6➳ Wiedersehen

Arzu

»𝕹un beeil dich doch gefälligst !« Bereits als die ersten schrillen Töne zu mir runter schalten, bereute ich meine zuvor getroffene Entscheidung meine Cousine mitgenommen zu haben. Dass sie mir zusätzlich Stress machte, ließ die Warteschlange vor uns auch nicht kürzer werden, weshalb ich das Brot in meiner Hand auf das Fließband ablegte und mich in einem kompromissvollen Ton zu ihr wandte.

»Ceyda wie du sehen kannst, sind einige Menschen vor uns an der Reihe. Keine Sorge, wir werden ganz bestimmt rechtzeitig zum Frühstück erscheinen. Tante wird schon nichts dazu sagen.« Ein aufmunterndes Lächeln meinerseits, veranlasste sie dazu ihr kantiges Gesicht noch härter wirken zu lassen, indem sie bei meiner Aussage die Lippen zu einer schmalen Linie verzog und ihr Kinn nach vorne schob.

Ungeduldig zappelte sie von einem Bein auf den anderen. Ich jedoch hatte nicht im geringsten vor mich von ihrer Unruhe aus der Fassung bringen zu lassen, weshalb ich ihr nochmal herzlich zulächelte.

Die 20-jährige Studentin warf die kurzen Strähnen ihres nach vorne länger verlaufenden Bobs zur Seite und deutete mit ihrem stechenden Blick auf die ältere Dame mit dem Kopftuch vor uns, die sich durch einen Gehstock Halt gewährte, und brachte dadurch zu Ausdruck, dass ihr die Lage gänzlich missfiel, ehe sie näher zu mir rückte und mir leise zuzischte:

»Musstest du ihr denn den Vortritt lassen ? Schau doch Mal wie viel sie eingekauft hat !« Ihr zorniger Blick, der sich auf das Fließwand, auf dem die Waren der Dame standen, gerichtet hatte, ließ keine Zweifel daran, dass die Teufelsbrut in ihr tobte.

Mir war Ceydas ungestüme arrogante Art zwar nicht wirklich neu, da sie immerzu von ihren Eltern und dem Rest ihres Familienclans bevormundet und auf Samthandschuhen getragen wurde, doch wieder einmal stellte ich mir mit Erschrecken die Frage, ob dieses Mädchen vor mir, die so gemein klang, auch wirklich Medizin studierte. Ich konnte die Universität nicht besuchen. Nach dem Tod von Vater war mir nicht viel an Vermögen übrig geblieben, da wir gewöhnliche Bürger waren und dementsprechend keinen wertvollen Besitz besaßen. Als ich dann in die Obhut der Schwester meines Vaters kam, hatten auch sie mir diese Weiterbildung nicht gewähren können, schließlich hatten sie Ceyda, die fast so alt war wie ich und ihren vier Jahre jüngeren Bruder. Ich hatte es ihnen nicht übel genommen und hatte mich währenddessen einem normalen Job gewidmet. Auch wenn es nicht in meine Wunschkategorie gehörte, wie die irgendwann einmal Architektur zu studieren, war ich insgeheim doch froh darüber im großen Istanbul überhaupt eine Stelle als Kellnerin gefunden zu haben.

Denn auf eine Universität zu gehen bedeutete nicht alles. Ich leugnete es nicht, dass es mein Traum war, aber je länger ich mir Ceyda vor Augen hielt, desto mehr fragte ich mich, was mir wichtiger war. Mein Status oder meine Menschlichkeit ? Unterstellen wollte ich ihr zwar nichts, aber ihre Unifreundinnen, die des Öfteren zum Lernen vorbeikamen, waren von ihren Verhaltensweisen her nicht anders gestrickt. Zudem behandelten sie mich wie Luft oder kommandierten mich herum, als wäre ich eine einfache Küchenmagd und das lediglich aus dem banalen Grund, dass ich mit meinem Abschluss noch nichts Gescheites gemacht hatte.

Anstatt zu einem Roboter zu mutieren und mich für jemand besser zu halten, schlug ich mich lieber auf diese Seite des harten Lebens. Nachdenklich auf den Print des Kopftuches der alten Dame vor mir starrend, hatte ich gar nicht bemerkt, dass wir nun die Nächsten an der Reihe waren.

Nachdem ich erneut das Rumgemecker von Ceyda neben mir ignoriert und bezahlt hatte, hatten wir den Laden verlassen und liefen die geschlossene Stadt von Beyoğlu entlang. Verkäufer von allen Seiten warben für sich, versuchten Einheimische als auch, Touristen durch verschiedenste orientalische Gewürze, exotische Früchte, nährende Öle oder durch ihre farbenfrohe Tülle anzulocken. Mir gefiel es, dass die Stadt so kunterbunt und trotzdem gleichermaßen so voller Lebensfreude war. Ich bevorzugte zwar die Stille, aber in einer Stadt wie Istanbul war der ganze Tag voller Ereignisse. Nichts nur das Nachtleben war für sich berüchtigt, sondern auch der Tag hatte viele Vorzüge zu bieten.

Gerade liefen wir durch den alten Ziegelsteinbogen über uns auf dem mit großer Aufschrift 'Kapalı Çarsı' eingraviert war, als wir auch schon am großen Platz ankamen, der von einer Menschenmasse überquoll. Dieser war in einer kreisförmigen Ausführung gehalten und die verschiedene Sitzbänke unter dem angenehmen Schatten der Bäume verlieh diesem Ort eine Gemütlichkeit. Drumherum das Klirren der kleinen Löffel in den Teetassen und der wohlige Geruch der Sesamringe betörte die Luft. Der Juni gewährte dem Menschen Entspannung, sodass sie sich gemeinsam an solchen Orten trafen und die Kinder im Schlepptau zum Spielen herbrachten. Inmitten dieses großen Platzes befand sich außerdem ein Wasserspeier, der ebenfalls rund gehalten wurde, sich hingegen bemerkenswert durch das metallische Gerüst von dem samt farbigen Mosaikstein des Bodens abgrenzte. Der leichte Wind ließ einige Spritzer des Speichers auf mich hinab regnen und gekitzelt von den einzelnen Wassertropfen entlockte es mir ein leises Kichern.

