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Mein Herzschlag hatte sich immer noch nicht beruhigt, als ich am nächsten Morgen mein Büro betrat. Der Kuss mit Alec war alles andere als harmlos gewesen und wären wir nicht unterbrochen worden, hätte ich für nichts garantieren können.
„Mist", murmelte ich leise. Eigentlich war es nicht meine Art, zu fluchen, aber im Moment half es mir dabei, meine angestauten Gefühle rauzulassen.
Was war nur aus meinem Vorsatz geworden, Alec nicht an mich heranzulassen? Die Kontrolle über mein Verlangen hatte ich schon lange verloren und so wie es aussah, verlor ich zunehmend auch die Kontrolle über meine Gefühle.
Der Abgrund, in den ich mich freiwillig stürzte, war nahezu in Reichweite. Als ob es nicht schon genug wäre, dass Alec der Anführer einer Gang war, hatte er immer noch einen Mordprozess vor sich, den ich für ihn gewinnen musste. Danach würde jeder von uns seiner Wege gehen, denn dann gab es keinen weiteren Grund mehr für ihn, mich zu sehen.
Bei den Gedanken daran bildete sich ein Kloß in meinem Hals und ich wusste, dass ich bereits viel zu tief in die Sache verwickelt war. Jetzt blieb mir nur noch übrig, das Beste daraus zu machen und zu hoffen, dass mein Herz einigermaßen heil aus der Sache herauskommen würde.
Immerhin starb die Hoffnung zuletzt ...
Mich auf die Arbeit zu fokussieren, gelang mir nahezu den ganzen Vormittag nicht und als Alice mich gegen halb eins fragte, ob ich mit ihr bei Joe's einen Burger essen gehen wollte, war ich froh, mein Büro verlassen zu können.
Wir schlenderten über die Straße und setzten uns in das kleine Restaurant, welches zur Mittagszeit immer gut gefüllt war. Da Alice zuvor angerufen hatte, war bereits ein Tisch für uns reserviert, an dem wir nun Platz nahmen.
Nachdem jeder von uns etwas zu essen und zu trinken bestellt hatte, verfielen wir in Schweigen.
Natürlich war mir klar, dass Alice mein abwesendes Verhalten aufgefallen war, aber taktvoll wie sie war, bohrte sie nicht weiter nach, sondern begann ein Gespräch über ihre Urlaubspläne für Ende des Jahres.
Ich hörte ihr aufmerksam zu und versuchte, mich ganz auf ihre Worte zu konzentrieren.
Dennoch schweifte ich hin und wieder mit den Gedanken zu Alec ab und als Alice eine ihrer Fragen das dritte Mal stellen musste, sagte sie schließlich: „Gibt es etwas, was Ihnen auf dem Herzen liegt? Kann ich irgendwie helfen?"
Meine Lippen formten sich zu einem Lächeln, während ich den Kopf schüttelte.
„Das ist sehr aufmerksam, Alice, aber ich befürchte, Sie können mir nicht weiterhelfen."
„Es geht mich nichts an, aber ich habe das Gefühl, dass Sie seit einiger Zeit etwas beschäftigt. Um genau zu sein, geht es um den Fall von Alec Jackson, oder?"
Ich sah sie leicht überrascht an und Alice lächelte mich wissend an.
„Nun, es kommt selten vor, dass der Sheriff aufgrund eines Falles zu Ihnen kommt. So unzufrieden, wie er aussah, war es nicht schwer zu erraten, dass er dagegen ist, dass Sie Mr. Jackson verteidigen. Außerdem stand der Artikel in der Zeitung und ... nun ja ... Sie wirken nicht glücklich."
Für einen Moment war ich doch tatsächlich überrascht, wie aufmerksam Alice war. Ich nahm einen Schluck von meinem Wasser und atmete tief ein.
„Der Fall ist fordernd und da es mich persönlich betrifft, bedeutet er mir viel. Alec – Mr. Jackson ist nicht der Mann, für den alle ihn halten und wenn er nur selbst über sein Ego und sein Image springen würde, dann würde er mir einiges an Stress ersparen."
