19 ❤️ Papier ist (un)geduldig
This is the world we live in
And these are the hands we′re given
Use them and let's start trying
To make it a place worth living in
Gedankenverloren machte ich mich auf dem Weg zu meinem Hotelzimmer. Noch vor wenigen Minuten hatte ich das dringende Bedürfnis nach Ruhe verspürt, doch jetzt, wo ich alleine durch den fast ausgestorbenen Korridor wandelte, überkam mich wieder eine eigenartige Einsamkeit.
Es schien, als könnte niemand wirklich begreifen, was nach den gestrigen Ereignissen in mir vorging. Dennoch wusste ich, dass ich den Schmerz und die quälenden Schuldgefühle, die noch immer in mir tobten, auf irgendeine Weise alleine bewältigen musste.
Seufzend verließ ich den Aufzug und begab mich zielstrebig zu meinem Zimmer.
"Tsu."
Überrascht hob ich den Kopf und sah, wie Makoto auf mich zugerannt kam, offenbar sichtlich erleichtert mich zu sehen.
"Ah, hey!", begrüßte ich ihn mit einem mechanischen Lächeln. "Hast du etwa vor meinem Zimmer auf mich gewartet?"
Er nickte zurückhaltend, als er mir gegenüber stand. Seine Arme waren hinter seinem Rücken verborgen, als würde er dort etwas vor mir versteckt halten.
"Ich...wollte wissen, wie es dir inzwischen geht, aber du warst nicht da, als ich heute Morgen vor meinem Dienstbeginn an deine Tür geklopft habe, also bin ich nochmal hergekommen."
"Tut mir Leid. Ich habe bei Kuina übernachtet", erklärte ich knapp.
Er nickte verständnisvoll.
"Das konnte ich mir schon fast denken. Ich hoffe, es geht dir inzwischen besser", wollte er wissen, klang jedoch etwas verunsichert dabei.
"Ja, es geht mir ganz gut", erwiderte ich schnell, da ich noch immer wenig Lust dazu verspürte, über das zu reden, was passiert war. Interessiert schielte ich hinunter zu seinen Armen, die noch immer hinter seinem Rücken lagen. "Was hast du da?", fügte ich daher etwas neugierig hinzu und versuchte, einen Blick hinter ihn zu erhaschen.
"Also...", er zögerte kurz, entschied sich aber dann, den geheimen Gegenstand hervorzuholen und ihn mir zu zeigen.
Ich öffnete etwas überrascht den Mund, als ich erkannte, was es war.
"Ein Zeichenblock?"
"Ja, und ein paar Stifte dazu. Ist nichts besonderes, nur das, was ich auf die Schnelle auftreiben konnte."
Erstaunt legte ich die Stirn in Falten.
"Für mich?"
"Ja, w-weil...ich dachte, weil...das Zeichnen hat dir immer geholfen, dich zu entspannen und deine Gedanken zu ordnen", stammelte er etwas nervös.
Seine Wangen waren ein wenig rot angelaufen, als er darauf wartete, dass ich die Sachen entgegennahm.
Trotz meiner düsteren Stimmung entwischte mir ein leises Kichern, als ich ihn so schüchtern sah. Das war so typisch für ihn und einer der Gründe, weshalb ich mich damals Hals über Kopf in ihn verliebt hatte.
"Danke, das ist süß von dir", sagte ich und nahm ihm den Skizzenblock und das braune Federmäppchen ab.
Sein Gesicht hatte jetzt einen fast dunkelroten Farbton angenommen, während er sich etwas verlegen am Hinterkopf kratzte.
"Gern geschehen", murmelte er leise. "Und, falls du reden willst..."
"...dann weiß ich, wo ich dich finde", vervollständigte ich seinen Satz und lächelte sanft. Diesmal war es ein aufrichtiges Lächeln.
Makoto erwiderte es und mir wurde automatisch ein wenig wärmer ums Herz. Womöglich hatte ich ihn mehr vermisst, als ich mir bisher eingestehen wollte.