Just passierten wir den menschenvollen Platz, als eine Stimme wie ein schöner Sommerregen die Atmosphäre einnahm und mich in meinen Schritten zum langsamer werden verleitete. Eine große Statue des Gründers der Türkei 'Atatürk' zierte den Platz gegenüber des Speiers. Und genau vor dieser Statue hatten sich die Menschen versammelt. Ich wollte weiterlaufen, da ich schlichtweg davon ausging, dass es sich um Touristen handelte, die das Denkmal des berühmten ersten türkischen Präsidenten als Hauptattraktion begutachteten. Doch als erste sanfte Gitarrenklänge ihren Weg zu mir fanden, da konnte ich das Bremsen meiner eigenen Bewegungen wahrnehmen. Ich hielt angespannt den Atem an und lauschte gebannt, als auch neugierig. Mein Körper war plötzlich wie elektrisiert und als zusätzlich eine sanfte melodische Stimme im Einklang dazu erfolgte, die so zart war, als würde es meine Haut streicheln, blickte ich auf meinen Körper nieder, der in einem einfachen rosafarbenen Kleid steckte. Eine Gänsehaut nahm Besitz von meinem Körper und erstaunt und wissbegierig zugleich, diejenige Person auszumachen, die solch' immense Reaktionen aus mir herauslocken konnte, hob ich nicht viel Zeit vergeudend den Blick.

Und das war der Moment, als ich ihn zum ersten Mal sah.

Den schönsten jungen Mann auf Erden, den einzigen Mann, der meine Herzkammern aufriss und diese wie Schmetterlingsflügel zur freien Entfaltung antrieb. Ich war geblendet von diesen intensiven Gefühlen, die mich schlagartig trafen. Auf der anderen Seite machte mich diese neu entdeckten Seite an mir ganz kurios und abenteuerlustig.

Dunkles, geschmeidig locker sitzendes Haar und ein kantiges äußerst dominant und mächtiges Gesicht, dass wie aus Holz geschnitzt wirkte, wurde vor mein Blickfeld geschoben. In eine fein geschneiderte Kleidung war er bepackt und doch wirkte er weder zu elegant noch zu leger. Da saß er, ein mir fremder attraktiver Mann auf einem hohen Hocker, der trotz dessen seine überragende Größe kund gab und drückte eine Gitarre fest umschlungen in der Hand gegen sein zerknittertes und an den Ärmeln hochgekrempeltes Hemd, dass von seinem athletischen Körperbau nicht hinwegtäuschen konnte.

Mit der einen Schulter hatte er sich leicht nach vorne diktiert, so als würde er seine eigene Holzgitarre in eine verführerische Umarmung einbeziehen wollen. Während seine schönen langen Finger bedächtig über die Saiten auf und ab führen, entstand so plötzlich auf seinem Gesicht ein warmes Lächeln, dass mein Herz einen Salto nach dem anderen schlug. Ich bekam nicht einmal mit, worüber er genau sang, meine Augen waren lediglich auf seine eindrucksvollen Lippen gerichtet und mein Herz drohte jeden Moment zu versagen und aus den Rädern zu fahren, wenn es weiterhin in diesem Tempo voranschreiten würde.

Mein Blick ging unmittelbar auf sein Gitarrenkoffer über und meine Augenbrauen richteten sich bei dem fast leeren Inhalt runter. Just standen unzählige Menschen um ihn herum, bestaunten das Talent dieses jungen Mannes, doch wenn es darum ging ihn, um seiner Gabe willen zu belohnen, zog jeder den Kopf, wie eine erschrockene Schildkröte ein.

Bei den negativen Gedanken suchten meine Augen wie von selbst meine Tasche, die ich um meinen Oberkörper gebunden hatte. Mit Bestürzung und einem Hauch von Unbehagen musste ich feststellen, dass auch ich nicht in der Lage war großartiges an dieser Situation zu ändern. Ich hatte nur noch ein wenig Kleingeld und bis ich meine Lohn bekommen würde, standen mir noch ganze 14 Tage im Weg. Da der Großteil meines Hab und Guts an meine Tante überging, die einen Teil meines Einkommens von mir verlangte, als Gegenleistung dafür, dass ich bei ihnen wohnen 'dürfte', blieb mir am Ende des Tages meistens nicht wirklich viel von meiner eigenen harten Leistung übrig. Geknickt blickte ich auf die kleinen silbernen Münzen. Was nun ?

Ich hob zerknirscht den Blick an, mir unklar darüber, ob ich auf mein Herz oder mein Verstand hören sollte. Die Wahl einer Entscheidung blieb mir hingegen im nächsten Augenblick, als ich wieder den Kopf geradeaus anhob, verwehrt, denn plötzlich waren helle Augen unmittelbar auf meine gerichtet. Als beherbergte dies einen Anschaltknopf, pendelte dieser Blickkontakt, die Lautstärke um mich herum an und da erst bemerkte ich vorüber er sang. Er sang über ein Mädchen, ein hübsches junges Mädchen, was sein Herz erobert hatte. Ein Mädchen, das so schön war wie der Mondschein.

Mist.

Als er gerade diese Verse von sich gab, waren seine Augen weiterhin an meinen angedockt und sein unverschämt gutaussehendes Lächeln wurde breiter. Er nahm bei diesen Worten kein einziges Mal die Augen von mir und ich spürte die Schamesröte meinen Hals hinauskriechen, weil ich mich plötzlich angesprochen fühlte.
Mich hatte nie ein Mensch des anderen Geschlechtes so wachsam und langanhaltend je eines Blickes gewürdigt. Meistens war es Ceyda gewesen, die immerzu die ganze Show auf sich zu ziehen wusste.

Als könnte er meine zweifelnden misstrauischen Gedanken von meiner Stirn ablesen, wurde sein Lächeln noch breiter.

Doppelter Mist.

