𝐏𝐑𝐎𝐋𝐎𝐆

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Als die Zeiger kurz vor Mitternacht standen und der Blutmond den höchsten Punkt am Himmel erreicht hatte, erklangen ihre Schritte im Takt der Trommelschläge.
Wie wilde Tiere in Ketten gelegt, die Augen verbunden und geknebelt, wurden die Kinder, genau sieben an der Zahl, vor den steinernen Altar gezerrt, aufgereiht, direkt im Zentrum der Ruine des einstigen Tempels der Paragonen, wo alle sieben Jahre das gleiche Unheil verrichtet wurde.
Die Jungen und Mädchen wussten, was sie erwartete, sie hatten es von den Älteren gehört, waren in dem Wissen, jeder von ihnen könnte der Nächste sein, aufgewachsen.
Ein Opfer zur Rettung des Königreiches... wenn auch notwendig, nicht weniger grausam.

Der eisige Nachtwind zog zwischen den zerfallenen Mauern über die Spitze des Berges hinweg, pfiff mir um die Ohren, während mein Blick starr an den Kindern haften blieb. Zu wissen, was sie erwartete und nichts dagegen unternehmen zu können, drückte wie eine schwere Last gegen meinen Brustkorb, erschwerte mir jeden Atemzug. Aber das war mein Befehl.

Ich würde meinen Posten an der Seite Königin Adelaides nicht verlassen, das Schwert zwar sicher in der Scheide, doch den Handknauf stets umgriffen, bereit, jeder Gefahr zu trotzen.

Die Königin und der König hatten auf den beiden Thronen frontal zum Altar Platz genommen, die Kinder - der Kronprinz und die Prinzessin - saßen zu ihren Füßen.
Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, die Prinzessin von gerade einmal zehn Jahren einem Kindermord beiwohnen zu lassen. Es war barbarisch, doch die Jungen und Mädchen, die ihr Leben für das Gleichgewicht der Welt geben mussten, waren nicht wesentlich älter als sie. Nicht älter als elf... so stand es geschrieben, so wurde es überliefert.

Die Trommelschläge beschleunigten sich, durchzuckten die Nacht und dann wurde es still.
Der Magus trat vor, sein samtrotes Gewand unwog seine hohe Gestalt, während er die Fackeln entzündete und begann zu singen. Seine Stimme so tragend, beinahe einschläfernd, betäubend.
Der König verfolgte jede Bewegung des Zauberers, beobachtete die Kinder, wie sie sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnten und lächelte.
Die Königin wandte den Blick ab.

Und der Magus sang, beschwor ihre Schattenseelen herauf, tanzte um die Opfer herum.
Der Anblick war grotesk, beinahe wirkte das ganze Schauspiel schon fröhlich, fast festlich... ich konnte die Galle nur mit Mühe zurückhalten.

»Ex umbra in solem!«, rief der Magus und verstummte. Er hob die Hände, schloss die Augen und die Trommeln setzten wieder ein.
Aus den Schatten traten die Wachen ins Licht, die Schwerter erhoben, bereit die Ketten zu durchtrennen und ein Kind nach dem anderen auf den steinernen Altar zu ziehen.

Die Wachen legten die Schneiden an die Kehlen der Jungen und Mädchen, schnitten zu. Einmal. Sauber.
Blut quoll aus den Wunden, ergoss sich über die zerfetzten Hemden auf den Altar. Aufgefangen für die Paragonen.
Leblos sackten ihre kleinen Körper zusammen.

Ein magerer Junge, schmächtig und ausgehungert, kleiner als die anderen, war der Letzte.
Ich erinnerte mich noch an den Tag, als wir ihn zwischen den Abfällen der Fischerspelunke am Hafen gefunden hatten... verwahrlost, dreckig und allein. Ohne Mutter, ohne Vater.
Die Prinzessin fixierte ihn, die Hand ihres Bruders fest umklammert. Ihr wilder Blick von Unruhe getrieben.