"An deiner Tür hängt übrigens eine Nachricht von Hatter", sagte er und wandte sich dann zu der besagten Tür um, um es mir zu zeigen.
Ich folgte seinem Blick zu dem riesigen Zettel, der dort angeheftet war und trat etwas näher an ihn heran, um ihn zu lesen:
Liebe Izumi-san,
Komm zu meiner Suite, sobald du das hier liest.
Gez. Hatter
"Was will der denn schon wieder von mir?", stöhnte ich missmutig und riss den Zettel mit einem kurzen Ruck von der Tür ab.
"Nun ja, auch wenn es dir nicht gefällt. Du solltest lieber hingehen", sagte Makoto in besorgten Tonfall.
"Sonst was? Lässt er mich dann von seinen Lakaien umbringen?", knurrte ich und zerknüllte das Papier wutschnaubend in meiner Hand.
"So weit würde ich vielleicht nicht gehen, aber es ist besser, ihn nicht zu verärgern. Vermutlich geht es um dein Spiel gestern. Da es das Erste ist, seit du hier im Beach bist, wird es meistens als eine Art Eignungstest betrachtet."
Mir blieb aber auch gar nichts erspart. Noch jemand, der mit mir über die Ereignisse sprechen wollte. Von allen Personen im Beach war er vermutlich der Letzte, mit dem ich darüber reden wollte. Doch offensichtlich hatte ich keine andere Wahl, wenn ich hier bleiben wollte.
"Schön, dann werde ich mich mal in die Höhle des Löwen wagen, was?", sagte ich mit dem Anflug eines Grinsens auf den Lippen.
"Ich muss sowieso wieder runter in die Küche. Vielleicht können wir uns ja später nochmal treffen?", fragte er und musterte mich dabei erwartungsvoll.
"Ähm ja, ich komme zu dir, sobald es passt."
Vermutlich war das ein Versprechen, das ich nicht einhalten würde, aber ich wollte ihn in diesem Augenblick ungern enttäuschen.
Ein erleichtertes Lächeln erschien auf seinen Lippen, bevor wir uns mit deutlicher Distanz voneinander verabschiedeten. Manchmal war es seltsam, dass wir kein Paar mehr waren. Stattdessen mussten wir nun versuchen Freunde zu sein. Und das, obwohl der Grund, weshalb ich mich damals von ihm getrennt hatte, in Borderland nicht mehr existierte.
Vielleicht war das hier eine Chance für uns neu anzufangen. Makotos Reaktionen nach schien es zumindest genau das zu sein, was er sich erhoffte, seit wir uns hier wieder getroffen hatten. Alleine die Tatsache, dass er für mich Zeichenutensilien aufgetrieben hatte, zeigte mir, dass er entschlossen dazu war, mich zurückzugewinnen.
Allerdings war ich noch unschlüssig, ob ich überhaupt zurückerobert werden wollte. Jetzt, wo ich wusste, wie schnell es in dieser Welt zu Ende sein konnte, war es sicherlich nicht die beste Idee, sein Herz an jemanden zu verschenken.
Tief in Gedanken berührte ich den goldenen Anhänger um meinen Hals und ließ ihn kurz durch meine Finger gleiten.
♡
Als ich den Korridor in der obersten Etage betrat, war es, als würde ich eine völlig andere Sphäre betreten. Die Wände waren mit edlem rotbraunem Holz vertäfelt, vermutlich Mahagoni und der Boden war mit glänzendem Parkett ausgelegt.
An der Decke hingen protzige Kronleuchter, die funkelten wie tausend Diamanten und den Weg zur Königssuite hell erleuchteten. Die breiten, verschnörkelten Flügeltüren, die den Eingang markierten, wurden von üppigen exotischen Pflanzen gerahmt.
Alles, was noch zu fehlen schien, war jemand, der einen roten Teppich vor mir ausrollte, aber dafür müsste man wohl Hatter heißen.
