definitiv keine meiner Glanzleistungen. Aber hatte ich eine Wahl? Zum Glück noclipt man aus den Backrooms in die Nähe des ursprünglichen Ortes zurück. In meinem Fall netterweise in die Toilette im hinteren Teil des Fliegers und nicht in ein Flugzeug, das gerade auf dem Rückweg war. Oder mitten in die Wolken. Zuzutrauen wäre es der verqueren Backrooms-Physik.

„Why are you travelling into the U.S.?" Die Beamtin hinter dem Panzerglas machte sich nicht die Mühe, von meinem Pass aufzusehen. Es war wahrscheinlich das fünfhundertste Mal an diesem Tag, dass sie jemandem diese Frage stellte. Was sollte ich antworten?

„We are here to save the mankind!"

„I am searching for a huge diamond."

„Are you from the Async Foundation?"

Schließlich murmelte ich nur: „Just for vacation".

Wortlos drückte sie mir das rostrote Notizbuch in die Hand und winkte mich ungeduldig weiter. Wegen unserer überstürzten Abreise reisten wir nur mit einer Handvoll Waschutensilien, die wir am Flughafen gekauft hatten. Am Ausgang des Terminals stiegen wir direkt in ein Taxi, das uns zu unserem Motel in Santa Fe bringen sollte. Während der ganzen Fahrt sprachen wir nur das Nötigste. Ein Umstand, der mir langsam wirklich zu schaffen machte.

Noch immer brannten mir tausend Fragen auf der Zunge: Wie sah Knuts konkreter Plan aus? Wie sollten wir den Core-Diamond finden? Und wenn er sich tatsächlich in der Kernforschungsanlage von Los Alamos befand, wie zum Teufel sollten wir da hineinkommen? Aber von unserer Flucht in Düsseldorf, dem Treffen mit Alex am Flughafen bis hierher ins Auto waren wir nie allein gewesen. Immer gab es neugierige Zuhörer, von denen jeder ein Possessor sein konnte, ein Mensch, der von einem Faceling besessen war.

Vor den Autofenstern zog die amerikanische Kleinstadt vorbei, so trostlos, wie man sie sich nur vorstellen konnte: Eine endlose gerade Straße, an den Seiten vertrocknete Bäume und Sträucher, kaputte Maschendrahtzäune, unverputzte Grenzmauern und flache, gleich gebaute Holzhäuser. Ab und zu unterbrach eine Ladenzeile, ein Schnellimbiss oder eine Tankstelle das Bild. Eigentlich hätte die Beamtin bei meiner Antwort vorhin laut lachen müssen: „You are here for vacation? Here?! Seriously? Wua-ha-ha-ha ..."

Unser Ziel hingegen, Los Alamos, war heute eine Touristenattraktion. Hier hatte Oppenheimer die Atombomben „Little Boy" und „Fat Man" entwickelt, die im Zweiten Weltkrieg die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki zerstörten und durch ihre Verstrahlung unvorstellbares Leid verursachten. Und heute? Heute experimentierten Geheimdienste oder Militärs mit dem Core-Diamond, um von Facelingen besessene Menschen zu kontrollieren. Wenn es ihnen gelänge, könnten sie damit praktisch jede Regierung und jedes große Unternehmen übernehmen. Oder sie benutzen den Edelstein, um die Besessenen zu befreien und aus den Backrooms zurückzuholen. Das wäre auch denkbar, aber dann hätte Rian mir den mächtigen Diamanten nicht stehlen müssen, sondern einfach fragen können. Er kannte unser Ziel. Und der Stein allein war nicht genug. Sie brauchten eine Maschine, so wie damals die Facelinge in den Backrooms.

Wieder drehten sich meine Gedanken im Kreis, während das Taxi langsam auf den Parkplatz unserer Unterkunft rollte: ein ausladendes, zweistöckiges Gebäude, in dem man über balkonartige Laubengänge von außen in die Zimmer gelangte. Der staubig-beige Anstrich passte perfekt in die Trostlosigkeit der Stadt.

Als ich ausstieg, schlug mir die Nachmittagshitze fast den Schädel ein. Das Auto war auf gefühlte Minusgrade heruntergekühlt worden, hier draußen, mitten in der Wüste New Mexicos, herrschten mindestens fünfunddreißig Grad. Das Brummen der Klimaanlagen vor den Motelzimmern vermischte sich mit dem Zirpen einer einzelnen Grille im Lärm der vorbeifahrenden Autos auf der Hauptstraße. Das waren zwar nicht die Backrooms, aber im Vergleich zum spätsommerlichen Düsseldorf doch eine andere Welt.

Kurz darauf bezahlte Knut an der Rezeption, die wie alles in dieser Stadt aus den Neunzigern zu stammen schien, für zwei Zimmer eine Woche im Voraus. In bar. Wie eben das Taxi. Der ältere Herr hinter der zerkratzten Holztheke zog erstaunt die Augenbrauen hoch, nahm die Scheine aber kommentarlos entgegen.