Ich spürte die Hitzeattacke auf mich einschlagen und vergaß wie selbstverständlich die Welt um mich herum. Nur er und ich existierten inmitten eines nichts... eines schönen friedlichen nichts. Dieser traumhafte Moment, der meine Seele berührte hielt hingegen nicht lange an, denn das verträumte Seufzen von Ceyda entriss mich diesem Gedanken, und wie immer, wenn sie nicht das bekam, was sie wollte, stellte sie sich vor meinem Blickfeld und versperrte mir somit den einwandfreien Blick zu ihm.

Ich wirbelte herum, erstaunt darüber solche Reaktionen an Ceyda live mitzubekommen, ehe ich sah, dass ihre langen Wimpern sich zu seiner Seite anhoben und die darunter verborgenen Augen ihn aufmerksam taxierten. Auch an ihr schien sein Zauber nicht effektlos vorbeigerauscht zu sein. War er vielleicht eine männliche Medusa ? Falls ja, dann wollte ich so schnell wie möglich hier weg. Ich konnte es mir nicht leisten einen hitzigen Krieg zwischen meinen Verstand und meinem Herzen anfochten zu lassen. Bevor ich mich aber zurückhalten konnte, brachte ich meine nächsten verräterischen Worte hervor.

»Er singt atemberaubend schön, findest du nicht auch Ceyda ? Ich möchte ihm kurz noch mein Restgeld geben, dann können wir uns auf den Weg machen.«

»Ohh Jaaa... er ist zum Anbeißen«, gab sie zunächst völlig verträumt von sich, ehe sie meine Worte samt Inhalt komplett zu erfassen schien.

Energisch stellte sie sich auf, die Hände trotzig an ihrer schmalen Taille abstützend.

»Das ist das letzte Geld, was du noch hast. Komm dann später bloß nicht bei meiner Mutter angerannt, um nach Geld zu betteln. Du kannst dich schon glücklich schätzen, dass wir uns so gut um dich kümmern. Niemand hätte dich aufgenommen.«

Ich schluckte hart, bevorzugte aber, nicht auf Ceydas harschen Tonfall einzugehen. Und trotzdem trafen mich ihre Worte, sodass ich einen enormen Druck an meinem Hals spürte, der wie ein Damm den Austritt meines verzweifelten Winselns zu halten bestrebte. Denn Ceyda hatte nicht das erste Mal solche Andeutungen gemacht, als würde ich ihr und ihrer Familie zur Last fallen. Ich wusste, dass ihre ganze Familie nur zu mir hielt, weil sie meinen Vater gemocht hatten und das war's bereits auch schon. Meine Mutter und ich waren immer die dunkle schamvolle Truhe gewesen, die niemand öffnen und über die niemand sprechen wollte...

Zu Beginn hatte es mich sichtlich geärgert, denn es hatte mir ganz und gar nicht gefallen mit der Frau, an die ich mich so wenig erinnerte und die meinem Vater und mich wegen eines anderen Mannes verlassen hatte, in eine Schublade gesteckt zu werden. Was konnte ich für ihre Taten ? Im Nachhinein hatte ich es aufgegeben, denn Menschen nett zu erklären, zu zeigen, dass ich die Tochter meines Vaters war, änderte nichts daran, dass auch ein Teil ihres Blutes in meinen Adern floss.

Auch wenn sie mir das nicht ins Gesicht sagten, war es dennoch kein groß gehütetes Geheimnis, dass jeder hinter meinem Rücken mich und die Frau, die mich geboren hatte, für die Schuldigen hielten, die den Krebs bei meinem Vater hervor beschworen hatte.

Was mich hingehen an Ceydas jetzigen Worten immer wieder verletzte war das Bild, was sie von mir hatte. Ich war ihnen nie, niemals eine Klette gewesen. Das Kochen, Putzen, Arbeiten ... alles mögliche, übernahm ich. Nicht einmal hatte ich mich deshalb beklagt.

Ich seufzte auf, durch den Gedankenstrudel, der meine ganze innere Konzeption erneut durcheinander brachte. Ich wollte keinen weiteren Gedanken mehr daran verschwenden.

Stattdessen lief ich los, um Ceyda, als auch meinen Gedanken zu entkommen und nahm dabei mein Portmonee aus der Tasche. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Ceyda mir stampfend folgte, doch je näher wir traten, desto ruhiger und sagenhafter wurden ihre Schritte.

Vor dem jungen Mann angekommen, der mich immer noch anblickte, neigte ich beschämt den Kopf nach unten. In dem Moment wollte ich ihm die paar Münzen zuwerfen, die ich in den kleinsten Ecken meines Faches aufbringen konnte, als sich plötzlich eine Hand neben mir ausstreckte und Scheine auf seinen Koffer runter warf.

»Bitteschön.«

Eine mir zu bekannte aufgetakelte Stimme ertönte neben mir und ungläubig blickte ich zu Ceyda, die nun nicht mehr angriffslustig wirkte, sondern ein herzhaftes Lächeln aufgesetzt hatte und den jungen Mann vor uns, der das Instrument spielte, anzüglich belächelte, indem sie mit den Wimpern klimperte. Ich brachte kein Ton raus, als ich sah, wie sie 20 Lira in den Korb warf. Stattdessen konnte nicht anders, als auf die wenigen Münzen in meiner kleinen nun fest zusammengedrückten Hand niederzublicken, die mir vor Scham den Boden unter den Füßen rissen. Plötzlich wirkten die Münzen mickriger und wertloser denn je durch die Aktion von Ceyda und ob sie es getan hatte, nur um mich bloßzustellen, darüber vermochte ich nicht zu spekulieren.

Mein Mut verkroch sich, zog sich in den dunklen Gardinen meiner Entschlossenheit zurück und ganz gleich wie oft ich auch innerlich besänftigend darauf einsprach, sie streichelte... Sie war beleidigt und würde sich so schnell nicht mehr heraus trauen.