Mit jedem Schritt, den ich auf die prunkvolle Tür zutrat, wuchs in mir das Gefühl von Unbehaglichkeit. Eine geraume Zeit starrte ich auf die kleinen, kunstvoll gearbeiteten Schnitzereien, mit denen die Tür verziert war, unfähig dazu, meine Hand zu heben und anzuklopfen. Stattdessen musste ich an meine letzte unangenehme Begegnung mit diesem Mann denken, in der er mich wie in einem Verhör ausgequetscht hatte, ganz zu Schweigen von den unterschwelligen Erspressungsversuchen. Letztes Mal jedoch hatte ich genug Alkohol im Blut gehabt, um meine Nervosität zu kompensieren. Dieses Mal jedoch war ich ihr vollkommen schutzlos ausgeliefert.
Allerdings tat ich mir selbst keinen Gefallen, wenn ich dieses Treffen länger herauszögerte, also nahm ich all meinen Mut zusammen und klopfte vorsichtig gegen das massive Holz.
Nur wenige Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Kurzzeitig war ich starr vor Schreck. Vor mir stand der seltsame Glatzkopf mit den auffälligen Gesichtstattoos und dem Katana, das er sogar jetzt auf seinem Rücken trug.
Er musterte mich misstrauisch von unten bis oben und ein unangenehmer Schauer lief mir währenddessen den Rücken hinunter. Es war nicht einmal sein sonderbares Aussehen, das mir Angst einflößte, sondern sein unangenehmes, fast wahnhaftes Starren.
"Also, Hatter hat mich hierher zitiert", erklärte ich und versuchte dabei, einen selbstbewussten Ton anzuschlagen. Der Kerl nickte nur knapp und trat dann wortlos beiseite, um mich einzulassen.
Hatte der seine Zunge verschluckt oder was?
Eilig ging ich an ihm vorbei, innerlich noch immer mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Ich hielt einen Moment inne und wartete, bis Tattoogesicht die Tür wieder hinter uns geschlossen hatte, damit er vorausgehen und mir den Weg weisen konnte. Ich lächelte nervös, als er mich erneut skeptisch von der Seite beäugte, beinahe so, als hätte ich vor, ihm einen Kerzenleuchter über den Kopf zu ziehen. Das wäre zumindest die einzig annähernd nützliche Waffe, die ich in dieser Umgebung ausmachen konnte.
Der Korridor war nur ein Vorgeschmack auf das gewesen, was mich in den Räumlichkeiten der Kingssuite erwartete. Die Suite erstreckte sich über die gesamte Etage und schrie förmlich nach Luxus. Goldverzierte Lampen, weiße elegante Vorhänge und mahagoniverkleidete Decken prägten das Gesamtbild.
Tattoogesicht geleitete mich zu einer eleganten Treppe mit einem Marmorgeländer, welche zu einer opulenten Sitzlandschaft aus Lederpolstern hinabführte. Er blieb oberhalb der Treppe stehen. Anscheinend sollte ich alleine weitergehen. Ich nickte zaghaft und spürte dann deutlich, wie mein Puls sich beschleunigte, als ich die Stufen hinabstieg.
Etwas irritiert sah ich mich in den Räumlichkeiten um. Niemand war zu sehen. Allerdings hörte ich etwas... ein langgezogenes Stöhnen drang an meine Ohren. Die Stimme war unverkennbar weiblich und schien von der hinteren Tür zu kommen, die, wie ich schnell feststellte, nur leicht angelehnt war.
Himmel, er hatte doch nicht gerade....
Doch als ich ein metallisches Klappern vernahm, war ich mir sicher, dass Hatter gerade alles andere als bereit war, Besucher zu empfangen.
Unangenehm berührt wandte ich mich wieder an Tattoogesicht, der noch immer unbeweglich auf der Empore oberhalb der Treppe verharrte und mir den Rücken zugekehrt hatte.
"Vielleicht sollte ich lieber später nochmal wiederkommen. Er scheint gerade mit anderen Dingen beschäftigt zu sein", sagte ich hastig und sprintete die Treppen wieder nach oben.
Doch bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte Tattoogesicht sich aus seiner Starre gelöst, sein Katana gezückt und mir die scharfe Klinge gegen meine Kehle gedrückt. Mit aufgerissenen Augen wich ich vor ihm zurück.
