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Eiskalter Novemberregen prasselte auf die dunkelgrüne Kapuze meines Parkas. Die Tropfen auf der Brille ließen mich kaum die Straße erkennen. Vor mir erschien ein schwammig grüner Punkt. Vollgas trat ich in die Pedale, je eher ich aus diesem nassen Albtraum herausfand, desto besser.
Quäkend ertönte eine Hupe von rechts, Reifen schliffen über nassen Fahrbahnbelag, Scheinwerfer blendeten und mein Herz setzte einen Schlag aus. Zentimeter neben meinem Knöchel kam das breite Maul einer S-Klasse zum Stehen. Mein Drahtesel wankte und fiel beinahe um, mit einem wackeligen Schritt auf dem Boden konnte ich mich retten. Der Fahrer des zahnstein-gelben Taxis legte in diesem Moment mit aufgerissenen Augen und offenem Mund das Handy zur Seite, das er Augenblicke zuvor noch am Ohr hielt.
„Vollidiot!", brüllte ich und zeigte auf die inzwischen rote Fußgängerampel. Ohne mich zu kümmern, fuhr ich platschend und kopfschüttelnd weiter.
Nicht zahnstein-Gelb, sondern hell-elfenbein-gelb war die offizielle Taxifarbe in Deutschland, schoss es mir durch den Kopf. An diese Szene erinnere ich mich in jedem Detail. Heute hasse ich gelb. Insbesondere das nasenschleim-ähnliche, eher gelb-grünliche „Mono-Gelb", das ihr euch merken werdet, falls euch in Zukunft Ähnliches widerfährt wie mir.
Der Schreck saß in meinen Gliedern, während ich das schrottige, orange-gelbe Mountainbike, das ich vom knauserigen Verdienst in einem Fischrestaurant abbezahlte, durch die tiefen Pfützen auf der Fahrradspur lenkte. Das liebgemeinte, aber für einen 16-Jährigen vollkommen unpassende Angebot meiner Helikopter-Mutter, mich wie einen Grundschüler direkt vor der Schule abzusetzen, hatte ich abgelehnt. Mit dem 12-Tonnen-Autokran meines Vaters vorzufahren, wäre auch nicht besser, der war jedoch eh auf Montage. Lieber nahm ich vollgesogene Sneakers sowie eine pitschnasse Jeans in Kauf, als mich dieser Peinlichkeit auszusetzen. Im Gegensatz zu meiner vier Jahre jüngeren Schwester, die sich wie die Kaiserin des Rheinlands quer durch Düsseldorf kutschieren ließ.
Rückblickend kann ich euch sagen, dass mein wollewarmes und sorgenfreies Leben zu diesem Zeitpunkt das reinste Zuckerschlecken war.
Während ich mich bemühte, den Drahtesel am rechten Fahrbahnrand zu lenken, rauschten Autos vorbei und die dreckige Suppe spritze mir ins Gesicht. Ekelig. Bis daheim im Stadtteil Bilk waren es maximal zehn Minuten durch die Düsseldorfer Innenstadt. Den Blick versuchte ich halbwegs oben zu halten, damit mir das mit dem Taxi nicht erneut passierte. Mein Vorderrad rutschte in die Straßenbahnschienen, die, wie auch sonst, exakt senkrecht über die Fahrradspur verliefen. Lenken und Gleichgewicht halten waren schlagartig unmöglich. Der Helm hing am Lenker, damit die Kapuze des Parkas passte. Nur ein weiterer in einer ganzen Kette kapitaler Fehler.
Das Mountainbike kippte. Mein Kopf schlug ungebremst auf den regennassen Asphalt. Die Welt versank in Schwärze.
Lärmendes, elektrisches Brummen weckte mich. Mein Schädel hämmerte im Rhythmus meines wummernden Herzens. Lang ausgestreckt lag ich auf einem nassen Untergrund. Kein Asphalt. Teppich? Licht stach in meine verklebten Augen, als ich sie öffnete.