Mit traurig dreinblickenden Augen bückte ich mich vor und ließ die wenigen runden Teile aus meiner Hand fallen, die in ungleichmäßigen Takten auf das Polster des Koffers hinabfielen und ein plop nach dem anderen erzeugten.
Meine Laune war gesunken und ich wollte mich so schnell wie möglich aus dem Publikum entziehen, da sprach mich seine Stimme geradewegs an:

»Danke.«

Ich hob den Blick an und sah, dass er mich immer noch mit solch einer Intensität observierte, wie ich ihn zuvor auch. Ich schluckte. Er hatte aufgehört zu singen und auch zu spielen.

»Gerne... Ich habe leider nicht genug Geld dabei, sonst hätte ich Ihnen mehr gegeben.«

Als er mir nicht antwortete und mich weiterhin anstarrte, deutete ich auf die Geige hinter ihm, die mir abrupt ins Auge stach.

»Spielen sie auch Geige ?«

»Ich spielte«, antwortete er.

Ich wusste nicht wie und weshalb, doch ich war mir ganz sicher, dass die Luft momentan geladen und zum Zerreißen gespannt war. Es war, als schien die Zeit still zu stehen, die Erde auf eine Regung von uns zu warten, um sich weiter zu drehen. Unsere Blicke verfingen sich, er streifte mit seinen Augen mein Gesicht und blieb an meinen Lippen kurzzeitig hängen. Als er bemerkte, wie ich nervös schluckte, tat er es mir gleich. Seine so sanften Hände fassten dabei plötzlich die Saiten der Gitarre fester, was eine Hitzewelle auf meinem ganzen Körper bescherte.

Ceyda räusperte sich neben mir und packte mich augenblicklich recht grob am Arm, sodass ich, von dem Schmerz abgelenkt, den Blickkontakt abbrechen musste.

»Wir gehen jetzt«, gab sie trotzig von sich und blickte von den Typen zu mir und zurück. Es hatte ihr nicht gefallen, einmal nicht im Mittelpunkt zu stehen.
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Obwohl ich nicht gehen wollte, spürte ich, dass ich gegen den Druck, den sich beim Ziehen verursache, nicht ankämpfen können würde. Also ging ich mit einem letzten Blick von ihm. Gerade zwängten wir uns zwischen den Menschen durch, als ich seine Stimme erneut ausmachte.

»Auf wiedersehen, mahinur.«

Irritiert hielt ich inne, wollte mich umdrehen, doch da war ich bereits inmitten der Menschen, weshalb seine Worte sich immer und immer wieder in meinem Kopf abspielten.

Mahinur ? So hieß ich doch gar nicht.

Ich biss mir auf die Unterlippe und fühlte ein Kribbeln in meiner Bauchgegend, das sich im mir austobte.

Mahinur...
Mahinur...

Und dann machte es klick.

Mondlicht... Mondschein.

Meine Gedanken gerieten aus den Fugen, als ich verstand, was er damit sagen wollte. Dieses Lied, dass er mit so viel Leidenschaft und Liebe gesungen hatte... Dieses Lied war mein Lied. Er hatte es für mich gesungen. Nein, er hatte über mich gesungen.

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Aber wie konnte das sein?

Ich war es doch nur, Arzu... Arzu und kein Mädchen, dass so schön war wie der Mond.

Der Wind wehte herbei. Fast federleicht, kaum erwähnenswert und doch wehte er, dachte ich mir innerlich mit geschlossenen Augen, als ich im Schneidersitz sitzend den Kopf gen Himmel streckte, um einige Sekunden lang die Sonnenstrahlen auf mich einwirken zu lassen. Ich bemerkte die leichte Brise nur deshalb, weil mein Pony immer wieder leicht gegen meine Stirn stieß und somit ein leichtes Kitzeln an meiner Stirn verursachte, dass mir ein beinahe kindliches Kichern entlockte.

Gerade richtete ich munter den Blick erneut auf die Zeitung, die ich sachte mit den Fingern umschloss, als sich auch schon ein leichter Schatten auf mich legte. Daphne, die etwas Kaltes zu trinken aus unserem kleinen Versteck im Schatten holen wollte, setzte sich nun wieder auf die Decke, die ich an einem der veralteten und halb zerstörten Säulen abgelegt hatte. Damit wollte ich uns zum einen von der prahlen Mittagssonne schützen, die in Zypern für ihre wirkungsvollen Sonnenstiche berüchtigt war, und zum anderen hatte ich unsere grüne Decke genau so angewinkelt, dass wir immer noch einen Blick auf die Hauptattraktion, nämlich die Festung von Kyrenia erhaschen konnten.

Verträumt und ebenso fasziniert, wanderte mein Blick zurück auf das einzigartige komplexe Konstrukt und immer wieder, wenn ich in Gedanken durchging, wofür diese Festung alles gestanden hatte, verschlug es mir vor lauter Aufregung die Sprache. Nachdem die Byzantiner, den Bau dieser Festung eingestellt hatten, hatten die Venezianer bei ihrer Ankunft weiter daran gearbeitet, um sich dort gegen die Osmanen zu verteidigen. Letzten Endes hatten die Engländer dies dann aber als Gefängnis für ihre Gefangenen verwendet. Hinter diesen alten Mauern verbarg sich eine über Jahrzehnte lange spannende Geschichte, die einem die Sprache verschlug.

Ich mochte die hellen Gemäuer, die Simpelheit, die in den Bau eingebracht wurde. Ich fand, dass man dadurch ganz klar gewisse Unterschiede zwischen der architecktonischen Arbeit der Europäer und der Osmanen ausmachen konnte.

Ich lächelte, als ich spürte, wie mir leichter ums Herz wurde und wie locker und ruhig sich meine gesamte Seele in meinem Körper ausbreitete.

Langsam drehte ich den Kopf wieder zurück zu Daphne, die gerade damit beschäftigt war ihr luftiges Crop top Oberteil zu richten, dass nur dezent kürzer war als ihre Shorts darunter und somit einen minimalen Spalt ihres flachen Bauches repräsentierte. Bei ihrem Anblick bereute ich es ein langes Maxikleid angezogen zu haben, was zwar recht luftig ausgearbeitet war, aufgrund des leichten Stoffes und auch das Marineblau stellte zu meinem Hautton ein ansehnliches Bild dar, doch die Temperaturen stiegen von Minute zu Minute an, sodass selbst der Fächer, den ich mitgenommen hatte, keine Wirkung mehr zeigte.

