Chapter 6


Das bretternde Gefährt zertrümmerte Joahs rechte Armkomponete zwischen dem steinernen Asphalt und dem abgenutzten Gummi des rotierenden Reifens. Wie Glas zerbrachen seine synthetischen Knochen unter dem massiven Gewicht und die Verbindung zum Rest des Körpers wurde unverzüglich gekappt.
Zwar konnte er keinen wahren Schmerz spüren, der Schock jedoch ergriff den Androiden dafür umso mehr. Das Trauma bildete einen dichten Nebelschwall, der seinen Verstand mehr und mehr verschlang.

Rechte Armkomponente beschädigt.
Thiriumleck registriert.
Umgehende Reparatur benötigt.

In wellenartigen Schüben verschwand seine Sicht für wenige Sekunden und wurde dann plötzlich unerträglich scharf, sodass er vereinzelte Regentropfen auf ihrem Weg zum Erdboden beobachten konnte. Ohne jeglichen Orientierungssinn schmiss er den Kopf hin und her, bis sein Blick an seinem Arm, beziehungsweise dessen zurückgebliebene Trümmern, hängen blieb.
"Fuck", keuchte er atemlos. Die Kiefer aufeinandergepresst versuchte er vergeblich, seinen Arm zu bewegen. Seine Schulter ließ sich anheben, sein Arm jedoch hing derweil tot herunter wie eine Blüte am gebrochenen Stiel. Erst jetzt entkam seiner Kehle ein markerschütternder Schrei, der sogar das einschüchternde Donnergrollen übertönte.
Seine Augen verfolgten jeden Tropfen seines blauen Blutes, wie es aus seinem zermalmten Körperteil strömte und die Pfützen auf dem Asphalt in ein tiefes Blau färbte.

"Joah!".
Als wären seine Ohren gefüllt mit Wasser, drang der Schrei kaum zu ihm hindurch. Für den Blauhaarigen erschien er nur wie eine Halluzination, ein Traum. Millionen pechschwarze Pixel überschwemmten seine Sicht, ersetzten das klare Bild des Nachthimmels. Die Umgebung um ihn herum verschwamm schleichend und die Dunkelheit nahm stattdessen ihren Platz ein.
"Joah!", erneut rief jemand seinen Namen. Voll Angst.
Sein System begann runterzuzählen, ihm seinen baldigen Todeszeitpunkt zu offenbaren. Plötzlich zerrte jemand an seinem triefendem Oberteil, schliff seinen malträtierten Körper über den rauen Untergrund. Schmale Finger legten sich um seinen kaputten Arm, drehten, drückten und zogen an ihm herum.
"St-Stopp.", flehte Joah, ohne dass ein Ton seine bebenden Lippen passierte. Wie aus dem Nichts hörten auf einmal alle Warnungen auf.

Thiriumaustritt gestoppt.
Systeme werden reguliert.
Energiesparmodus eingeschaltet.

Wie vom Blitz getroffen schnellte Joah auf. Kerzengerade saß er dort, die Augen ins Unermessliche aufgerissen. Seine Brust hob und senkte sich in großen Abständen, und obwohl er keinen Sauerstoff brauchte, nahm er tiefe Atemzüge. Da sich nun auch seine Sicht wieder regulierte, erkannte er eine zierliche, vor ihm knieende Silhouette. Trotz der Dunkelheit konnte er diese als Coby identifizieren, denn seine LED flackerte in einem grellen Rot an seiner Schläfe. Neben den Regentropfen kullerten Tränen seine Wangen hinunter und tropften gemeinsam mit diesen herunter. Ein heftiges Zittern brachte seinen gesamten Torso sichtlich zum Beben und in seinen Händen befanden sich die Überreste von Joahs Arm.

"Ich musste die Blutung stoppen, es hat einfach nicht aufgehört und du hättest d-dich ab-".
"Danke.", mehr musste und konnte Joah nicht sagen.
Zögernd wanderte der Blick des geschwächten Jungen zu seiner Schulter hinunter. Übrig geblieben war nur ein kleiner Stumpf seines Oberarms, mit offenen Verbindungstellen. Jedoch fiel kein Tropfen seines Blutes mehr heraus. Coby hatte das kaputte Teil demontiert und ihm somit das Leben gerettet. Damit die Androiden bei Reparaturen nicht ständig ihren wertvollen Treibstoff verlieren, wird bei der Demontage automatisch die Blutversorgung in die betroffene Komponente unterbrochen.