Wenige Minuten später standen wir zu dritt in dem Raum, den mein Vater und ich uns teilen sollten. Er bestand aus einem Doppelbett, einer Kommode, einem Stuhl und einem Badezimmer, das aus einem einzigen Stück Plastik gefertigt zu sein schien. Alex hatte natürlich ein eigenes Zimmer. Aber wir waren endlich allein.

„Und?", brach es aus mir heraus. „Jetzt erzähl mal, was ..."

Er unterbrach mich, legte warnend den Finger auf die Lippen und eine Hand auf meine Schulter. Zusammen mit Alex ging er zielstrebig durch das Zimmer. Sie schauten in die Nachttischlampen, strichen über die Unterkanten der Schränke und sahen unter das Bett. Offenbar suchten sie nach Abhörwanzen, mit denen man uns belauschen konnte. Fast wie in einem schlechten Spionagefilm.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Wieder einmal war ich das kleine Kind, das den Erwachsenen tatenlos zusah. Hätten sie mich gefragt, hätte ich helfen können.

„Gut", sagte Knut nach ein paar Minuten. „Jetzt können wir reden. So, Marc, setz dich. Was wolltest du mich fragen?"

Er setzte sich mit geradem Rücken auf einen Holzstuhl vor die Kommode und faltete die Hände. Alex und ich ließen uns nebeneinander auf das Bett fallen.

„Ich ... Ähm ..." Im ersten Moment wollte mir keine der tausend Fragen einfallen, dann riss ich mich zusammen. „Was genau ist jetzt dein Plan? Du hast gesagt, du glaubst, dass Rian ..."

„Stopp!", bremste mich mein Vater wieder. „Keine Namen und keine konkreten Aktionen. Auch wenn wir nichts gefunden haben, heißt das nicht, dass uns niemand zuhört. Sie wissen sicher, dass wir in Santa Fe gelandet sind, und den Rest können sie sich denken. Also halte dich kurz und allgemein."

Verdammt. Ich wollte endlich erfahren, wie es weiterging und nicht wie ein dummer Junge daneben stehen. Wer waren „die" überhaupt? Im Gegensatz zu mir schien Alex genau zu wissen, was hier vor sich ging. Zumindest stellte sie nicht eine einzige Frage. Wie konnte das sein? Die beiden hatten doch zwischendurch genauso wenig miteinander reden können wie mit mir. Oder hatte ich etwas verpasst?

„Hm ... Okay. Also, was machen wir als nächstes?", fasste ich mich kurz.

„Erst einmal müssen wir unsere Theorie – du weißt schon welche – bestätigen lassen. Ich werde ein paar alte Bekannte besuchen und mich umhören. Alex wird in der Zwischenzeit Ausrüstung besorgen."

Sie sah ihn kurz an. „Das Übliche?"

„Ja. Und was zum Anziehen für unseren Ausflug." Er zwinkerte ihr auffällig zu. Sie nickte. Also waren es wohl nicht nur Wechselklamotten für die nächsten Tage. Das zeigte mir wieder einmal, dass die beiden sie viel besser kannten, als ich bisher angenommen hatte. Bis zu diesem Moment war ich davon ausgegangen, dass Alex und ich uns nach dem Abenteuer in den Backrooms näher gekommen waren. Und dass mein Vater sie bestenfalls flüchtig kannte. Eine Fehleinschätzung, wie es schien.

„Sonst noch was?", fragte Knut und sah mich an.

Ich würde gern wissen, was sein Plan war, in welcher Beziehung er zu Los Alamos stand und tausend andere Dinge. Aber nichts davon konnte ich fragen, ohne mich wieder als unerfahrener Anfänger zu outen und versehentlich Informationen an potenzielle Lauscher preiszugeben. Nach ein paar Sekunden schüttelte ich nur stumm den Kopf. Vielleicht würde sich später die Gelegenheit ergeben, wenigstens mit Alex zu sprechen.

„In Ordnung", schloss Knut. „Ich nehme das Taxi. Alex, du holst einen Mietwagen und kümmerst dich um die Sachen."

„Und was ist mit mir?", fragte ich.

„Du wartest. Spätestens zum Abendessen sind wir zurück. Wenn etwas ist, kannst du anrufen. Ansonsten lässt du das Telefon besser ausgeschaltet."

„Was? Nein!", fuhr ich auf. „Ich will hier nicht untätig rumsitzen, während ihr ..."

Alex mischte sich ein: „Schon gut. Ich kann Hilfe gebrauchen. Wir gehen gemeinsam einkaufen." Dabei stieß sie mich spielerisch mit der Schulter an.

Mein Vater presste die Lippen zu einem Strich zusammen. Es schien ihm nicht zu passen. Trotzdem nickte er knapp. Bevor er ging, warf er Alex noch einen Umschlag zu, der daumendick mit Dollarscheinen gefüllt war. „Das sollte fürs Erste reichen."