"Du wirst bleiben", säuselte er mit einer Stimme, die mich an das unangenehme Geräusch von kratzenden Fingernägeln an einer Schultafel erinnerten.
Ich hob etwas hilflos die Hände nach oben.
"Oo-kay, s-sicher", stammelte ich und stolperte rückwärts wieder die Treppe hinunter.
Von Gastfreundschaft schienen diese Leute nicht sonderlich viel zu halten.
Zögerlich begab ich mich wieder zu einem der Sofas und ließ mich etwas frustriert in das weiche Lederpolster sinken. Bei so einem herzlichen Empfang konnte ich auf meine höflichen Manieren auch gut verzichten.
Das Gestöhne und das unnachgiebige Poltern wurden wieder lauter. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich behaupten, dass es mindestens zwei Frauenstimmen waren, die aus dem vermeintlichen Schlafzimmer drangen.
"Mhmmm, das fühlt sich gut an, Babe", vernahm ich nun deutlich Hatters tiefe Stimme. "Nicht aufhören!"
Ich rollte mit den Augen. Nicht zu fassen, dass ich hier saß und darauf warten musste, bis dieser Aufreißer endlich fertig war mit seinem morgendlichen Schäferstündchen. Als hätte ich auch nichts besseres zu tun, als ihm dabei zuzuhören, wie diese Frauen an ihm herumsabberten.
Genervt stand ich auf und ging zu dem langen Tisch, der sich vor der Fensterfront ersreckte und auf dem ein üppiges Frühstücksbuffet angerichtet war, inklusive einer beeindruckenden Anzahl an alkoholischen Getränken.
Das Buffet beinhaltete Sachen, die ich, seit meiner Ankunft in dieser Welt nicht mehr gegessen hatte, insbesondere eine riesige Obst- und Gemüseplatte, von der ich mir eine Weintraube und ein paar Erdbeeren stibitzte. Ich seufzte leise auf, als sich der süße Geschmack auf meiner Zunge ausbreitete. Ich hatte fast vergessen, wie lecker frisches Obst sein konnte.
"Ich sehe, du hast dich schon bei mir eingelebt."
Panisch wirbelte ich herum und spürte, wie mein Atem stockte, als sich ein Stück Erdbeere unerwartet in meine Luftröhre schob. Reflexartig hustete ich auf.
Als ich mich wieder gefangen hatte, standen mir Tränen in den Augen. Hatter stand vor mir, seinen Morgenmantel flüchtig über die Schultern geworfen und offenbarte mir seinen nackten Oberkörper. Zu meiner Erleichterung trug er unter dem Yukata seine Badeshorts. An seinem Hals und seinen Lippen konnte ich verschmierte Überreste von rotem Lippenstift erkennen.
"Du hättest doch nicht warten müssen, Izumi. Im Bett wäre sicher noch ein Plätzchen für dich frei gewesen", grinste er großspurig und pflückte sich eine Weintraube ab, um sie sich in den Mund zu stecken.
Es fiel mir zugegeben schwer meinen widerstrebenden Gesichtsausdruck zu verbergen und stattdessen eine neutrale Miene aufzusetzen.
"Danke für das Angebot, aber ich stehe nicht so auf... ältere Männer."
Ich biss mir schnell auf die Zunge.
Hatte ich das wirklich laut ausgesprochen?
Zu meiner Überraschung lachte Hatter jedoch.
"Das verletzt mich zwar ein bisschen, aber immerhin bist du ehrlich. Das gefällt mir", entgegnete er in unbeschwertem Ton und machte dann eine ausschweifende Handbewegung Richtung Sofa. "Setzen wir uns doch."
Ich nickte und ließ mich erneut auf das kalte Leder nieder, während Hatter sich einen Drink einschenkte.
"Auch etwas? Ich habe eine große Auswahl", bot er mir großzügig an.
Ich schüttelte schnell den Kopf. Diesmal wollte ich auf der sicheren Seite sein und einen klaren Verstand behalten.