»Es ist hier wunderschön. Ich freue mich, dass wir es endlich Mal wieder geschafft haben hierher zu kommen.«

Auch die junge Griechin lächelte nun und gewährte mir einen Einblick auf ihre lückenlose porzellanweiße Zahnreihe.

Sie hob die Arme in die Lüfte und vollzog im Anschluss Bewegungen, die so aussahen, als würde sie das fröhliche Flügelschlagen eines bunten Kanarienvogels imitieren, ehe sie ein wohligen zufrieden klingenden Laut von sich gab.

»Oh ja ! Ich freue mich auch. Zum Glück arbeiten wir beide erst heute Abend. Bei dem Gedanken daran, dass wir in dieser Hitze in einem stickigen Lokal hätten arbeiten müssen, bekomme ich jetzt schon einen Anfall.«

Sie beugte sich vor und drückte leicht meine Hand.

»Ich bin so froh, dass es dir besser geht.« Daphne schenkte mir ihr aufrichtigstes Lächeln, was sie zustande bringen konnte.

Ich stellte die Zeitung von meinem Schoss auf die Decke ab und legte meine Hand über ihre. Ich wusste, dass Daphne so viel mehr sagen wollte, dass sie so viel mehr ihre Gefühle zu Ausdruck bringen wollte, aber selbst diese Geste von ihr bedeutete mir unglaublich viel, zumal ich seit dem knappen Jahr, in dem ich Daphne kannte eins ganz klar an ihr bemerkt hatte. Tief gehende Sentimentalität lag ihr nicht. Romantischen Gefühlen ließ sie zwar Spielraum, wie auch ihre Schwärmerei für Taylan, doch auch diese Gefühle bewegten sich eher an der Oberfläche, als dass sie zuließ, dass sie ernster und fester wurden. Es war, als hätte Daphne Angst tief in das Wasser unterzutauchen, Angst, dass sie nicht mehr Atmen können würde. Wir beide hatten unsere Schwierigkeiten Gefühle zu Ausdruck zu bringen, und genau deshalb waren solche Momente wahre Schätze für uns beide.

Im Moment fühlte ich mich friedlich, wie seit Tagen noch nie. Nachdem ich die letzte Woche endlich aus meinem Schneckenhaus herausgekrochen, meine Gesundheit wiedererlangt und mit der Arbeit wieder begonnen hatte, war ich recht schnell in meinem Alltag zurückgekehrt. Das alles tat mir gut, denn so musste ich nicht unmittelbar an die Ereignisse davor zurückdenken, die eine Kurzschlussreaktion bei mir zur Folge gehabt hatten. Auch jetzt musste ich hart schlucken, als ich an den Moment zurückdachte, wo seine Augen die Meine gefunden hatten...

Ich löste schnell diesen Knoten in meinem Kopf auf, bevor es sich zu einem festen zusammenfand. Ich durfte nicht daran denken, ausgerechnet heute nicht, wo der Tag doch so friedlich begonnen hatte. Dies galt nämlich als ein kleines Ritual zwischen mir und Daphne seit wir uns kennengelernt hatten. Sie wusste, dass ich neben meiner Leidenschaft fürs Stricken und Kochen, ebenso eine große Schwäche für antike Gebäude hatte, die von der Geschichte geprägt waren. Dies war auch einer der Gründe gewesen, weshalb ich schon sehr früh gewusst hätte, dass ich Architektur studieren wollte. Zwar hatte ich mir diesen Wunsch noch nicht verwirklichen können, aber ich hatte mir von meinen jetzigen Jobs etwas Geld zur Seite gelegt. Irgendwann würde ich die Uni besuchen und meine Ziele verwirklichen. Nicht nur meinetwillen, sondern auch um seinetwillen. Ich hatte es ihm versprochen.

»Jaaa ich bin auch erleichtert«, gab ich wahrheitsgetreu von mir und seufzte wohlig auf.

»Ich wünschte nur, dass wir auch irgendwann Mal nach Famagusta fahren und dort den Othello Turm besichtigen könnten«, sagte ich zerknirscht und dachte an die vielen Erzählungen von Daphne zurück.
Sie stammte ursprünglich aus Südzypern, was sie hierher verschlagen hatte und wie es dazu kam, dass sie türkisch sprechen konnte, wusste ich bis heute nicht, doch Daphne hatte alles so realistisch beschrieben, dass ich das Gefühl hatte die Luft dort zu atmen, mich genau dort zu befinden. Leider hatten wir es bis jetzt noch nie geschafft dorthin zu fahren, Haupthindernis dafür war, dass ich mit meinem türkischen Pass ein Visum benötigte, um den Süden des Kontinents betreten zu können.

»Sobald bei uns auf der Arbeit weniger los ist, gehen wir dir ein Visum beantragen, versprochen !«, sagte sie selbstsicher, ehe ihr Blick auf die Zeitung fiel.

»Was hast du dir da gerade angeschaut ?« Mein Blick hellte sich auf, ich schlug die Seite auf, bei der ich zuletzt stehen geblieben war und deutete auf die Strickmuster, die die Seiten zierten.

»Wie findest du die ? Ich dachte mir, dass wir die Muster unserer Kissenbezüge umändern könnten. Ich fand diese Pastelltöne ganz schön.« Daphne legte den Kopf schief und dachte über meine Worte nach, während sie auf die Seite nieder blickte.

»Hört sich gut an. Wir können es ja Mal ausprobieren«, sagte sie und nickte anerkennend, was mich dazu verleitete eine imaginäre Einkaufsliste in Gedanken zu erstellen, welche Stoffe und welche Arten von Wolle ich beim nächsten Einkauf besorgen würde.

Zufrieden lehnte sie sich zurück und strich sich das Haar zu Seite. Ich schmunzelte, legte das Heft auf die Decke und wollte diesen Moment endlich dafür nutzen, um sie über ihr Liebesleben auszufragen.