↼⇁

Eine halbe Stunde später saßen wir auf den fleckigen Sitzen eines alten SUV und fuhren wieder die trostlose Hauptstraße entlang. Die „Autovermietung", die Alex ausgesucht hatte, war eher eine Werkstatt. Das Fahrzeug war wohl eine Art Ersatzwagen für Kunden und mindestens fünfzehn Jahre alt. Aber dank Barzahlung wurden keine Fragen gestellt. Der Name auf ihrem Führerschein landete auf einem Papierformular und nicht im Computer. Auch das war sicher kein Zufall.

„Also", wandte ich mich an sie, denn Wanzen waren in dieser Schrottkarre nicht zu befürchten. „Jetzt erzähl mal."

Sie sah mich kurz an. „Was meinst du?"

„Woher kennst du Knut und was war das damals für eine Aktion, als ich das erste Mal aus den Backrooms zurückkam. Von wegen das wäre alles nicht echt und so. Ich dachte wirklich, wir wären Freunde, nach allem, was wir durchgemacht haben. Am Ende hatte ich Angst, dass die Facelinge dich mit ihren Macheten umbringen."

„So einfach ist das nicht." Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Dabei kam eine längliche Narbe auf ihrer Stirn zum Vorschein, die früher nicht dort war. „Damals in den Backrooms habe ich mich nicht verstellt oder so getan, wenn du das meinst. Tatsächlich bin ich genau wie du ein paar Mal unfreiwillig genoclipt und hatte Mühe, in die Frontrooms zurückzukommen. Wie du weißt, habe ich nicht die gleiche Genmutation wie du und Vater ... und Rian."

„Du bist also keine ehemalige Async-Agentin wie er?", hakte ich nach.

„Damals nicht. Jetzt schon."

„Wie kann das sein? Und warum ‚damals'? Das ist doch erst ein paar Monate her."

Sie schwieg ein paar Sekunden, dann sagte sie: „Ja, für dich. Aber du weißt ja, dass die Zeit in den Backrooms schneller vergeht. Ich war fast vier Jahre dort."

„Vier Jahre? Warum? Die Male davor warst du doch immer spätestens nach ein paar Wochen wieder da."

„Die Facelinge hatten mich gefangen genommen. Es war dein Vater mit einem Team von Async, die mich schließlich aus der Gefangenschaft befreit haben. Im Anschluss habe ich mich, genau wie er, den Biologists angeschlossen. Mit meiner Erfahrung in den Backrooms war ich für diese Aufgabe prädestiniert. Es war eine sinnvolle Arbeit und tausendmal spannender als mein Studentenleben hier in den Frontrooms. Natürlich bin ich ab und zu hierher zurückgekehrt, aber die meiste Zeit habe ich dort verbracht. Wir waren oft zusammen im Einsatz."

Man konnte Wochen und Monate in den Backrooms verbringen, während es hier nur Stunden oder Tage waren. Jetzt, wo sie es sagte, bemerkte ich die vielen kleinen Veränderungen. Ihr leicht gealtertes Gesicht, der ernste Ausdruck in ihren Augen, ihre veränderte Art und Vertrautheit mit meinem Vater. Das erklärte alles.

„Okay", lenkte ich ein, „aber warum hast du mich angelogen, als ich aufgewacht bin?"

„Knut hatte mich darum gebeten. Damit du nicht auf die Idee kommst, noch einmal zurückzukehren. Das ist gefährlich. Später war ich häufig auf Mission und kaum in den Frontrooms. Außerdem haben wir beschlossen, dass es besser ist, wenn ich den Kontakt zu dir vermeide."

War da ein trauriger Zug um ihre Lippen? Bedauerte sie, dass wir uns nicht mehr gesehen hatten? Ich hatte gehofft, sie wiederzusehen, ohne Backrooms, Facelinge und Lebensgefahr. Wahrscheinlich war das nur mein Wunschdenken. Im Moment hatten wir eindeutig andere Probleme.

„Okay. Belassen wir es dabei." Jetzt war ich es, der ein paar Sekunden seine Gedanken sammeln musste. „Weißt du mehr darüber, was genau Knut hier vorhat und wie wir den Core-Diamond finden können?"

„Nicht viel mehr als du, fürchte ich. Ich glaube, er hat früher hier in der Einrichtung gearbeitet und sie zumindest ein paar Mal als Agent besucht. Keine Ahnung. Jedenfalls kennt er noch ein paar Leute, die ihm den einen oder anderen Gefallen schulden. Wie das eben so ist. Wenn der Core-Diamond mit Rian hier angekommen ist, wird er hoffentlich herausfinden, wo er zu finden ist."

„Wer? Der Diamant oder Rian?"

„Einer von beiden." Sie zuckte mit den Schultern. „Danach müssen wir nur noch in einen militärischen Hochsicherheitsbereich einbrechen, in dem Atomforschung betrieben wird."

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