"Du scheinst nicht gern zu trinken, was?", fragte er und ließ sich mit seinem Whiskyglas in der Hand mir gegenüber auf das Sofa fallen.
"Kommt auf die Situation an", entgegnete ich vage. "Aber die wenigsten Menschen fangen damit schon kurz nach dem Frühstück an."
"Nun, ich hätte dir Recht gegeben, wenn wir noch in unserer Welt wären, aber hier, an diesem Ort, wo jeden Tag unser letzter sein könnte, habe ich mir angewöhnt, das Leben in vollen Zügen zu genießen, sodass ich ohne Reue sterben kann. Cheers", er hob sein Glas und prostete mir zu, obwohl ich selbst nichts zu trinken hatte.
Ich verzog meine Lippen zu einem affektierten Lächeln.
"Warum haben Sie mich herbestellt?", wollte ich nun von ihm wissen. Schließlich war ich nicht hergekommen, um einen netten Plausch mit ihm zu halten.
Er seufzte schwer und stellte das Glas dann vor sich auf dem Tisch ab. Seine Miene war jetzt deutlich ernster als zuvor.
"Ich habe heute Morgen von deinem gestrigen Spiel erfahren. Es war dein erstes, seit du bei uns hier im Beach bist und daher habe ich immer jemanden unter meinen Leuten, der ein besonderes Auge auf die Neuen wirft und sich ein Bild von ihren Fähigkeiten in den Spielen macht. Schließlich wollen wir ja nicht die Katze im Sack kaufen, wenn du verstehst, was ich meine."
Ich nickte stumm, denn es bestätigte nur das, was Makoto mir zuvor erzählt hatte.
"Vermutlich sollte ich dir gratulieren, denn du hast den Eignungstest bestanden. Ich muss sagen, das war ein wirklich nervenzerreißendes und außergewöhnliches Spiel, wenn man dem glauben kann, was mir berichtet wurde. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass eine blutige Anfängerin ein Herz-8-Spiel überlebt. Und dann auch noch als die tragische Hauptfigur. Hach, ich wäre zu gern dabei gewesen", fügte er mit einer Spur Wehmut hinzu und lehnte sich weit zurück in das Polster.
Ich senkte nur betreten den Kopf und versuchte, gegen den tosenden Sturm anzukommen, der sich in meinem Inneren zusammenbraute. Meine Fingernägel krallten sich in meine Knie und es fiel mir schwer, meine wahren Emotionen in diesem Moment zu unterdrücken. Ich schluckte schwer und rang nach Worten.
Die Anwesenheit von Hatter und die Erinnerungen an das Spiel lösten eine unheimliche Beklemmung in mir aus.
Mühevoll versuchte ich, mich zu sammeln.
"Ich... ich wusste nicht, was auf mich zukommt. Ich wollte einfach nur überleben. Das Spiel war furchtbar. Ich habe Menschen in den Tod geschickt und gesehen, wie sie auf grausame Art gestorben sind. Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt und ich denke nicht, dass es etwas ist, wofür ich Anerkennung verdiene", presste ich mit bebender Stimme hervor.
Hatter musterte mich einen Moment, und ein Hauch von Mitleid glomm in seinen Augen auf, bei dem ich mir unsicher war, ob es gespielt oder echt war.
"Das verstehe ich, Izumi. Das Borderland ist ein unbarmherziger Ort, und wir alle kämpfen um unser Überleben. Aber du hast den Test mit Bravour bestanden und das Spiel gewonnen. Alles andere ist hier vollkommen unwichtig. Deine Taten sind vergeben und vergessen."
Ich schnaubte verächtlich.
"Was genau wollen Sie von mir? Warum haben Sie mich hierher bestellt? Doch nicht nur, um mir mitzuteilen, dass ich mich gut geschlagen habe, oder?"
Es fiel mir schwer, den bissigen Unterton in meiner Stimme zurückzuhalten. Wut brodelte unterschwellig in mir und mit jeder Sekunde fiel es mir schwerer sie zu unterdrücken.
