10.
Ray hatte schon einige Male in seinem Leben Erleichterung verspürt,aber als Helene ihm um den Hals gefallen war, hatte er wortwörtlich gemerkt, wie ihm eine Tonne an Last von seiner Seele gefallen war. Er konnte wieder besser atmen, sein Herz schlug schneller, aber dieses Mal nicht vor Angst, sondern vor purer Freude und Glückseligkeit. Seine Zwillingsschwester hatte sich immernoch um seinen Hals geklammert, während Ray sie fest an sich drückte und ebenfalls nicht verhindern konnte, dass er weinte. Er verspürte so viel Erleichterung, dass es beinahe wieder schmerzte. »Ich glaub's nicht«, raunte Ray. Seine Stimme klang kratzend und erstickt. »Ich glaube es einfach nicht.« Helene ließ ihn los und sah ihn an. »Sie lebt noch.« Ungläubig schüttelte er seinen Kopf. »Ma' lebt noch.« Ray wusste nicht, wie oft er das noch aussprechen wollte, aber diese Wörter fühlten sich so unglaublich gut auf seiner Zunge an. Noch nie hatte er sich so darüber gefreut, bestimmte Worte aussprechen zu können. »Ja,sie lebt noch.« Helenes Stimme war genauso verweint und kratzig, wie die von Ray. Immernoch liefen ihr nasse Tränen übers Gesicht.
Schon beinahe hatte er Odette hinter sich vergessen. Er war so gefangen in dem Gefühl der Erleichterung, dass er sie aus dem Sinn verloren hatte. Ray fuhr zu ihr herum. Odette lächelte. Sie hielt ihre Decke um ihre Schultern und sah Ray mit einem erleichterten Blick an. Beinahe erleichterter, alder von Helene. Ihr Lächeln sorgte dafür, dass Ray sich nur noch besser fühlte. »Du hattest Recht.« Anstatt damit anzugeben, nickte Odette nur. Ihr Lächeln stets auf den Lippen. Die blonden Haare lagen ihr teilweise im Gesicht und umspielten ihre liebliche Form. »Du hattest von Anfang an recht. Wie konntest du dir nur so sicher sein?« Sie zuckte mit den Schultern, trat einen Schritt vor und warf einen kurzen bedachten Blick auf Helene. Ray konnte seine Schwester nicht sehen, aber ihr Gesicht war ihm gerade auch nicht so wichtig. Odettes Blick glitt wieder zu Ray, suchte seine Augen und sah ihm direkt hinein. »Alles andere hat sich einfach unwahrscheinlich angefühlt. Zu unwahrscheinlich, um doch noch zu geschehen.«Sie trat noch einen Schritt nach vorne»Es war einfach ein Gefühl, dass viel zu stark war, um falsch zu sein.« Sie sahen sich einfach nur an. Auf seinen Lippen bildete sich ebenfalls ein Lächeln.
Er hätte ihr einfach glauben sollen. »Yorick, ich und Laurel werden noch zu Ma' fahren, kommst du mit, Ray?«, unterbrach Helene die Stille. Sein Kopf fuhr zu ihr herum. »Okay, aber nur kurz. Ich muss um 10 Arbeiten.« Er sah wieder zu Odette. »Du willst arbeiten gehen?«, wollte sie entsetzt wissen. Nickend bejahte er. »Ich brauche das Geld.« Und ohne auf eine Reaktion zu warten trat er durch die offene Haustür nach drinnen.
-
Ray stand gerade in Gang 12 bei den Nudeln und musste eine kaputte Spaghettipackung vom Boden aufsammeln,als ihn jemand von hinten rammte und er sich nur noch gerade so an einem der Regale halten konnte. Die Spaghetti, die er vorher aufgesammelt hatte, fielen ihm dabei wieder aus den Händen. Als er sich endlich wieder gefasst hatte, konnte er nur einen großgewachsenen Mann sehen, dessen braune Kapuze tief in sein Gesicht gezogen war. Und dann bog er auch schon um die Ecke. Ray rannte ihm hinterher, wollte ihn zurecht weisen, dass er gefälligst besser auf passen sollte, wenn er wie ein Kleinkind durch die Gänge rannte, doch alles was Ray sah, war die alte Frau am Gemüsestand. Natürlich war es möglich, dass der Mann in einen der anderen Gänge abgetaucht war, dennoch fand er es ziemlich seltsam ihn nicht entdecken zu können. Hatte der Mann gerade etwa geklaut? In Richtung Kassen war er definitiv gelaufen und Estelle, eine ältere Frau Mitte fünfzig, war die einzige an den Kassen. Er entschied sich dazu, die Nudeln schnell aufzuräumen und dann vorne Nachzufragen, ob der Mann etwas bezahlt hatte oder einfach wieder nach draußen spaziert war. Er bückte sich gerade wieder, um mit dem Kehrblech die feinen kleinen Krümel der Nudeln aufzukehren. »Entschuldigen Sie.« Ray sah nach oben.