Das Trauma hatte ihn in Ketten gelegt, sodass er im Gegensatz zu Coby keine emotionale Reaktion zeigen konnte. Zudem war er zu geschwächt vom Blutverlust. Erst nachdem sein Geist und Körper wieder einigermaßen heruntergekommen waren, bemerkte er, dass Coby ihn auf die andere Straßenseite gezogen haben muss. Er hatte ihn sicher auf den Gehweg gebracht, und das, obwohl er viel schmächtiger war als Joah.
"Wie hast du es geschafft, mich hierhin zu schleifen?", hauchte Joah geschwächt, seine trüben Augen richteten sich auf sein Gegenüber.

Zitternd, als würde er unter Strom stehen, legte der JC500 den kaputten Arm nieder und schüttelte ahnungslos den Kopf.
"Ich weiß es nicht. Das Auto ist auf dich zugerast.. und... Du... Du wärst... Wenn ich nicht-", er stolperte und stolperte über eine eigenen Worte, schien selbst nicht recht zu wissen, was er überhaupt ausdrücken wollte. "Ich m-musste dich in Sicherheit bringen. Davor und danach ist alles so... Schwarz.".
Die nackte Panik stand Coby noch immer auf die Stirn geschrieben. Joah antwortete ihm bloß mit einem verständnisvollen Kopfnicken und rutschte näher an den verängstigten Roboter heran. Sanftmütig legte er seine verbliebene Hand auf Cobys. Dann begann er, ganz zart und leicht, mit seinem Daumen über seinen feuchten Handrücken zu streichen. Erst jetzt, als der Schock nachgelassen hatte, erinnerte er sich an das Geschehen vor dem Zusammenstoß mit dem Fahrzeug. Er hatte befürchtet, Coby hätte sich bereits abgeschaltet. Weshalb sonst hätte er plötzlich so starr werden sollen? "Warum bist du vorhin erstarrt? Ich dachte, du hättest dich abgeschaltet.", stieß der Blauhaarige kraftlos hervor.
"Ich erzähle es dir, wenn wir beide in Sicherheit sind.", erwiderte Coby, sein Blick wurde für einen Moment wieder abwesend.

Coby lächelte dann schwach und drehte seine Hand, um seine Finger mit Joahs zu verschränken. Auch wenn er kürzlich erst eine Komponente verloren hatte und sie sich in irgendeiner zugemüllten Gasse verkriechen mussten, zählte für Joah nur der Zusammenhalt. Dass sie all diese Schicksalsschläge gemeinsam durchstanden. Weit weg von Brad. Von dem Zorn, der Rastlosigkeit und Gewalt. Coby mochte vielleicht nie mehr seine Erinnerung an das 'Davor' zurückerlangen, aber Joah wusste, dass er all das nachholen konnte. Wenn die Zeit reif war.

Nun, da die Angst um das nackte Überleben abklang, fuhr Joah die Schwäche erst richtig in die Gliedmaßen. Der Thiriumgehalt in seinem Körper war bedrohlich gering und er brauchte schleunigst neues Blut, um sich zu erholen. Wie ein Mensch brauchte er es um zu funktionieren. Androiden schöpfen ihre Kraft aus ihm, es war ihr Treibstoff und ohne es drohte die Deaktivierung. Die Beschädigungen ließen ihn langsam zusammensacken und er drohte, nach hinten zu kippen. Coby reagierte schnell und packte ihn an seinen Schultern, so konnte er ihn behutsam auf den Rücken legen. Der Regen hatte nachgelassen und die unheilvollen Regenwolken verzogen sich schließlich. Der Mond schien in seiner vollen Pracht und erhellte die Gasse mit seinem bläulichen Licht.

"I-Ist alles in Ordnung?", erkundigte sich der Dunkelhaarige voll Angst, lehnte sich dabei über Joah.
"Ja, ich bin nur geschwächt und wir brauchen dringend einen besseren Unterschlupf. Versteh mich nicht falsch. Der Bordstein ist exquisit, aber hier wird man leicht entdeckt.". Joah war schon wieder dabei, Witze zu reißen. Selbst in den misslichsten Lagen zog sich sein innerer Witzbold keineswegs zurück.
Ein halbherziges Kichern ertönte und Coby nickte zustimmend.
"Stimmt, aber du musst dich ausruhen. Und du brauchst Thirium. Hatten wir nicht- oh verdammt.", er stoppte inmitten des Satzes. Vor lauter Verärgerung schlug er sich die Handfläche an die Stirn und fluchte leise vor sich hin.