"Nun, Izumi, wie du sicher schon längst mitbekommen hast, bin ich hier derjenige, der das Sagen hier im Beach hat und auch die Regeln macht. Ich, als euer Anführer, bin stets auf der Suche nach guten Spielern, denn diese sind für unsere Gemeinschaft von unschätzbarem Wert. Schließlich geht es darum, das Kartendeck zu vervollständigen und in unsere Welt zurück zu kehren. Damit meine Spieler allerdings auch weiterhin gute Arbeit leisten, müssen sie natürlich auch angemessen belohnt werden."
Seine Spieler. Alles klar.
Er machte eine dramatische Pause, als würde er auf irgendeine sichtbare Reaktion meinerseits hoffen. Doch stattdessen schien er auf etwas ganz anderes zu warten. Wie aus dem Nichts tauchte eine junge Frau in einem hautengen Bikini neben ihm auf und ließ sich neben Hatter auf dem Sofa nieder. Sofort schmiegte sie sich eng an ihn heran, während er seine Hand ungeniert auf ihren Po legte, als wäre es das Normalste auf der Welt.
Ich konnte mir es nicht nehmen lassen, genervt die Augen zu verdrehen. Doch dann sah ich wie sie sie ihm etwas reichte - ein blaues Plastik-Armband.
"Danke dir, Babe", raunte er und strich dabei zärtlich durch ihr langes rötliches Haar.
Sie kicherte leise und streichelte dann liebevoll über seine behaarte Brust. Ich wande meinen Blick unwillkürlich ab. Noch etwas länger und würde ich mein Frühstück heute vermutlich nochmal sehen.
"Das hier ist deine Belohnung", er hielt das Plastikarmband triumphierend nach oben, bevor er es über den Couchtisch zu mir hinüber schob.
"Noch ein Armband?", fragte ich stirnrunzelnd.
"Ein Neues im Austausch gegen das Alte. Du steigst ein paar Ränge auf. Herzlichen Glückwunsch, Izumi."
Er griff erneut nach seinem Glas und schwenkte die klirrenden Eiswürfel darin hin und her. Immer noch etwas ungläubig starrte ich auf das Armband, das vor mir auf dem Tisch lag.
"Nur zu", ermunterte er mich, während die Frau an seiner Seite ihre Hände an Stellen seines Körpers wandern ließ, die ich lieber nicht explizit benennen wollte.
Zögerlich griff ich danach und betrachtete skeptisch die Nummer, die auf dem Plastikchip aufgedruckt war.
31.
Eine Zahl, die meinen Fortschritt im Beach dokumentierte - ein überaus zweifelhafter Erfolg. Ich wurde für etwas ausgezeichnet, für das ich mich selbst abgrundtief hasste und das ich am liebsten für immer aus meiner Erinnerung gelöscht hätte. Diese Ironie ließ mich beinahe auflachen.
Währenddessen schien Hatter von der jungen Frau abgelenkt zu sein, die nach wie vor an seiner Seite verharrte, als wäre sie eine lebende Trophäe. Mein Ärger über diese bizzare Situation wuchs. Doch bevor ich mich wieder an Hatter wenden konnte, riss er mich erneut aus meinen Gedanken.
"Ich dachte, da es ein Herz 8- Spiel war, wären 8 Ränge angemessen."
"Danke", brachte ich widerwillig hervor.
Ich befreite mich von dem alten Armband, und legte dann das andere an meinem Handgelenk an. Das kalte, schmucklose Plastik, das meine Haut berührte, fühlte sich wie eine neue Fessel an, die mich stumm für meine vergangenen Taten verurteilte und mich unaufhörlich an das erinnerte, was ich am liebsten in den Tiefen meiner Seele vergraben hätte. Aber an diesem düsteren Ort schien ich keine andere Wahl zu haben, als mich ihren Spielregeln zu unterwerfen, wenn ich weiterleben wollte, egal wie sehr mich quälte, was ich in Zukunft noch tun würde müssen.