Die Flammen der Fackeln züngelten höher, als die Wache ihm das Schwert an den Hals legte und ein markerschütternder Schrei die Nacht durchzuckte. Die Flammen schlugen in alle Richtungen, entzündeten die Wandteppiche und das Gewand des Magus'. Vor Schreck ließ die Wache ihr Schwert fallen, der Junge taumelte, fiel auf die Knie. Blind tastete er sich vorwärts.
Die Ritter wurden unruhig, während der Magus versuchte, die Flammen zu kontrollieren. Er hatte seinen Umhang von sich geworfen, sprach Zauber um Zauber, doch der Geruch von verbranntem Fleisch und Rauch lag schwer in der Luft.
Es blieb nicht mehr viel Zeit.

»Beendet die Zeremonie!«, brüllte der König. Er hatte sich von seinem Thron erhoben, die bestürzten und verängstigten Blicke der Wachen und seiner Familie ignorierend. Er wandte sich an mich und ich wusste, was es zu bedeuten hatte.

Mit großen Schritten durchquerte ich den einstigen Tempel und trat an die Stelle der Wache, die vor den Flammen zurückwich. Ich ergriff den Jungen an seinem Kragen und zerrte ihn zurück in eine aufrechte Position, setzte die Klinge an seine Kehle, den Blicken der Königin und der Prinzessin ausweichend. Und dann...

Glockengeläut...
Die Turmuhr schlug Mitternacht.

»Sofort!«, schrie der Magus.

Ein Schnitt und das siebte Opfer war erbracht.
Die Flammen erstarben.

Die Stille, die folgte, war ohrenbetäubend.

Die Königsfamilie und der Adel zogen sich zurück. Ihre Anwesenheit nun überflüssig, mussten sie sich nicht mit dem Verbleib der Kinder auseinandersetzen...
Es lag erneut an mir, die Wachen beim Fortschaffen der Leichen zu beaufsichtigen. Meine blutbefleckten Hände wischte in an meinem Umhang ab, schob das Schwert zurück in die Scheide und setzte eine emotionslose Miene auf.

Wir luden die Körper auf die Kutschen und fuhren mit ihnen zum Roten Fluss, wo sie in kleinen Holzbooten ihren Weg ins Jenseits antreten würden.
Mit Fackeln entzündeten wir das Stroh, das über ihnen ausgebreitet lag und stießen die Barken vom Ufer fort.

»Möge Namus ihren Seelen Frieden schenken, möge er sie von ihrem Leid erlösen.«

Rauch stieg in dicken Wolken auf, verschluckt von den Schatten, während die Flammen die Boote zerfraßen.

Das Königreich war wieder sicher...
So dachten wir...

✶⊶⊷⊶⊷❍⊶⊷⊶⊷✶

Kleine Wellen schlugen gegen das hölzerne Boot und brachten es zum Schaukeln. Die schwarze Nacht wurde bloß durch die Sterne und zwei alte Laternen durchbrochen, während ein alter Fischer seine Netze einholte.

Das Erste war eine reine Enttäuschung. Nur ein paar wenige Makrelen... wie sollte er damit die Steuern bezahlen?
Er machte sich am zweiten Netz zu schaffen und stutzte. Es war schwer, viel schwerer als sonst. Endlich ein guter Fang! Ob er einen Stör gefangen hatte? Dafür könnte er mindestens sieben Silberlinge verlangen, vielleicht mehr.
Tief einatmend brachte er all seine Kraft auf und zog das Netz ins Boot.

»Astracia, erweis' mir Gnade!«
Vor Schreck hätte er es beinahe wieder ins Wasser fallen lassen.

Es war kein Stör... oder überhaupt ein Fisch... es war ein Junge, nicht älter als elf... eine Leiche.
Der Fischer schluckte schwer, als er gen Himmel blickte. Der Blutmond thronte über ihm, lachte ihm grausam entgegen, dass sich seine Brust schmerzlich zusammenzog.

Wie sehr er die Zeit des roten Mondes in Ascian doch verabscheute.

Die linke Hand auf sein Herz gelegt, sprach der Fischer zu den Paragonen.

»Möge Namus seiner Seele Fried-«

Der Fischer stolperte zurück. Völlig außer sich, klammerte er sich an den morschen Mast und stieß einen Fluch aus.
Der Junge spuckte Wasser, er keuchte, tat einen tiefen Atemzug und blieb bewusstlos liegen, aber er atmete.
Ohne jeden Zweifel.