»Und... wie läuft es mit Taylan ?«

Daphne verdrehte verspielt die Augen und ein kleines Schmunzeln legte sich über ihre Lippen, als sie meinen interessierten Blick begegnete, der besagte, dass sie bloß kein Detail außer acht lassen sollte.

»Es läuft gut. Ich mache mir keine allzu großen Gedanken und genieße den Moment. Wir wollten demnächst in den Club kommen, wo du arbeitest. Sobald ich genaueres weiß, musst du dir an dem Tag freinehmen. Ich möchte, dass du ihn kennenlernst und ich möchte das Tanzbein mit dir schwingen.«

»Also magst du ihn ?«

Sie nickte eifrig.

»Ja ! Ich weiß zwar noch nicht, ob er Ehemann tauglich ist und meinen zukünftigen 10 Kindern ein guter Vater sein wird, aber bis jetzt bin ich ganz zufrieden.«

Daphne hielt inne und unterbrach ihren merklich sarkastisch gemeinten Satz, obwohl man ihr ansah, dass sie noch nicht am Ende angelangt war. Ihr belustigter Ausdruck schwand dahin und auch ich verkrampfte mich bei ihren Worten.

Ehemann...

Sie drehte den Kopf leicht in meine Seite und warf mir einen Blick zu, der mir genauestens vertritt woran sie dachte. Denn auch ich musste an ihre Worte vor unmittelbar einer Woche zurückdenken.

»Aber eine Frage hätte ich da noch Arzu: Wo ist dein Ehemann ?«

Ich spürte einen heftigen Schmerz bei dieser Frage auf mich zukommen. Genau wie in dem Moment, wo sie diese Frage laut ausgesprochen hatte, versteifte ich mich auch jetzt.

Als sie mir diese Frage gestellt hatte, war ich innerlich in eine Art Trance gefallen. Eine Starre von der ich mich nur mit Mühe gelöst hatte. Daphne hatte mich erwartungsvoll angeblickt, doch meine Hand hatte nur die zwei Ringe an meiner Kette um den Hals, geschlungen und ich hatte still in der Küche gesessen.

Wie ich es auch jetzt tat. Meine Hand schoss sofort zu meinen Hals. Daphne folgte meinem Blick, blieb aber trotz der vielen Fragezeichen in ihrem Kopf still.

Ich hatte ihr diese Frage nicht beantwortet. Ich konnte es nicht. Zu schmerzhaft, zu sündhaft waren die Ereignisse, als dass ich sie laut aussprechen können würde. Ohne, dass ich ihr sagen musste, was war, hatte sie genickt und gemeint, dass es ok sei, wenn ich darüber nicht sprechen wollte. Ich war sehr erleichtert darüber gewesen.

Doch nun realisierte ich, dass die unausgesprochen Worte, wie ein Fluch über uns lagen und auch wenn wir dies gut zu überspielen wussten, bewies mir dieser Moment, dass ich die Wahrheit nicht für immer hinauszögern können würde. Irgendwann mussten selbst Sünder zur Rede kommen, wissentlich darüber, dass selbst die reinste Beichte, sie nicht erlösen würde.

~∞~

Es war Viertel nach sechs, als ich das mir allzu bekannte Brummen von unserem Chefkoch Mehmet zu hören bekam, ehe er den Kopf aus der Küche streckte und mich dabei ertappte, wie ich immer noch Bestellungen der Kunden aufnahm.
Ich eilte mit dem kleinen Notizblock in meiner Hand auf ihn zu und riss den Stapel an Bestellungen ab, um ihm diese zu übergeben, ehe ich mich weiter an die Arbeit machen wollte.

Seine leichte Berührung an meiner Schulter veranlasste mich hingegen dazu mich wieder zu ihm zu drehen. Ich musste unwillkürlich Lächeln, als ich den Mehlfleck auf der Nase des alten Mannes zu sehen bekam. Mit dem grauen, fast schon in Richtung weiß verlaufenden Haar und den einzelnen Falten, die sich auf dem Teddybärgesicht gelegt hatten, wirkte er wie ein Weihnachtsmann.

»Das reicht jetzt. Leg die Schürze ab und mach Feierabend, mein Kind.«

Hätte ich ihn nicht so sehr respektiert und wäre er nicht älter als ich, würde ich womöglich die Augen verdrehen. Meine Schicht ging eigentlich bis Ladenschluss, was je nach Wochentag und Saison stark variieren konnte und insbesondere im Sommer war es nicht ungewöhnlich, dass dies schon Mal bis zum Morgengrauen anhielt. Da aber meine überfürsorgliche Mitbewohnerin Daphne meinte, dass ich mich weiterhin schonen musste, hatte sie meine Kollegen auf der Arbeit im Restaurant eingeweiht, mich die ersten Male für eine kürzere Schicht eintragen zu lassen. Da dies bei der Arbeit im Club unmöglich war, hatte sie sich deshalb umso mehr ins Zeug gelegt, dies in diesem Lokal durchzusetzen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie das alles gedreht und gewendet hatte, doch seitdem waren Onkel Mehmet und auch Dimitros vorsichtiger mit mir denn je. Wenn es dazu kam, dass ich mehrere leere Teller gleichzeitig tragen musste, eilte einer der Mitarbeiter auf Befehl der beiden zu mir, um einen Anteil meiner Arbeit auf sich zu nehmen. Ich schätzte es sehr, aber trotz dessen mochte ich es nicht wie eine Porzellanpuppe behandelt zu werden.

»Es ist schon in Ordnung. Heute ist echt viel los, ich kann noch ...«

Ich verstummte, als ich den warnenden Blick von dem alten Mann vor mir sah.

In dem Moment lief Dimitros an uns vorbei und Chefkoch Mehmet winkte ihn zu sich.

»Komm mal her, mein Sohn. Kannst du dieser jungen Dame bitte erklären, dass sie endlich nach Hause gehen und sich ausruhen soll, bevor ich sie rausschmeiße.«

Gespielt empört legte ich die Arme an den Hüften an, Dimitros lehnte sich gegen die Wand und betrachtete mich lüstern. Heute war seine leichte Lockenmähne am Kopf unebener denn je. Mir gefiel dieser leicht zerstreute Look an ihm, es ließ ihn jünger und unbeschwerter wirken.