Alice nickte verständnisvoll.
„Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach für Sie ist. Mein Bruder ist zwar nicht gerade die hellste Birne im Leuchter, aber ich könnte mir nicht vorstellen, ohne ihn zu sein. Es tut mir sehr leid, dass Ihnen ihr Bruder so früh genommen wurde."
Der Kloß in meinem Hals war bei diesen Worten größer denn je und ich blinzelte heftig, um meine aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Bei all der Arbeit und der Sache mit Alec hatte ich mir immer noch nicht erlaubt, zu trauern. Ich empfand es als nicht richtig, solange ich nicht wusste, wer Ricky das angetan hatte, und dennoch würde ich manchmal einfach gerne alles rauslassen.
Bevor ich etwas erwidern konnte, kam die Kellnerin mit unserem Essen. Jeder von uns widmete sich seinem Burger und nach dem Essen wurde das Thema nicht mehr angesprochen. Mir schien, als ob Alice viel mehr wusste, als ich annahm, aber rücksichtsvoll wie sie war, löcherte sie mich nicht mit Fragen, sondern lenkte mich mit einer Geschichte aus ihrer Highschoolzeit ab.
Nach dem Essen waren wir noch eine Runde um den Block gegangen und schließlich zurück ins Büro. Ich hatte noch einiges an Arbeit und auch auf Alice' Schreibtisch stapelten sich die Akten.
Gegen halb sechs hatte ich das meiste meiner noch zu erledigenden Arbeit beendet und war gerade dabei, den morgigen Kalender durchzugehen, als ich eine laute Frauenstimme vor meinem Büro wahrnahm.
Zuerst nahm ich an, dass es sich um eine wütende Klientin handelte, doch dann erkannte ich die Stimme.
Noch bevor ich mich überhaupt erheben konnte, wurde die Tür aufgestoßen und meine Mutter betrat mein Büro.
Wie immer trug sie eines ihrer Kleider mit roten Pumps. Ihre Haare waren zu einem strengen Dutt zusammengebunden, der nicht nur ihre markanten Gesichtszüge betonte, sondern auch ihre Afrolocken zähmte.
Alice, welche vollkommen hektisch hinter ihr das Büro betrat, wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als ich sie bereits unterbrach: „Schon in Ordnung, Alice. Bitte lassen Sie uns allein."
Sie nickte – wenn auch unsicher – und schloss die Tür hinter sich.
„Mutter, was kann ich für dich tun?", fragte ich so unbeeindruckt wie möglich.
„Komm mir nicht so, Seth! Was hast du dir nur dabei gedacht, diesen Kriminellen als Klienten anzunehmen? Den Mörder deines eigenen Bruders? Hast du nicht durch deine Abnormalität schon genug Unruhe in diese Familie gebracht oder möchtest du deinem Vater und mir keinerlei Scham ersparen?"
Die Worte trafen mich und doch ließ ich mir äußerlich nichts anmerken. Innerlich hatte ich bereits seit langer Zeit gewusst, was meine Mutter von mir hielt. Es jetzt laut ausgesprochen zu hören, machte keinen Unterschied – zumindest redete ich mir das ein.
„Es ist meine Entscheidung, welche Klienten ich vertrete und welche nicht. Wenn du ein Problem damit hast, kann ich dir nicht helfen", erwiderte ich ruhig.
„Der Mörder deines eigenen Bruders", entwich es ihr schrill und ich befürchtete bereits, dass sie jeden Moment explodieren würde.
„Glaubst du wirklich, ich würde Rickys Mörder vor einer Strafe bewahren wollen?", frage ich und meine Stimme wurde mit jedem Wort etwas härter.
„Weiß Gott, was du tun würdest und was nicht, Seth! Du beantwortest keine meiner Anrufe oder Nachrichten. Ich musste es aus dem Verhandlungsbrief erfahren! Kannst du dir vorstellen, was die Leute sagen werden?"
Meine Geduld verpuffte mit dieser Aussage schlagartig. Da war es. Der wahre Grund, warum sie hier war. Die Leute ... was würden nur die Nachbarn sagen oder ihre Kollegen auf der Arbeit? Alles, wofür meine Mutter sich interessierte, war ihr Ruf und der unserer Familie.
