𝟏𝟒


„Mr. Floyd, hier ist jemand, der Sie sprechen möchte", ertönte Alices Stimme aus der Sprechanlage.

„Hat dieser Jemand auch einen Namen, Alice?", erwiderte ich leicht amüsiert.

Seit ihrem ersten Tag als meine Assistentin war Alice so darauf bedacht, förmlich mit mir zu sprechen, dass sie hin und wieder wichtige Informationen dabei vergaß.

„Sheriff McClark, Sir."

Sofort erlosch das Lächeln auf meinem Gesicht.

„Lassen Sie ihn eintreten", sagte ich schließlich und erhob mich von meinem Schreibtisch.

Seit dem Gespräch mit dem Richter und der Staatsanwaltschaft vor zwei Tagen hatte ich meine Zeit damit verbracht, alles für die Verteidigung von Alec zu tun. Es ging mir nicht mehr nur um ihn oder meinen Bruder. Die Art und Weise, wie Ms. Smith mit mir gesprochen hatte, hatte genau die Art von Kampfgeist in mir aufleben lassen, die mich einst dazu motiviert hatte, ein guter Anwalt zu werden.

Mir war keinesfalls entgangen, dass ihre Anspielungen auf unsere Stellung in der Gesellschaft unethisch war, und Alec hatte es ebenfalls bemerkt. Es war die Art und Weise, wie sie das Wort Ihresgleichen ausgesprochen hatte. Dass sie sich ihre Meinung bereits gebildet hatte, noch bevor sie einen genauen Blick auf seine Akte oder die Anklage geworfen hatte, war damit klar.

Sie war damit sicherlich keine Ausnahme, denn bei ca. dreißig Millionen Einwohnern im Bundestaat Texas waren nur circa zwölf Prozent afroamerikanischer Abstammung. Während die schwarze Bevölkerung sagen würde, es gäbe ungerechte Behandlungen, rechtfertigte es die weiße Gesellschaftsschicht mit der Kriminalitätsrate der Afroamerikaner. Im Grunde war es ein rein politisches Thema, weshalb ich versuchte, mich aus solchen Diskussionen herauszuhalten. Natürlich entging auch mir nicht die Brutalität, welche die Polizei gegen Schwarze richtete, aber da ich kein Deputy war, sondern ein Anwalt, konnte ich nur versuchen, die Angeklagten so gut es ging zu verteidigen.

Es kam selten in meinem Berufsfeld vor, dass mir Rassismus entgegengebracht wurde und auch, wenn ich schon zwei oder dreimal mit dem verbalen Feindseligkeiten konfrontiert gewesen war, hatte ich es bisher immer hinuntergeschluckt und mir nichts anmerken lassen. Eine falsche Reaktion könnte mich meinen Job kosten und da ich sehr an diesem hing, war es mir das ganze nie wert gewesen.

Dass Alec diesen Umstand anders sah, war mir klar. Er hatte mich nach dem Gespräch mit dem Richter und der Staatsanwältin darauf angesprochen. Zwar hatte ich zugegeben, dass ich es genauso aufgenommen hatte wie er, doch dass es besser war, solche Bemerkungen zu ignorieren. Ich hatte ihm gesagt, dass ich in einem solchen Fall auf den Richter und dessen Gerechtigkeit vertraute. Sein ungläubiges Schnauben war Antwort genug für mich gewesen. Danach hatte er das Thema fallengelassen, ebenso wie jegliche weitere Konversation.

„Mr. Floyd, genau der Mann, mit dem ich sprechen wollte", ertönte eine raue Stimme und als ich meinen Blick hob, sah ich in das Gesicht des Sheriffs.

„Sheriff McClark, was kann ich für Sie tun?", erwiderte ich freundlich.

„Nun, ich wollte nach unserem Telefonat noch mal persönlich mit Ihnen sprechen. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um ein Missverständnis handelt, dass sie Jackson verteidigen, doch dann wurde es mir von der Staatsanwaltschaft bestätigt. Sie bewegen sich da auf einem ganz falschen und riskanten Pfad, mein Junge."

Obwohl seine Worte nach außen hin durchaus freundlich wirkten, hatte ich mehr das Gefühl, dass es als Warnung gemeint war.

„Ich beherrsche meinen Job, Sheriff. Wenn Mr. Jackson schuldig sein sollte, werde ich der Justiz nicht im Weg stehen."

Der Sheriff nickte nachdenklich, bevor er einen Schritt auf mich zu machte und mich mit seinen wässrigen blauen Augen musterte.