»Du hast ihn gehört Arzu, an deiner Stelle würde ich die Fliege machen.«

Gespielt betroffen zog ich eine Schnute.

»Na schön... wenn ihr mich hier nicht haben wollt, dann verschwinde ich.«

Ein warmes Lächeln von Dimitros folgte als Antwort. Mir gefiel sein Lachen sehr, es war einer dieser, die jeden in den Bann zog, weshalb ich ebenfalls Lächeln musste.

»Geh nach Hause oder lauf eine Runde hier am Ufer entlang«, sagte Dimitros und deutete raus aus den Fenstern von dort man das Meer erkennen konnte. Da das Restaurant direkt am Hafen stationiert war, hatte man einen perfekten Blick auf die klaren Gewässer und die vielen luxuriösen Yachten, die hier anhielten.

An vielen Tagen, wenn ich gelegentlich eine freie Minute für mich hatte oder lediglich in den Pausen, ging ich sehr gerne dorthin und blickte auf das Meer, die die Farbe meiner Augen trug. Ich fühlte mich dem irgendwie verbunden. Ich wusste nicht, ob es an den sanften Wellenrauschen lag, doch nach jedem harten Tag hatte ich das Gefühl, als würde die Wellen all meine Sorgen für einen Moment aufnehmen und weit über die Meere zerstreuen.

»Außerdem musst du doch morgen eine Nachtschicht im Club übernehmen, oder nicht? Dafür musst du ausgeruht sein, zumal ich da auch einen kurzen Abstecher zu dir machen werde.« Er zwinkerte mir zu.

»Sehr gerne. Die Getränke gehen aufs Haus wie du weißt«, sagte ich und drehte mich wieder zu Onkel Mehmet um.

»Übrigens erwarte ich dich dort auch Mal«, sagte ich neckend, was ihn kritisch die Augenbrauen hochziehen ließ.

»Was soll ich alter Knacker dort ? Ich würde mir womöglich bei jeder kleinen Bewegung eine Rippe brechen. Ne ne ich lasse euch Jugendlichen den Vortritt. Meine Zeiten auf der Tanzfläche sind um. Ihr hättet mich Mal in den 70ern erleben müssen. Ich sage es euch, da war ich ein heißer Feger.«

Dimitros und ich warfen uns gleichzeitig einen Blick zu, ehe wir losprusteten.

Nachdem ich endlich nachgegeben und das Restaurant zehn Minuten später verlassen hatte, tat ich genau das, was mir Dimitros vorgeschlagen hatte. Ich lief am Ufer entlang und blickte auf das Meer rüber, das nun durch die letzten sanften Organe farbenen Töne der Sonne gekennzeichnet war und ein einzigartiges Panorama darlegte. Schon des Öfteren hatte ich versucht diesen Moment durch ein Foto einzufangen, doch immer wieder hatte ich beim Betrachten dieser unzufrieden auf die 'Löschen'- Taste gedrückt. Ein Bild traf niemals das Original. Es berührte mich nicht...

Also versuchte ich mir immer wieder diesen Moment so gut wie möglich im Gedächtnis einzuprägen, damit es für eine längere Zeit auch dort blieb und mich immer wieder aufwärmte.

Heute war wieder einiges los. Viele Yachten waren hier angekommen, was dem Wetter zu verdanken war, welches insbesondere in den letzten Tagen wundervoll gewesen war. Da dieses Treiben mir zu laut und zu unübersichtlich wurde, hatte ich mich schon frühzeitig auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen umgesehen, an den ich mich zurückziehen konnte, wo mir dieser Ausblick aber dennoch nicht verwehrt blieb. Letztlich hatte ich dann vor einigen Monaten, wenige Meter abseits der Sitz- und den Abstellplätzen für die Yachten ein kleines Örtchen gefunden, an den ich mich sozusagen verstecken konnte und wo ich alleine für mich war. Es war eine Klippe, die sich hinter einem kleinen steilen Felsen befand. Eine kleine Lücke, die ausreichend Breite bot, galt als Eingang, wodurch ich auf die Klippen gelang und mich von den Touristen und den Blicken anderer abschotten konnte.

Meistens setzte ich mich dann ans Ende der Klippe, zog meine Schuhe aus und ließ meine Füße in das Wasser gleiten. Die Kälte tat meinem ganzen Körper nach einem langem anstrengenden Arbeitstag gut.

Auch dieses Mal folgte ich genau derselben Routine und als meine Füße am Ende des Stegs mit dem Wasser in Berührung kamen, da seufzte ich mit geschlossenen Augen zufrieden auf und lehnte mich mit den Händen auf dem Dielen abstützend nach hinten. Anschließend öffnete ich die Augen und blickte wieder auf das glasklare Wasser. Ich bemerkte eine Yacht, die sich von den anderen durch ihre beachtliche Größe und Ausstattung unterschied auf das Ufer zusteuern. Auch konnte ich aus der Entfernung einige Gestalten auf dem Deck ausmachen, doch da sie etwas weiter entfernt waren, wirkten sie alle wie kleine schwarze Punkte, die aus der Reihe tanzten.

Ich wandte den Blick ab, sog den Geruch des Salzwassers in mich ein und plantsche mit den Füßen im Wasser herum. Dann beschloss ich, die Augen erneut zu schließen und mich einer süßen Erinnerung hinzugeben.

»Edis... lass das! Ich warne sich, komm keinen Schritt näher«, kreischte ich mitten in meinem Gelächter und blickte auf den diabolisch grinsenden Mann vor mir, der klitschnass aus dem Wasser kam und mich anvisiert hatte.

Lachend trat ich einige Schritte zurück, hob die Hand, um ihn zu bedeuten, dass er mir nicht nahe kommen sollte, doch so schnell ich mich umdrehen und wegrennen konnte, so schnell war er auch schon bei mir, hatte mich über die Schulter geworfen und mir auf den Hintern einen Klaps verpasst.