Sie lächelte ihn an, dieses unverkennbare Lächeln und diese unverkennbaren Augen. Genauso wie diese unverkennbaren blonden Haaren. Odette stand direkt vor ihm. Die Haare mit einem Haarband aus dem Gesicht gehalten, während ihr kleiner Körper unter einem riesigen braunen Poncho verschwand. Ray richtete sich auf.
In dem hellen Licht der Neonleuchten, konnte er etwas erkennen, was er in zwei Jahren Freundschaft bis jetzt entweder noch nie bemerkt hatte, oder noch nie bemerken konnte, denn winzige Millimeter ihres Haaransatzes waren tiefschwarz. Sie war also gar nicht von Natur aus Blond? Bis jetzt war ihm diese Tatsache wirklich noch nicht aufgefallen, gestern hatte er auch weitaus mehr um die Ohren gehabt, als Ihre Haarfarbe. »Können sie mir sagen, wo ich die Eier finde?« Sie hatte immernoch dieses unglaublich unschuldige Lächeln auf ihren Lippen.
Wie schaffte sie es nur so unbeschwert und ausgeglichen auszusehen, obwohl sie heute morgen noch halb tot ausschaute?
»Odette, was machst du hier?« Sie behielt ihr Lächeln auf den Lippen. »Oh, fremder Mann, woher kennen sie nur meinen Namen? Sind sie etwa ein Verfechter der Hellseherei?« Ihr Lächeln wurde breiter, genauso wie die Faszination, die Ray gegenüber dieser Frau empfand. Wie konnte sie nur so sein, wie sie nun einmal war und wieso beeindruckte Ray das so sehr?
Er kniete sich wieder nieder und kehrte den Rest der Nudeln auf. »Ich bin nur gut im Raten, junge Dame.« Auch wenn dieser Tag rein gar nichts zum Lächeln bot und Ray sich schon seit Stunden den Kopf, über alles was geschehen war, zerbrach, brauchte Odette nur mit ihrer elfenhaften Art anzutanzen und er konnte es kaum verhindern, dass ein Funken Glück in ihm wuchs. Er lächelte sie an. Und sie fing an zu lachen, so wie sie es immer tat und so wie er es immer tat, hörte er ihr mit Vergnügen dabei zu. »Du bist der einzige Mensch, außer meinem Vater, der mit mir solche Witze macht, ohne mich schräg anzusehen.« Sie nickte anerkennend, griff nach unten zu ihren Füßen, wo ein gelber Einkaufskorb stand, den Ray bis jetzt nicht bemerkt hatte. »Das gefällt mir.» Mit diesen Worten ging sie an Ray vorbei, welcher sich nur um seine eigene Achse drehen konnte und ihr hinterher sah. »Und jetzt zeig mir wo die Eier sind. Ich brauche welche.« Natürlich tat er das was sie wollte. Es musste schon irgendetwas unmögliches sein, wie zum Beispiel, dass er ihr einen Mond vom Himmel holen sollte, auch wenn er das liebendgern tun würde, damit er ihr einen Wunsch verweigern würde. »Die Eier sind in Gang sieben.« Er hatte sie aufgeholt und lief jetzt neben ihr her. »Also, sag mir jetzt, wieso du nicht im Bett liegst.«Sie zuckte unbeeindruckt mit den Schultern und bog in Gang sieben ein. »Wie war es bei Anastasia? Durftet ihr sie sehen? War sie wach?« Sie schien gar nicht erst auf Rays Frage eingehen zu wollen. Diese Fragen stellte sie so beiläufig, dass es wieder nur gespielt sein konnte. Sie hielt eine Packung Eier in der Hand,öffnete sie und kontrollierte ob einer der Eier zerbrochen war. Ray sah sie dabei an, prägte sich jedes Detail ein, vorallem den tiefschwarzen Haaransatz, der irgendwie nicht zu ihr zu passen schien und trotzdem so passend aussah. Er wollte nicht an die Bilder von heute Morgen denken. Er wollte dieses verletzliche Bild seiner Ma' aus seinen Gedanken verbannen. Sie hatten ihn tatsächlich zu ihr herein gelassen und sie war natürlich nicht aufgewacht. Auch seine Geschwister waren bei ihr, aber nur einzeln. Er war als letzter dran gewesen, das hatte ihn auch nicht viel ausgemacht. Er hatte nur an ihrem Bett gesessen, ihre Hand gedrückt und sie betrachtet. Wie ihr ettliche Schläuche aus dem Körper hingen und sie teilweise am Leben hielten. Er hatte auch eine ziemlich lange Zeit ihren Kopf angesehen, der von einem Verband umhüllt gewesen war. Die stärkste Frau in seinem Leben sah so verdammt schwach aus und dieses Bild wollte nicht in seinen Kopf rein.