„Ist das alles, was dir Sorgen bereitet? Dein Ruf und das, was die Leute sagen werden?", erwiderte ich laut. Meine Stimme bebte leicht und ich versuchte, mich nicht zu sehr in Rage zu reden. Alice war noch immer im Vorzimmer und ich wollte ihr ersparen, ein solches Gespräch mitanhören zu müssen.
„Natürlich nicht!", fauchte sie, und für einen Moment hatte ich die Hoffnung, dass sie sich beruhigen würde. Doch wie immer wurde ich enttäuscht.
„Dein Vater ist ebenfalls davon betroffen. Stell dir nur vor, was man über ihn sagen wird!"
Ich seufzte. Früher wäre ich in solch einem Gespräch wahrscheinlich ausgeflippt, aber jetzt konnte ich nur noch enttäuscht den Kopf schütteln. Was brachte es mir, mich aufzuregen? Meine Mutter würde sich nicht ändern und ich war es leid, darauf zu hoffen.
„Wenn das alles ist? Ich habe noch einiges an Arbeit", sagte ich schließlich resigniert und wandte mich wieder meinem Kalender zu.
Für einige Zeit herrschte Stille. Ich konnte ihre Wut förmlich in ihr Brodeln spüren und etwas sagte mir, dass sie noch nicht mit mir fertig war.
„Schläfst du mit ihm?", kam es plötzlich von ihr.
Für einige Sekunden war ich mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. Warf sie mir wirklich vor, einen Mörder aufgrund von sexuellen Gefälligkeiten zu vertreten?
„Was hast du gerade gesagt?", fragte ich fassungslos.
„Du hast mich schon richtig verstanden, Seth. Schläfst du mit ihm?", wiederholte sie etwas lauter.
Ich war mir ziemlich sicher, dass Alice von ihrem Schreibtisch aus jedes Wort verstehen konnte. Dennoch riss ich mich zusammen und versuchte, meine Beherrschung aufrechtzuerhalten.
„Das denkst du von mir? Dass ich den Tod meines eigenen Bruders dafür benutzen würde, um mir einen Lover zu suchen?"
Meine Stimme hörte sich nicht so fest an, wie ich es mir gewünscht hätte. Der Umstand, dass meine eigene Mutter mir so etwas zutraute, brachte mich halb um den Verstand. Was hatte ich nur getan, dass sie eine solche Meinung von mir hatte?
„Ich erkenne dich nicht wieder, Seth. Zuerst diese Sache mit dir, dann wendest du dich immer mehr von uns ab, und jetzt -"
Sie ließ den letzten Teil des Satzes unausgesprochen. Es war nicht nötig, die Worte laut auszusprechen, denn ich wusste auch so, was sie dachte.
Ein unfreiwilliges Lachen entwich mir. Die Situation war einfach viel zu absurd, als dass sie wahr sein konnte.
„Bitte verlass mein Büro", sagte ich schließlich matt. Meine Geduld war aufgebraucht und würde sie auch nur einen weiteren Vorwurf in meine Richtung aussprechen, würde ich meine sonst so unermüdliche Beherrschung verlieren.
„Wie bitte?", kam es empört von ihr.
„Du hast mich verstanden, Mutter. Verlass mein Büro. Ich möchte dich nicht mehr sehen. Nicht jetzt und auch nicht in der Zukunft. Habe ich mich da klar ausgedrückt?"
Der Mund meiner Mutter klappte leicht auf, doch sie wäre nicht sie selbst, wenn sie nicht eine scharfe Bemerkung auf den Lippen hätte. Mich für ihre Worte wappnend, schloss ich für einen Moment die Augen und atmete tief ein.
„Ich bin deine Mutter, Seth! Du kannst mich nicht einfach aus deinem Leben streichen! Früher oder später wirst du merken, dass du einen schrecklichen Fehler begangen hast und wenn es soweit ist, brauchst du nicht angekrochen kommen!"