Mühsam rappelte ich mich in pitschnassen Klamotten auf. Nasenschleim-gelbe tapezierte Wände eines tiefen Raumes erstreckten sich zu allen Seiten. Mono-Gelb. Gestank stieg mir in die Nase. Eine Mischung aus Fäulnis und Urin. Ich wollte nicht wissen, mit was der Bodenbelag durchtränkt war. In der Decke leuchteten in unregelmäßigen Abständen einzelne Paneele. Wie in einem schäbigen Hotelflur. Von ihnen ging das enervierende Brummen sowie ein unbeständiges Flackern aus.
Wo in Teufelsnamen war ich?
Eben bin ich vom Fahrrad gefallen und hatte mir dem Kopf aufgeschlagen.
Und jetzt?
Fester feuchter Boden. Nasse Klamotten. Harte Wände. Das klare eindringliche Brummen und Flackern der Deckenlichter. Die Beule am Schädel. Das war kein Traum. Aber was sonst?
Koma. Sicher lag ich im Koma. Vermutlich schlief mein Körper in diesem Moment in einem Bett in der Uni-Klinik, mit diversen Schläuchen und Kanülen sowie einem piepsenden Herzmonitor ausstaffiert. Meine Eltern – oder zumindest meine Mutter Nicole – und Emilia, meine kleine Schwester, standen neben mir und versuchten, mich mit sanften Worten zu wecken. So würde es sein. Was sonst?
Zunächst wartete ich ab. Irgendwann würde ich aufwachen. Oder auch nicht. Nach einer Weile schaute ich auf die Smartwatch. 15:12:45 Uhr. Die Sekunden schienen eingefroren. Auf dem Smartphone, das ich aus der Hosentasche holte, das gleiche. Kein Mobilfunk und WLAN. Die Zeitanzeige stehen geblieben, kein GPS oder Navigation. Okay, ich lag im Koma. Was hatte ich erwartet?
Das Brummen und Flackern sowie die mono-gelben Wände brannten sich langsam aber sicher in meine Gehirnwindungen. Ich beschloss, diesen Raum zu verlassen, in der Hoffnung, dass es irgendwo besser wurde. Das war mein Koma, mein Geist, in dem ich unterwegs war. An der Rückwand fand sich eine Abzweigung in weitere zwei Kammern in identischer Optik. Immer links halten. Mit dieser Methode erreichte man todsicher das Ende jedes Labyrinths. Mir fiel auf, dass an einigen Stellen ein dünner Wasserfilm die Wände hinab lief, hielt meine Finger daran und roch. Moderiges Wasser.
War da eine Bewegung? Aus den Augenwinkeln hatte ich etwas wahrgenommen. Als ich mich umdrehte, lag der Raum leer vor mir. Jetzt auf der anderen Seite! Dieses Mal deutlicher. Auf Tapeten bewegten sich winzige Hügelchen auf zufälligen Bahnen, wie fette Käfer, die unter dem nächtlichen Bettlaken wuselten. Mit klopfendem Herzen trat ich näher heran. Dort war nichts. Nur glatte mono-gelbe Fläche. Eine Täuschung? Spielten mir die Sinne einen Streich?
Unterschiedlich lange Flure und Räume in immer dem gleichen Mono-Gelb wechselten sich ab. Mir war klar, falls ich im Koma lag, würde ich endlos durch dieses seltsame Labyrinth wandern. Ohrstöpsel, um zumindest das unstete Brummen loszuwerden, wären super.
„Hallo?", rief ich, um etwas anderes zu versuchen. „HAAALLLOO? Hört mich jemand?"
Nichts. Ich zuckte mit den Schultern und wanderte weiter. Zwischendurch hatte ich interessehalber angefangen, die Schritte zu zählen. Bei 10.000 gab ich auf. Auch hatte ich versucht, mit meinem Schlüsselbund Markierungen in diese seltsamen Tapeten zu ritzen, da ich theoretisch im Kreis laufen könnte. Keine Chance, das Material war genau wie der Teppich extrem reißfest. Interessanterweise hörte ich das Brummen kaum noch und der Geruch störte nicht mehr. Das menschliche Gehirn war erstaunlich anpassungsfähig.