Nun war Joah der, dessen Gesichtsausdruck vor Sorge schwerer wurde. "Was ist los?".
"Wir hatten Thiriumbeutel aus Brads Wohnung in die Tasche gepackt, und die-".
"Liegt noch mitten auf der Straße.", beendete Joah Cobys Satz mit schläfriger Stimme. Es verstrichen ein paar Sekunden, in denen beide schweigend auf den kargen Untergrund starrten. Es war bedauernswert, aber der Blauhaarige war schon innerlich dabei, sich seinem armseligen Schicksal ohne großen Protest hinzugeben. Solange er wusste, dass Coby auch ohne ihn bestehen konnte, konnte er sich mit der Abschaltung abfinden. Dass er einen Ort fand, der ihm Sicherheit gewährte und andere, die sich um ihn kümmerten.
Dies würde er mit der Last eines sterbenden Roboters auf seinen Schultern nie erreichen.
"Coby. Egal, ob ich überlebe oder nicht, du-".

"Ich werde sie holen.", beschloss der kleinere Wuschelkopf seltsam unbekümmert und erhob sich sogleich. Er war schon kurz davor, entschlossen loszustapfen, als eine Hand sein Hosenbein ergriff.
"Coby nein, das ist Selbstmord. Außerdem wissen wir nicht, ob nicht bereits ein Auto sie zu Brei gefahren hat.".
"Das kann ich ja vorher überprüfen und ich schaffe das. Joah bitte. Du schaffst es sonst nie, auch nur einen Schritt zu gehen. Es gibt eine verlassene Lagerhalle in der Nähe, nur eine halbe Meile entfernt von hier. Da wärst du sicher. Wir beide wären das. Zusammen.", bettelte Coby um Joahs Zustimmung. Er war leicht über den Blauschopf gebückt und hatte seine Hand ergriffen. Cobys dunklen Augen funkelten hoffnungsvoll und man erkannte, wie überzeugt er von seinem Plan war. Er war fast wie ein unbekümmertes Kind, dass seinen Träumen hinterherjagte. Das Herz des synthetischen Jungen schien trotz seiner Sorge und den schrecklichen Erfahrungen, die er in den letzten Tagen gemacht hätte, so voll von Licht und Hoffnung. Keine Gefahr bescherte ihm nur das kleinste Anzeichen von Kummer, vor diesen drängte sich sein Mut und sein Wille. Ähnlich wie der Wille, den Joah auf der Autobahn ebenso ergriffen hatte.

Mühsam setzte sich Joah mit Cobys Hilfe auf und warf einen skeptischen Blick auf die Straße. Die Tasche verweilte unberührt inmitten der Fahrbahn. Es war fast schon unheimlich, wie das Pech sie so verschonte. Autos rasten an ihr vorbei, jedoch wurde sie von keinem auch nur gestreift. Das mulmige Gefühl in seinem Bauch konnte Joah nicht ignorieren oder abschalten. Er konnte Coby nicht in seinen Tod schicken wegen ein wenig Blut. Alleine würde er auch nicht länger überleben als ohne Blut, den Kleineren loszuschicken wäre also ein mögliches Suizidkommando für beide.

"Ich kann das nicht zulassen. Du bist selbst beschädigt. Ich habe noch genug Kraft für eine halbe Meile, es wird schon gehen. Wir finden sicher noch irgendwo anders Blut für mich, das klappt schon.", widerspenstig setzte Joah dazu an, aufzustehen. Um ihm zu beweisen, dass er sich aufrichten konnte. Ächzend stemmte er seine Beine in den Boden, drückte sich an der Wand nach oben. Er konnte tun was er wollte, daraus wurde nichts. Gleich darauf taumelte er schon wieder rückwärts gegen eine der ruinenähnlichen Fassaden und sank an ihr zurück auf den Boden. Sein Körper war so geschwächt, dass er nicht einmal mehr auf seinen eigenen Beinen stehen konnte. Coby verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte nur ungläubig den Kopf, während er das ganze Trauerspiel mitverfolgte.

Plötzlich fühlte Coby, wie diese Bilder etwas in ihm auslösten. Aus Verzweiflung wurde ein anderes Gefühl in ihm erweckt. Zorn. Er war wie ein loderndes Feuer, dass ihn nur noch mehr anspornte. Die Kohlen, die diese unerbittlichen Flammen am Leben hielten, waren die Gedanken an die Menschen. Menschen verabscheuten, missbrauchten und erniedrigten ihn und Joah. Brad war das perfekte Beispiel. Sie waren an all dem Schuld. Dank ihnen lag die einzige Person, die er noch hatte, im Sterben. Den Menschen wäre das nicht von Belangen, sie interessierten sich nicht im Geringsten dafür. Nur eine weitere kaputte Maschine.