Ihre Stimme war mit jedem Wort schriller geworden, was ich bereits aus meinen Kindheitstagen kannte. So hatte sie immer mit mir oder Ricky gesprochen, wenn sie von einer Situation überfordert gewesen war, aber dennoch im Recht sein wollte.
Als Kind hatte ich klein beigegeben, aber nun war ich kein Kind mehr.
„Nichts würde mir mehr widerstreben, also bitte ich dich ein letztes Mal: Bitte verlass mein Büro oder ich rufe den Sicherheitsdienst."
Die Drohung war deutlich aus meinen Worten zu vernehmen und ich würde nicht scheuen, meinen Worten Taten folgen zu lassen.
Ohne ein weiteres Wort machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte aus meinem Büro.
Genervt seufzte ich und lehnte mich zurück in meinen Stuhl zurück. Womit hatte ich all das nur verdient?
„Ist – ist alles in Ordnung, Mr. Floyd?", ertönte eine zögerliche Stimme und als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich Alice im Türrahmen stehen.
„Wie viel haben Sie gehört?", erwiderte ich ohne Umschweife.
Alices Wangen nahmen einen Hauch von Farbe an, als sie antwortete: „So ziemlich alles. Die Wände sind nicht besonders dick und – nun ja – Ihre Mutter hat eine laute Stimme."
Wunderbar!
„Hören Sie, Alice, was auch immer Sie jetzt von mir denken, es entspricht nicht der Wahrheit. Mein Job liegt mir sehr am Herzen und ich würde ihn niemals riskieren, indem ich einen Mord vertusche. Alec ist nicht -"
„Sie müssen sich nicht vor mir rechtfertigen", unterbrach sie mich sanft und ich stoppte.
Der Drang, ihr zu erklären, wie die Dinge wirklich waren, war so groß, dass ich nur ungern darauf verzichten wollte.
„Jeder weiß, dass Sie Ihren Job hier gut machen und – mit Verlaub – niemanden geht es etwas an, was Sie in Ihrem Privatleben tun. Ich weiß, dass Sie berufliches von privatem unterscheiden, und ich finde es sehr schade, dass Ihre Mutter andere Ansichten hat."
Ich rang mir ein gezwungenes Lächeln ab und nickte.
„Danke, Alice", sagte ich schließlich und sie verließ mit einem letzten verständnisvollen Blick mein Büro.
Da ich mich sowieso nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren konnte, beschloss ich, es für heute gut sein und meine morgigen Termine einfach auf mich zukommen zu lassen.
Nachdem ich mein Jackett vom Haken genommen und meinen PC ausgeschaltet hatte, verließ ich mein Büro.
Passend zu meiner Laune regnete es. Die Hitze war in den letzten Wochen nahezu erdrückend gewesen und sowohl die Menschen als auch die Natur konnten etwas Regen gut gebrauchen.
Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich nicht unter irgendeinem Vorwand nach Blackland fahren sollte, doch schließlich entschied ich mich doch dagegen.
Alec und mir stand noch ein Gespräch bevor und heute war nicht der richtige Tag, um es zu führen. Mir erschien die Aussicht, mit einem oder zwei Gläsern Wein auf meiner Couch zu sitzen, viel besser, als einen weiteren Streit zu führen.
Mit den Gedanken immer noch bei Alec, lenkte ich meinen Camaro auf die Hauptstraße und schaltete die Scheibenwischer an. Mittlerweile schüttete es wie aus Eimern und die Sicht war dadurch kaum noch vorhanden.
Während ich an meinem Radio herumfummelte, um den passenden Sender für meine Stimmung zu suchen, ertönte das Klingeln meines Telefons.
Automatisch griff ich nach meiner Aktentasche und wandte meinen Blick von der Straße ab. Alecs Name auf dem Display sorgte dafür, dass mein Herz einen Hüpfer machte. Bevor ich den Anruf entgegennehmen konnte, hörte ich ein lautes Hupen, gefolgt von quietschenden Reifen.
Das Nächste, was ich sah, war das Licht von zwei Autoscheinwerfern, die direkt auf mich zusteuerten.
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