In diesem Moment spürte ich die Schwere meines eigenen Herzschlags, der wie eine düstere Melodie in meiner Brust pochte. Ich war hin- und hergerissen.
Auf der einen Seite sehnte ich mich nach Freiheit und Unabhängigkeit, auf der anderen Seite war da der unbeugsame Wille, zu überleben. Das Leben im Borderland schien mir keine andere Wahl zu lassen, selbst wenn es bedeutete, gegen meine eigenen Prinzipien zu verstoßen.
Hatter lächelte zufrieden.
"Sehr klug, Izumi. Du wirst bald feststellen, dass diese Ränge in unserem kleinen Paradies hier viel bedeuten. Sie bringen dir Privilegien und Macht, also gib weiterhin dein Bestes, um dich weiter nach vorne zu bringen."
"Wie aufregend", bemerkte ich mit einem Hauch von Zynismus. "Gibt es noch etwas, das Sie von mir wollen?"
Er ließ seinen Blick nachdenklich zu mir schweifen.
"Nun, ich denke, das war alles, meine Liebe", sagte er vollkommen unbekümmert, doch seine Aufmerksamkeit war schnell wieder bei seiner weiblichen Begleitung, die wie Kaugummi an ihm zu kleben schien und ihre Liebesmale auf seinem Hals hinterließ.
"Gut, dann werde ich jetzt gehen. Danke für das Gespräch und die... Belohnung", sagte ich, stand abrupt auf und eilte aus dem Raum, ohne auf eine Antwort zu warten.
Die Enge, die mich in Hatters Gegenwart ergriffen hatte, ließ nicht locker. Ich wollte einfach nur weg, aus dieser seltsamen und beunruhigenden Atmosphäre. Tattooschädel starrte mir mit einem unheimlichen Blick hinterher, hielt mich diesmal allerdings nicht von meinem Vorhaben ab die Königssuite hinter mir zu lassen.
Mit schnellen Schritten kehrte ich zurück zu meinem Hotelzimmer, das für einen Moment wie ein sicherer Hafen wirkte. Ich war erleichtert, dieser absurden Begegnung mit Hatter und seiner Begleitung entkommen zu sein.
Eilig schloss ich die Tür hinter mir und atmete tief durch. Endlich konnte ich mich wieder in meiner vertrauten Umgebung entspannen. Oder zumindest soweit entspannen, wie es in dieser Welt möglich war.
Meine Füße trugen mich fast automatisch zu dem Tisch, wo noch immer der Zeichenblock lag, den ich vorhin dort zurückgelassen hatte. Als ich ihn in die Hand nahm, betrachtete ich ihn nachdenklich. Vielleicht hatte Makoto Recht. Das Zeichnen könnte mir helfen, zumindest vorübergehend von den schrecklichen Ereignissen abzulenken. Doch dieser finstere Raum war nicht der richtige Ort dafür. Ich sehnte mich nach Helligkeit und Ruhe, nach einem Ort, der meine Kreativität beflügelte.
Doch wo konnte ich in diesem Hotel so einen Ort finden? Die Poolanlagen waren um die Uhrzeit zwar längst nicht so überfüllt wie am Abend, aber trotzdem waren dort für meinen Geschmack noch immer zu viele Menschen unterwegs. Dann jedoch erinnerte ich mich an etwas.
Entschlossen schnappte ich mir meine Zeichensachen und verließ dann beinahe fluchtartig mein Zimmer, um zum Aufzug zu gelangen. Dort angekommen, drückte ich auf den obersten Knopf in der Reihe. Ratternd setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung.
Als die Türen sich mit einem leisen Bing wieder öffneten, schlug mir sofort eine angenehme warme Brise entgegen. Ich atmete unwillkürlich tief ein und sofort breitete sich eine harmonische Ruhe in mir aus. Prüfend sah ich mich auf dem Dach des Hotels um und freute mich darüber keine Menschenseele anzutreffen. Es war der ideale Ort, um meine Gedanken zu sortieren und den Kopf frei zu bekommen.