Die Fische und den Fang völlig vergessend, ruderte der Fischer mit dem Burschen, so kräftig seine Arme es vermochten, ans Ufer. Er hob ihn auf und lief, so schnell ihn seine alten Knochen trugen, zurück ins Haus.

»Emalia!« Mit letzter Kraft stolperte er zu dem kleinen Bett in der Stube und legte den Jungen behutsam hinein, zog ihm die Decken bis ans Kinn und atmete erleichtert aus.

»Emalia!«, rief er erneut. Endlich kam seine Frau die Stufen hinunter, noch völlig verschlafen und in ihrem Morgenrock, eine entzündete Kerze in den Händen.

»Waltan, im Namen der Paragonen-« weiter kam sie nicht, bevor sie den leblosen Jungen in ihrem Bett entdeckte. Atemlos, eine Faust an ihren Mund gedrückt eilte sie ans Bett und legte dem Knaben die Finger an die Stirn. »Astracia sei Dank!« Die Erleichterung verflog, als sie sah, dass der Fischer noch immer im Türrahmen verharrte.

Außer sich drehte sie auf dem Absatz um. »Nun los! Schür das Feuer, setz einen Kessel auf! Der Knabe erfriert!«

Mit einer Aufgabe betreut, wusste sich der Fischer wieder zu helfen und ließ seine Frau mit dem Kind allein.
Doch auch als er mit einer großen Schüssel Brühe und in Wasser getränkten Tüchern zurückkam, war der Junge nicht aufgewacht.
Stattdessen saß die Fischersfrau stumm am Fußende des Bettes, das Gesicht in den Händen vergraben.

Sie hatte dem Jungen die verbrannten Fetzen, die er am Leib getragen hatte, über den Kopf gezogen, ein frisches Hemd schon bereitgelegt, doch...
Waltan trat näher. Dann sah er sie; die feine Narbe, die sich unterhalb seines Kehlkopfes über den gesamten Hals zog.

»Ein Wunder«, hauchte der Fischer.
»Oder ein Fluch«, schluchzte seine Frau.

Der Fischer nahm sich das frische Hemd und stülpte es dem Burschen über, kniete sich mit verschränkten Händen an das Bett und sie warteten, bangten um seine Seele und sein Leben.

Es dauerte bis in die späten Morgenstunden, ehe er zu sich kam. Der Mond war schon lange untergegangen und die schwachen Sonnenstrahlen schienen durch das kleine Fenster.

»Waltan, er ist wach! Er lebt!«, rief die Fischersfrau aufgeregt und nahm das Gesicht des Jungen in beide Hände. Verängstigt zuckte er zurück, presste sich gegen die Holzwand hinter ihm.

»Alles gut, Bursche«, sagte der Fischer sanftmütig. »Sag, woran erinnerst du dich?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Verrätst du uns zumindest deinen Namen?«, wollte Emalia wissen, doch wieder nichts.

Er traute ihnen nicht, soviel war sicher. Mit einem traurigen Lächeln verließ die Fischersfrau das Zimmer, um in der Küche heißes Wasser aufzusetzen. Waltan, unsicher in seinem Handeln, wollte es seiner Frau gleich tun, das Zimmer schleunigst verlassen, doch im Türrahmen hielt er inne. Er wandte sich noch einmal um, da lag der Junge schon nicht mehr in seinem Bett. Er stand vor der tannenen Kommode, auf der ein fast schon blinder Spiegel stand. Viel konnte man nicht mehr erkennen, doch der Junge hatte sich den Kragen des Hemdes hinuntergezogen und betrachtete seinen Hals und die horizontale Narbe an seiner Kehle.

Er blickte auf, als er den Blick auf sich ruhen spürte. »Ich weiß es nicht mehr.«

Der Fischer räusperte sich. »Die Narbe?«

»Meinen Namen.«, beschämt sah er zu Boden. »Ich weiß s' nicht mehr... gar nichts mehr.« Aufgelöst hob er den Kopf, seine glasigen Augen flehten um Antworten, die ihm keiner geben konnte. »Ich weiß nicht, wer ich bin.«

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