Seit Stunden war ich unterwegs, ausgelaugt, hungrig, durstig. Außerdem wurden die Beine langsam schwer. Meine Schenkel schmerzten höllisch an den Innenseiten, da sie sich mit der nassen Kleidung wund scheuerten. Dieses Koma war realistischer, als mir lieb war. Zur Erholung hockte ich mich auf den feuchten Boden.
Das Brummen verstummte. Das war das Erste, was mir auffiel. Mit wackeligen Knien stand ich erneut auf. In der Ferne sprach jemand. Kaum wahrnehmbar, einzelne Worte waren nicht herauszuhören. Aus welcher Richtung kam das? Um mich zu orientieren, horchte ich in die nächsten Räume. Leider setzte das enervierende Geräusch der Lampen ein und die Stimmen waren nicht mehr auszumachen. Trotzdem beschloss ich, weiter zu wandern. Erneut klangen die murmelnden Worte lauter über das Brummen hinweg. War es meine Familie, die mich aus dem Koma weckte?
„Hier!", rief ich nochmals. „Ich bin hier!"
Das Murmeln verstummte. Vorsichtig bewegte ich mich weiter. Die Geräusche oder das Krabbeln der Käfer wiederholten sich nicht.
Endlose Stunden später war ich vollkommen fertig, mein Mund staubtrocken und mir fielen die Augen zu. Koma hin oder her, es half nichts, an Trinken und Schlafen führte kein Weg vorbei. Daher schritt ich zur nächsten Wand, fing das moderige Wasser mit den Händen auf und schluckte es. Es schmeckte nicht lecker, stillte jedoch den Durst. Mangels Alternativen legte ich mich am Ende halbsitzend in eine feuchte Ecke auf den nassen Boden, nutzte meinen Parka als Kissen und schlief ein.
Mit rasendem Herzen schreckte ich auf. Etwas war anders.
Es beobachtete mich.
Eine Gänsehaut zog sich über meinen Nacken. Zügig spähte ich in die Flure, ohne einen Grund für das Gefühl zu finden.
Es näherte sich. Es war abgrundtief böse.
Mein Puls raste. Schweiß tropfte in die Augen. Mir war glutheiß und eiskalt zugleich. Erstmalig stieg echte, panische Angst in mir auf, zog sich vom Magen bis in den Nacken. Weg hier! Um jeden Preis. Sofort!
Ohne mich umzuschauen, sprintete ich blindlinks los. Der faulige Atem des Raubtiers blies mir in den Nacken.
Rennen. Weg! Eine Ecke nach der anderen. Die Lunge brannte. Seitenstechen, als wenn mir jemand ein Messer unter die Rippen gerammt hätte.
Vollkommen ausgepumpt torkelte ich vorwärts, stolperte über meine eigenen Füße. In vollem Lauf krachte ich ungebremst in die steinharte, mit mono-gelber Tapete bespannte Wand.
Und erwachte schwer atmend mit Herzklopfen, das mir im Schädel dröhnte. Mein Rücken lehnte an einer hölzernen Parkbank unter dem Rheinturm. Vor mir breitete sich ein sattgrüner Park mit pittoreskem Blick auf die straff gespannten Stahlseile der Rheinkniebrücke aus. Das Mountainbike stand feinsäuberlich abgestellt neben mir und mein blauer Schulrucksack lag daneben. Der Himmel war bewölkt. Tiefe Pfützen zeugten von einem vergangenen Schauer.
Was war hier los? Eben noch einem stinkenden, endlosen mono-gelben Labyrinth von einem unsichtbaren Monster gejagt – und jetzt ... das?
Zügig holte ich das Smartphone raus. Es war in meiner Tasche und zeigte 16:15 Uhr. Die Sekunden tickten brav weiter. Rund eine Stunde nach dem Unfall am gleichen Tag. Mit zitternden Fingern betastete ich meinen Kopf. An der Seite hatte sich eine dicke, verschorfte Beule gebildet, die bei der kleinsten Berührung heftig schmerze. Außerdem hämmerte mein Schädel.
War das alles nur eine Halluzination? Wie kam ich hierher? Hatte ich einen Blackout nach dem Unfall und bin eine Stunde durch die Stadt geirrt?
Vermutlich. Das würde es erklären. Irgendwie.
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