Eine Windböe kam auf und zerrte an meinen Haaren. Zugegeben war es ein bisschen windig hier oben, aber dennoch, als ich am Rande des Gebäudes stand, war ich so überwältigt von dem Anblick, dass ich kaum den Mund wieder zubekam. Die Aussicht, die sich vor mir wie ein Panorama erstreckte, übertraf sogar den Ausblick von Kuinas Balkon. Der Wind trug das beruhigende Rauschen des Meeres zu mir und selbst die Musik, die unten von den Pools kam, war von hier aus nur noch ein leises Flüstern in der Ferne.
Ohne lange zu Zögern ließ ich mich an der Dachkante nieder, die Beine über der niedrigen Mauer baumelnd, den Blick immer noch auf das intensive Blau des Meeres gerichtet. Der Wind auf meiner Haut fühlte sich wie ein zartes Streicheln an, das mein Gemüt nach dem seltsamen Aufeinandertreffen von vorhin, sofort ein wenig besänftigte.
Für einen kurzen Moment fühlte ich einen innerlichen Frieden, so wie ich ihn seit langer Zeit nicht mehr verspürt hatte. Doch meine Gedanken drifteten schnell wieder zurück zu den blutigem Szenen von gestern. Das Echo der Toten hallte noch immer in mir nach, als würden ihre Geister wollen, dass ich sie für immer in Erinnerung behielt. Ich kniff fest die Augen zusammen und versuchte mir die Ohren zu zuhalten, als würde das helfen die Schreie zu unterbinden.
Mit bebenden Händen griff ich nach meinem Zeichenblock und dem Bleistift, bereit, mich endlich abzulenken vonnden Ereignissen. Minutenlang starrte ich auf das leere Blatt, den Stift schon in der Hand, doch mein Kopf war schlagartig genauso leer wie das weiße Rechteck vor mir.
Doch dann beschloss ich einfach, mich von meiner Intuition und meinen Gefühlen leiten zu lassen. Der Stift kratzte leicht über das raue Papier. Meine Hand begann gedankenlos, Kritzeleien auf das Papier zu bringen, Linien und Formen ohne klare Bedeutung. Ich versuchte, den Stift zu führen, ohne nachzudenken. Doch nach einiger Zeit fand mein Bewusstsein eine Richtung, und ich erkannte, dass ich ihn gemalt hatte.
Die Details waren erstaunlich präzise: sein selbstgefälliges Lächeln, seine intensiven Augen und die feinen Linien seiner markanten Gesichtszüge. Ich erstarrte bei dem Anblick und spürte einen unkontrollierten Zorn in mir aufsteigen.
Warum ausgerechnet er?
"Verschwinde doch einfach aus meinem Kopf", fluchte ich.
Wütend zerknüllte ich das Blatt Papier in meiner Hand, die Linien und Schatten von Chishiya verblassten und wurden zu einem wirren Knäuel, das ich gedankenlos beiseite warf.
Mit einem tiefen Seufzer legte ich den Zeichenblock beiseite und starrte wieder auf das weite, blaue Meer vor mir, während erneut eine Windböe aufkam.
Ein leises Rascheln ließ mich jedoch augenblicklich innehalten. Der Papierball neben mir hatte sich in Bewegung gesetzt und rollte von der Mauer hinab. Ich fuhr herum und versuchte noch, ihn rechtzeitig zu erwischen, doch er war schneller und wurde vom Wind weiter über das Dach befördert. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig an dem Vorsprung festklammern, bevor ich bedrohlich ins Schwanken geriet.
Als ich wieder aufsah, weiteten sich entsetzt meine Augen. Eine Person mit weißer Jacke hatte gerade das Dach betreten. Das Papierknäuel rollte munter weiter und stoppte genau vor seinen Füßen. Mein Herz blieb bei dem Anblick beinahe stehen.
"NICHT ANFASSEN!", schrie ich hysterisch. Doch noch bevor meine Worte verhallten, beugte sich Chishiya nach unten, um danach zu greifen. In dem Augenblick versagten meine Arme, und ich verlor das Gleichgewicht.
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