»... wollte, wie es dir geht.« Anscheinend hatte es nichts gebracht, sich Odette anzusehen, um nicht in den Gedanken hängen zu bleiben, denn er hatte nur den letzten Teil ihres Satzes mitbekommen. Aber Odette konnte Ray manchmal besser verstehen, als es irgendwer zuvor getan hatte. »Du hast an sie gedacht, oder?« Ray nickte. Odette verließ den Gang und nahm Kurs auf die Kassen. »Sie sah schlimm aus«,sagt er schließlich, als sie an der Schlange zum stehen kamen, doch Ray blieb nicht bei Odette stehen, sondern ging vorne zu Estelle und übernahm die Kasse für sie. Sie protestierte nicht wirklich viel und ging nach draußen, um eine zu rauchen. Vor Odette standen noch drei andere Kunden, die Ray bediente, nachdem er sich bei der Kasse angemeldet hatte. Als der letzte Kunde vor Odette bezahlt hatte und auch niemand nach ihr dran kommen würde, zog er ihre Eier über den Scanner und sagte:»Ich hab' sie noch nie so zerbrechlich gesehen. Seit ich denken kann, habe ich zu ihr aufgesehen, sie war irgendwie unbesiegbar in meinen Augen und nun ist sie nur ganz knapp ihrem Ende entkommen. « Er musste schlucken und wieder einige Tränen unterdrücken. Er schämte sich nun wirklich nicht dafür, als Junge zu weinen, aber dennoch musste das nun auch nicht in der Öffentlichkeit geschehen. »Das macht Einen Dollar und Achtzig Cent.« Sie nickte, kramte in ihrer Hosentasche herum, die sich irgendwo unter dem Haufen Stoff befand und hielt ihm drei Dollar vor sein Gesicht. »Ich hab' zuhause jedes Erkältungsmittel genommen, das wir da hatten, nur um hier herkommen zu können. Helene hat Laurel, Yorick ist auch bei ihnen. Sie sind nicht alleine und ich wollte nicht, dass du es sein musst.«Sie lächelte entschuldigend. »Ich denke kein Mensch sollte allein sein. Einfach, weil wir dafür nicht gemacht sind.» Sie nahm das Rückgeld von Ray an,machte eine hundertachtzig Grad Drehung und sah mit einem letzten Blick nach Hinten zu Ray.
Estelle kam gerade wieder nach drinnen und wollte wahrscheinlich irgendein Regal füllen, oder ähnliches. »Estelle,kannst du wieder übernehmen? Ich muss noch die Fischdosen auffüllen.« Sie nickte, er meldete sich ab und sie sich wieder an. Als er hinter der Kasse hervortat, sah er auf den Ausgang, aus dem Odette eben noch getreten war. Egal was sie tat, Ray wurde ebenfalls nicht sonderlich schlau aus ihr. Er räumte gerade den Brathering in das oberste Regal, als sein Handy klingelte. Seine Finger fischten es aus der grünen Schürze seiner Arbeitskleidung.
Gardner-Pierce, Odette
zeigte das Helle Display an. Es stellte fast keinen Kontrast zu den grellen Lampen am der Decke dar. Natürlich nahm Ray ab. »Außerdem bin ich gene in deiner Nähe.« Er hatte kaum abgenommen, da sprach sie schon. Auf seinen Lippen tauchte wieder dieses Lächeln auf. Es beängstige ihn beinahe genauso sehr, was er für sie empfand, wie Monster einen kleinen Jungen beängstigen konnten. Er konnte auch das kleine Lachen nicht unterdrücken. »Helene und Yorick wollen heute Abend bei mir und Laurel schlafen. Die beiden wollen nicht unbedingt alleine in der Wohnung bleiben, außerdem ist unser Haus näher am Krankenhaus«,fing Odette an sich zu erklären. Ray hoffte, dass dieses Gespräch in die Richtung ging, in die er vermutete, dass es diese Richtung nehmen würde. »Yorick hat es für selbstverständlich gehalten, dass du ebenfalls hier übernachten möchtest, aber ich wollte einfach einmal nachfragen.« Es war kurz still und Odette schien diese Stille falsch zu verstehen. »Ich meine, nur wenn du willst. Du musst natürlich nicht, aber wenn, dann müsstest du auf der Couch schlafen, oder dir mit Yorick das Gäste Zimmer teilen, oder du könntest auch auf meinem Boden schlafen, oder-«»Wir sehen uns heute Abend, Odette.«Mit einem Lachen verabschiedete Ray sich.
Wir haben wieder endlich mal ein Kapitel zu stande gebracht und ich sprudele quasi über vor Motivation und Ideen. In den nächsten paar Kapiteln wird dann auch endlich der Charakter auftauchen, der diese ganze Geschichte in die Richtung leitet, in die ich sie haben möchte. :) Also bald geht's hier ab. Ganz viel Drama erwartet uns.
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