„Sie sind ein guter Anwalt, Mr. Floyd und ich bin sicher, dass Sie für Gerechtigkeit kämpfen, aber vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass die Welt ohne Alec Jackson ein besserer Ort wäre."

„Das mag in Ihren Augen wohl so sein, aber es ist mein Job, für Gerechtigkeit meiner Klienten zu sorgen. Mr. Jackson hat mir versichert, dass er den Mord an meinen Bruder nicht begannen hat und ich glaube ihm. Es wäre falsch, ihn für etwas ins Gefängnis zu bringen, was er nicht getan hat. Finden Sie nicht auch?"

Ein freundloses Lachen entwich dem Sheriff, der sich nun nachdenklich am Kinn kratzte.

„Alec Jackson bringt nichts außer Chaos und Verderben. Ist es da wirklich so wichtig, weshalb er ins Gefängnis geht? Manche würden diese Frage sicherlich mit einem Nein beantworten. Aber Sie sind wohl einer der wenigen – wenn nicht sogar der einzige – der nicht so denkt. Deshalb gehe ich wohl auch richtig in der Annahme, dass ich Sie nicht vom Gegenteil überzeugen kann."

Die Art und Weise, wie McClark den letzten Satz aussprach, hörte sich nach einer Frage an und doch schien er keine Antwort von mir zu erwarten.

„Was sagen Ihre Eltern dazu, dass sie den Mörder ihres Sohnes verteidigen? Ich bin sicher, es führt zu interfamiliären Konflikten, dass Sie dem Mann Freiheit schenken wollen, der ihnen ihren kleinen Jungen weggenommen hat."

Ich schluckte. Meine Eltern hatten keine Ahnung, dass ich Alec in der kommenden Verhandlung verteidigen würde.

„Ahh, sie wissen es noch nicht, oder? Nun, es würde mich auch sehr wundern, wenn Sie dem Ganzen zugestimmt hätten. Sie täten gut daran, es ihnen zu sagen, denn die Briefe für den Verhandlungstermin sind vorgestern rausgegangen und wenn mich nicht alles täuscht, ist Ihr Name in der Verteidigung aufgeführt. Hätte ich gewusst, dass Sie ihre Familie noch nicht informiert haben, hätte ich natürlich damit gewartet."

Die Häme triefte nur so aus der Stimme des Sheriffs. Meine Hände ballten sich in dem Moment zu Fäusten, als er sich mit dem rechten Zeigefinger und Daumen gegen seinen Hut tippte und damit einen Gruß zur Verabschiedung andeutete. Dann wandte er sich der Tür zu.

„Sie unterschätzen mich, Sheriff. Ich werde alles daran setzten, dass die Wahrheit über den Tod meines Bruders herauskommt. Egal, wer dafür verantwortlich ist – derjenige wird dafür bezahlen."

Der Sheriff drehte sich nochmal zu mir um und nun war sämtliche gespielte Freundlichkeit aus seinem Gesicht gewichen.

„An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig, Mr. Floyd. Denken Sie daran, was passieren kann, wenn Sie zu tief", er betonte das letzte Wort nur zu deutlich und ich hätte schwören können, einen wissenden Ausdruck in seinen Augen aufblitzen zu sehen, „in diese Angeleigenheit eintauchen. All die Geheimnisse, die Sie versuchen zu verheimlichen ..."

War das eben eine Drohung gewesen?

„Ich habe keine Geheimnisse vor Ihnen. Wenn ich Geheimnisse vor Ihnen hätte, würde das bedeuten, dass Sie wichtig sind, und das sind Sie nicht."

Die Worte hatten meinen Mund verlassen, bevor ich es verhindern konnte. Wie konnte er es wagen, mir auf diese dreiste Weise zu drohen?

Die trüben blauen Augen meines Gegenübers blitzten für einen Moment auf, doch der Sheriff erspare es sich ein weiteres Mal das Wort an mich zu richten und verließ den Raum. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete ich aus.

Was ging hier nur vor sich, dass er so auf mich einredete, diesen Fall fallen zu lassen?

***

„Ich würde aber gerne mit ihm sprechen", wiederholte ich zum dritten Mal, denn Alec schien mir nicht wirklich zuzuhören.

„Ich hab's verstanden!", erwiderte er scharf.

„Dann stelle ich mir die Frage, was dein Problem ist?", sagte ich so beherrscht wie möglich.