Ich quiekte auf. Bevor mein Strampeln überhaupt ansetzen konnte, sprang er  und wir beide landeten im eiskalten Wasser. Erschrocken und von der Kälte überwältigt gelang ich keuchend an die Oberfläche.

Edis tat es mir Sekunden später gleich, doch während ich verkrampft von einem Fuß auf den anderen im Wasser wippte, schien er ganz zufrieden zu sein. Er fasste sich in die nassen Haare und schob sich diese nach hinten. Ich spürte ein Ziehen in meinem Unterleib, doch gerade als ich auf ihn springen wollte, um ihn als Rache ins Wasser zu drücken, da zog er mich am Handgelenk fassend wieder an sich und ich knallte ungeschickt mit dem Oberkörper an seine Brust.

Haut an Haut. Wir waren beide nass, atemlos und ich hob den Blick an, um dem großen Mann in die Augen zu blinken. Seine hellen Augen hatten sich mit einem Mal verdunkelt. Sie wirkten beinahe schwarz, als er auf mich niederblickte und als durch einige wieder nach vorne fallenden Haarsträhnen einzelne Tropfen auf seine vollen Lippen hinabfielen, da schluckte ich hart. Da war meine Selbstbeherrschung wieder dahin.

Wie als wüsste er, war in meinem Kopf vorging, senkte er seinen Kopf runter und Stirn an Stirn rangen wir nach Atem. Mein Herzschlag beschleunigte sich wie immer und es war das schönste und doch erschreckendste was ich je erlebt hatte. Ich hatte Angst, dass mein Herz mir jeden Moment aus der Brust sprang. So hatte ich mein Leben lang noch nie gefühlt.

»Warum bekomme ich nie genug von dir...«, flüsterte er und schloss die Augen, als würde auch er nach Selbstbeherrschung ringen.

»Warte ab. Wir sind erst seit kurzem verheiratet. Bald wirst du solche Worte nicht mehr von dir geben«, sagte ich neckend, was ihn zum Lächeln brachte, sodass seine Grübchen zur Geltung kamen. Wie ich diese Grübchen liebte.

»Du bist mein Mondschein Arzu... Mein Lichtblick in der Dunkelheit. Ich könnte dich niemals aufgeben, täte ich, das würde ich mich in der Finsternis verlieren. Du bist meine Mahinur«, hauchte er mir noch als letztes zu, ehe er den geringen Abstand unserer Lippen überbrückte und unsere Lippen aufeinander trafen.

Das wohlige Kribbeln verschwand von meinen Lippen, als ich die Augen öffnete und erkannte, dass ich komplett von meiner Erinnerung eingenommen war.
Solche Momente stimmten mich zum einen glücklich, auf der anderen Seite jedoch füllten sie mich mit solch einer Trauer, dass ich mich in dieser Verzweiflung verlor.

Ich hatte gar nicht bemerkt, wie lange ich hier gesessen hatte. Es störte mich nicht, aber da ich wusste, dass Daphne sich Sorgen machen würde, zumal sie gleich zur nächsten Schicht ausbrechen würde und erst am nächsten Nachmittag wieder nach Hause kam, da schob ich meinen Frust zur Seite und stand auf.

Knall.

Ohne es kommen gesehen zu haben, dass sich jemand ebenfalls gerade dem Steg genähert hatte, war ich in jemanden rein gelaufen. Ich taumelte kurz nach hinten, wurde dann aber vorsichtig an der Taille gefasst, da mein Gesicht kurz davor war Bekanntschaft mit den unebenen Dielen zu machen.

»Entschuldigen Sie ich...«

Er verstummte, als sich unsere Blicke trafen. Abrupt weiteten sich seine Augen. Das Rauschen des Meeres, welches wie eine Melodie in meinen Ohren klang, wandelte sich durch die Begegnung dieser Augen und ich spürte wie uneben, wie stürmisch die Wellen wurden. Er ließ augenblicklich von mir ab, schwer atmend machte ich einige Schritte nach hinten.

Ich hörte nichts mehr, ich fühlte nichts mehr... nur innere Stimmen verfolgen mich bei seinem Anblick aus jener Nacht.

»Geh... ich bitte dich, geh einfach...«

»Nein...«

Er blickte mich undurchdringlich an.

»Ich habe dich gewarnt.«

Sein Blick war wachsam, vor Schreck geweitet. Er machte langsam einen Schritt auf mich zu, hob die Hand an.

»Du hättest gehen sollen... Arzu. Du hättest verdammt nochmal abhauen sollen.«

Dann machte er noch einen. Die Stimmen in meinem Kopf hörten nicht auf.

Ich hätte gehen sollen.
Ich hätte verdammt nochmal gehen sollen.
Es war meine Schuld.

Doch nun stand er vor mir... er ging nicht. Er kam auf mich zu.
Die Angst übermannte meinen Körper, ich machte einige Schritte nach hinten und noch einen. Seine Augen wurden größer und er streckte die Hand nach mir aus, doch da war es bereits zu spät. Ich verlor endgültig meinen Halt und fiel, fiel in das eiskalte Wasser und gelang nicht mehr an die Wasseroberfläche.

Hallo meine Lieben 💛
Ratet Mal welche Geschichte es auf die Longlist der Wattys2018 geschafft hat ? Ja genau ! 😍 Diese Geschichte hier 🙈 Ich habe heute die Privatnachricht dazu erhalten und konnte meinen Augen nicht trauen. Das ist der Wahnsinn !🥂🍾
Auch wenn ich ganz bestimmt nicht gewinnen werde, ist es doch für mich ein sehr großer Schritt, der ohne euch nicht möglich gewesen wäre. Dafür danke ich euch von ganzem Herzen ! Vielen lieben Dank.💛 Danke, dass ihr mir immer wieder beweist, dass es sich trotz der aktuellen stressigen Zeit in meinem Leben lohnt das Schreiben nicht aufzugeben, um meinetwillen und um euretwillen.

Habt ein schönes Wochenende 🌙

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