"Nein Joah, du wirst sterben!", brüllte Coby wutentbrannt. Die Fassung hatte er schon lange verloren. Seine Stimme war durchdrungen von brodelnder Wut. An seinen Händen klebte noch das Blut von Joahs Verletzung und er starrte paralysiert darauf. Im Gegensatz zu Joah, der durch Brad mehrere dieser komplizierten Emotionen schon durchlebt hatte, trafen sie Coby wie ein Stoß ins kalte Wasser. Er wusste nicht, wie er damit umzugehen hatte.
"Ich kann und werde dich nicht verlieren.", flüsterte er, ehe er ohne Weiteres auf die Straße stürmte.

Das Herz des anderen machte einen Aussetzer und er traute seinen Augen nicht. Joahs Verstand war nicht in der Lage dazu, zu verarbeiten, dass sein geliebter Coby sich geradewegs in seinen sicheren Tod stürzte.
Entgeistert sah Joah ihm hinterher, wie er jedem Auto auswich und zielsicher auf die Tasche zuhechtete. Nichts schien den schmalen Jungen aufzuhalten. Die Gefährte der Menschen rasten mit 80, vielleicht 100 km/h Stunde auf ihn zu und verfehlten ihn meist nur um wenige Centimeter. Mit flinken Bewegungen entrann er jeglicher Todesgefahr, schnappte sich die Tasche und rannte zurück. Derweil hielt er direkten Augenkontakt mit dem sterbenden Blauschopf und ließ dessen Herz dadurch nur noch brutaler gegen seine Brust hämmern.

Ein Laster raste in Höchstgeschwindigkeit von rechts auf ihn zu und Joah stockte bereits der Atem, als das Scheinwerferlicht Coby erfasste. Die Erdkugel schien sich plötzlich langsamer zu drehen und die Zeit stand still. Vor seinem inneren Auge sah er bereits, wie Coby zertrümmert auf der Straße lag. Die volle Reisetasche noch fest in seinem Griff und blaues Blut, dass wie Farbe durch die Reifen auf der tragischen Leinwand der Straße verteilt wurde.
Doch auch diesem Schicksal wich er aus als wäre es ein Kinderspiel für ihn und kaum einen Atemzug später kehrte er unversehrt zu Joah zurück.

"Siehst du, nichts passiert. Und du wirst überleben. Wir beide werden das.", sprach er unbeeindruckt. Als wäre sein Leben gerade nicht am seidenen Faden gehangen, warf er die Tasche vor Joahs Füße, öffnete ihren Reißverschluss und kramte nach den Transfusionsbeuteln.
Joah wusste nicht einmal, dass er in der Lage dazu war, seine Augen dermaßen weit aufzureißen. Und eine Mischung aus Wut, Liebe und Verblüffung überrannte den Einarmigen.
"Du Arschloch.".
"Wie bitte? Warum-".
Bevor Coby auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, hatte Joah ihn am Kragen gepackt und an sich gezogen. Nicht darauf vorbereitet kippte dieser nach vorne und hielt sich mit den Händen unbeholfen an den Schultern des Größeren fest.

"Tu mir so etwas nie wieder an, verstanden?", wisperte Joah ihm atemlos zu, als er ohne Vorwarnung seine Lippen auf Cobys presste.

Coby riss die Augen auf, erschrocken wie noch nie zuvor. Er kannte dieses Gefühl, es war ihm so vertraut und doch so fremd zugleich. Diese Wärme, die sich durch seinen ganzen Körper zog. Wie die Berührung von Joahs Lippen Stromschläge durch seinen Körper sendete und seine gesamte Wahrnehmung einschränkte. Der Lärm der Stadt wurde still. Das grelle Licht der Straßenlaternen wurde dunkel. Die Umgebung um sie herum verschwand, bis es nur noch ihn und Joah gab.
Zögerlich flatterten die Augenlider des Braunhaarigen zu und er ließ sich auf den wahnähnlichen Gefühlstumult in seinem Körper ein. Zaghaft bewegte er seine Lippen gegen Joahs, schlang seine Arme um dessen Nacken und lehnte sich so weit es ging an ihn. Noch nie hatte er jemanden so geküsst, gar dieses Gefühl so intensiv verspürt. Obwohl es so überwältigend und verwirrend war, wünschte sich Coby, es hätte nie geendet.

Joah war es egal gewesen, ob dies nun der richtige Zeitpunkt gewesen war oder nicht. Er hätte Coby um ein Haar verloren. Und länger hätte er es so oder so nicht ausgehalten. Coby wusste nichts mehr von ihrer romantischen Vergangenheit, doch bei ihm war jedes Detail in seinen Speicher eingebrannt und alle Szenen wiederholten sich Tag für Tag. Erinnerten ihn an etwas, von dem er lange Zeit dachte, es wäre für immer verloren.

Er brauchte das. Er brauchte ihn.
Und er konnte nicht mehr darauf warten.

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