Seit Tagen war Alecs Laune am Tiefpunkt und ich hatte keine Ahnung warum. Er sprach nur das Nötigste mit mir und jedes Mal, wenn wir allein waren, holte er unter irgendeinem Vorwand jemanden der Dark Bloods. So langsam glaubte ich, er hatte Angst davor, mit mir allein in einem Raum zu sein.

Da wir aber nie wirklich allein waren, konnte ich ihn auch nicht fragen.

„Dan, geh und hol Curtis. Sag ihm, Seth möchte mit ihm sprechen. Mehr braucht er nicht zu wissen."

Dan, der bis eben noch auf der Couch gesessen hatte, nickte und verließ das Haus. Curtis war offenbar im Bezirk unterwegs und da sonst niemand bis auf Trevor zuhause war, musste ich diese kurze Gelegenheit nutzen.

„Alec, was ist los mit dir? Du gehst mir seit Tagen aus dem Weg."

„Nichts ist los", antwortete er mit einem Schulterzucken.

Ich seufzte.

„Ist es wegen unseres Kusses? Ich hab dir doch gesagt, dass -", begann ich, aber Alec schnitt mir das Wort mitten im Satz ab.

„Bist du irre? Halt verdammt nochmal deine Klappe!"

Perplex starrte ich ihn an. Was war nur los mit ihm?

„Travis ist oben in seinem Zimmer. Wenn du mit mir sprechen würdest, müsste ich nicht rumraten und wir wären schneller mit unserem Gespräch fertig. Also, was ist los?"

Alec erhob sich von der Couch, hielt seinen Blick aber immer auf mich gerichtet. Ich mochte es nicht besonders, wenn er mich so anstarrte, denn ich kam mir dabei immer wie eine Beute vor.

„Das alles geht mir auf den Sack! Ich kann mein eigenes Haus nicht verlassen, mich nicht um meine Leute kümmern. Ich sitze hier fest und der einzige Unterschied zum Knast ist, dass ich bessere Gesellschaft und Essen habe."

Er klang frustriert, aber ich war mir immer noch sicher, dass das nicht alles sein konnte.

„Du wirst dich gedulden müssen, bis die Anhörung vorbei ist. Wenn ich deine Unschuld bewiesen habe, kannst du wieder ganz deinen Aufgaben nachgehen."

„Dezember ist verfickt nochmal zu spät!", erwiderte er laut.

„Okay, okay! Jetzt beruhige dich mal, Alec. Wenn du dich darüber aufregst, wird es nicht besser."

Wütend begann er, im Zimmer auf und abzugehen. Da ich nicht wirklich wusste, was ich noch sagen konnte, beschloss ich, es sein zu lassen und stattdessen auf Curtis zu warten. Ich hatte bis jetzt keine Gelegenheit gehabt, allein mit ihm zu sprechen, weil Alec ihm die Verantwortung für die Dark Bloods übergeben hatte. Obwohl es mich interessierte, versuchte ich nicht zu viel über die Aktivitäten der Mitglieder zu erfragen. Meine Aufgabe war es, Alec zu verteidigen und ich war mir sicher, dass wenn ich einen zu tiefen Einblick in die Geschäfte der Dark Bloods bekam, ich von meiner eigentlichen Aufgabe abgelenkt werden würde.

Das Vibrieren meines Handys riss mich aus meinen Gedanken und Alec stoppte. Ein schneller Blick auf den Bildschirm zeigte mir, dass es meine Mutter war. Sie rief mich seit Tagen im Stundentakt an und für genauso lange ignorierte ich ihre Anrufe. Ich wusste nur zu gut, was sie von mir wollte, und ich war alles andere als scharf darauf, mit ihr über den Prozess zu sprechen.

Seitdem der Sheriff mir einen Besuch abgestattet hatte, hatte ich nur darauf gewartet, dass meine Eltern ausflippen würden. Ich wusste, wie die Sache nach außen hin wirkte, aber ich musste mich auf meinen Job fokussieren und das konnte ich nicht, wenn meine Mutter mir ständig Vorwürfe machte.

„Wer ruft dich verdammt nochmal jede Stunde an?", kam es gereizt von Alec.

Mit einer schnellen Bewegung drehte ich das Display meines Handys nach unten und sagte: „Niemand wichtiges."

Die Skepsis war deutlich in Alecs Gesicht geschrieben, aber er fragte nicht weiter nach, sondern begann wieder, im Raum auf und abzugehen.

Mein Handy begann bereits nach wenigen Sekunden erneut zu vibrieren und ich seufzte. Meine Mutter war schon immer gut darin, penetrant zu sein. Etwas, was wohl an der vielen Zeit lag, die sie allein zuhause verbrachte.

„Triffst du dich mit jemanden?"

Die Frage kam so unerwartet, dass ich Alec für einige Sekunden einfach nur verwundert ansah.

„Wie kommst du darauf, dass ich mich mit jemanden treffen würde?", fragte ich perplex.

„Beantworte die beschissene Frage! Triffst du dich mit jemanden, Seth?"

Ich spürte, wie ein wohliges Gefühl bei dem Gedanken in mir aufstieg, dass es Alec stören würde, wenn ich jemanden sehen würde.

„Nein, ich treffe mich mit niemandem. Das ist meine Mutter", antwortete ich schließlich und zeigte ihm das immer noch leuchtende Display, auf dem der Namen meiner Mutter stand.

„Oh", kam es tonlos von ihm. „Und was will sie so dringend von dir?"

Ich zögerte. Nicht, weil ich mich für meine Eltern schämte, denn das taten sie schon zur Genüge für mich. Es ging vielmehr darum, dass sie mir mit großer Wahrscheinlichkeit Vernunft einreden wollten.

„Der Sheriff hat sie darüber informiert, dass ich dein Anwalt bin und ich dich im Prozess vertreten werde", sagte ich schließlich.

Alec wandte den Blick so schnell von mir ab, dass ich seine Reaktion nicht sehen konnte.

„Ich wette, sie würde dir gerne den Arsch dafür aufreißen", sagte er und ein trockenes Lachen entwich mir.

„Ja, ich glaube, das trifft es ganz gut."

„Ricky hat nie viel über eure Eltern gesprochen, aber das, was er mir erzählt hat, war nicht sonderlich nett."

„Nett ist nicht gerade das Wort, dass ich dafür benutzen würde. Meine Mutter ist ein Kontrollfreak, was wohl daran liegt, dass sie die meiste Zeit allein mit uns war, weil mein Vater seine Arbeit immer wichtiger gewesen ist. Klassisches Familiendrama eben, also keine große Sache ..."

„Wissen sie, dass du auf Männer stehst?", fragte er schließlich und ich hatte das Gefühl, dass er diese Frage bereits eine Zeit lang stellen wollte.

„Ja, seitdem ich ein Teenager war. Als ich meinen ersten Freund mit nach Hause gebracht habe, ist meine Mutter ausgetickt. Ricky ist kurz danach ausgezogen und – naja, dann hat er sich den Dark Bloods angeschlossen. Hat er dir das nie erzählt?"

„Nein", war alles, was Alec erwiderte, aber ich hatte das Gefühl, dass er nicht ganz die Wahrheit sagte.

„Was ist mit deinen Eltern? Wussten sie von -"

Alecs Gesicht verzog sich und zum ersten Mal konnte ich Schmerz darauf erkennen. Automatisch trat ich auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. Ich konnte erkennen, wie seine Kiefer mahlten, aber da er mir nicht auswich, beschloss ich, einen Versuch zu starten.

„Du kannst mit mir darüber sprechen, das ist dir bewusst, oder? Was auch immer sie zu dir gesagt haben, du bist genauso richtig, wie du bist, Alec. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden."

Seine Augen weiteten sich ein Stück als ich sprach und so langsam beschlich mich das Gefühl, dass Alec in seinem Leben nie wirklich Halt oder Zuneigung bekommen hatte. Sicher, seine Akte sprach für sich, aber jede Mutter liebte doch ihr Kind, oder? Selbst meine Mutter hatte ihre guten Augenblicke, für die ich sie liebte.

Alecs Blick verschwamm für einen Moment und bevor ich etwas sagen konnte, spürte ich seine Lippen auf meinen. Der Kuss war hart und verlangend, aber dennoch konnte ich die Verzweiflung spüren, die in seinem Handeln lag.

Mein Kopf hatte sich allerdings schon verabschiedet und so genoss ich einfach den Moment und zog Alec noch ein Stück näher zu mir heran.

Mein Herz raste und mein Puls schlug schnell, während ich um mich herum nichts außer Alec spürte. Seine Hände hatten mich an den Hüften gepackt, während seine Zunge meine Mundhöhle erkundete. Ein Stöhnen entwich mir, als ich seine beginnende Härte an meinem Unterbauch spürte.

Gerade als ich meine Hände auf Wanderschaft schicken wollte, hörte ich, wie sich jemand am Schlüsselloch der Tür zu schaffen machte. So schnell, dass ich es kaum begreifen konnte, hatte Alec von mir abgelassen und im nächsten Moment flog die Haustür auf. 

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