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Jemand weint.
Sein Herz setzte für einen Moment aus.
Jemand winselt, wie ein verlorenes Kind.
Sein Körper wurde bewegungslos, jede noch so kleine Muskelfaser versteifte sich, sodass aus ihm nunmehr eine Statue wurde.
Jemand schluchzt, laut und verängstigt, unterbrochen von kratzigem Gehuste.
Seine Hand begann zu zittern, das kühle Metall der Türklinke noch in ihrem verkrampften Griff gefangen. Der schwere Rucksack, welcher bis jetzt auf seinen Schultern geruht hatte, machte in sekundenschnelle Bekanntschaft mit dem Flurboden.
Jemand weinte. In Collins Appartement. Collin, welcher keinen Mitbewohner hatte.
Es sollte sich niemand darin aufhalten. Doch dieser Niemand bewies ihm das Gegenteil und jammerte dabei wie ein Schlosshund. Und das bittere Schluchzen wurde lauter und lauter, sodass die unendlichen Leiden hinter diesem für jeden in Hörweite förmlich spürbar wurde. Collin Auburn verweilte in seiner Schockstarre. Das war seine Wohnung. Eine Wohnung, die er ganz allein finanzierte und bewohnte. Ohne Mitbewohner. Denn so gerne er sich auch mit anderen Menschen umgab, lebte er, seitdem er das Nest seines Elternhauses verlassen hatte, allein in seinem gemütlichen Zwei-Zimmer-Appartement.
Trotz dessen schwellte das Schluchzen aus dem Inneren seines Heims immer weiter an, verhöhnte ihn mit seinem ohrenbetäubenden Klagetönen. Ab und an war nun auch ein zerknirschtes Flüstern zu hören und Collin überfiel sowohl die nackte Panik. Seine Gedanken rasten durch seinen Schädel, vollführten ein Wettrennen. Der Gewinner bekam als Preis die Kontrolle über sein Handeln. Die Flucht hatte bis jetzt die Führung, doch sein logisches Denken holte den instinktgesteuerten Gedanken rasch wieder ein. Es musste eine logische Erklärung geben.
War es vielleicht sein bester Freund? Joah hatte des Öfteren Streit mit seinem Lebenspartner und suchte hier Zuflucht, wenn er wieder runterkommen wollte. Er war der Einzige, der einen Zugang zu Collins Wohnung hatte. Das musste es sein, dachte sich der Tierpfleger zuversichtlich und beruhigte damit sein tobendes Herz. Die beiden kannten sich aus ihren frühesten Lebensjahren und waren schon seitdem sie denken konnten unzertrennlich, weshalb sie sich jeweils einen Zweitschlüssel anvertraut hatten. Für die beiden eine Selbstverständlichkeit, auch wenn andere diese Aktion als leichtsinnig abstempeln würden.
Gerade, als sich sein Herzschlag wieder seinem Ruhepuls genähert hatte, holten seine Zweifel wieder auf und waren kurz davor, seine Rationalität wieder aus der Bahn zu werfen. Joah fragte trotz allem gegenseitigen Vertrauen immer vorher nach, ob er vorbeikommen könnte. Denn Collin war ein vielbeschäftigter junger Mann. Der Freiwilligendienst im örtlichen Tierheim und das Kellnern in einer bekannten Wirtschaft nahmen den Großteil seiner Zeit in Anspruch, folglich war er häufig unterwegs. Er befreite sich langsam aus seiner Paralyse und ließ die Klinke für einen Moment wieder los, um sein Handy aus seiner Hosentasche zu fischen. Der aufleuchtende Bildschirm bestätigte seine Befürchtung: Keine neue Nachricht. Joah war also nicht in seiner Wohnung... Oder doch? Sein Akku könnte leer gewesen sein oder er hätte es schlichtweg vergessen können. Beides rationale und einleuchtende Erklärungen, die der Wirklichkeit am nächsten kämen... Oder nicht?
Collin fuhr sich mit seiner linken Hand durch seine karamellblonde Haarpracht, während seine rechte das quadratische Gerät wieder in seinen Hosentasche zurücksteckte. Kopfschüttelnd umfasste er wieder den Türgriff und drückte diesen ohne weiter zu zögern herunter. Da war sicher keine fremde Person in seiner Wohnung, nur sein bester Freund. Joah, der allem Anschein nach einen überaus grauenhaften Tag hinter sich hatte. Klack. Der ausgefahrene, metallische Riegel des Schlosses stieß gegen die vorgesehene Kuhle im Türrahmen. Die Tür bewegte sich nicht. Noch ein Versuch, vielleicht klemmte sie nur. Klack. Die Stirn des Mannes legte sich in tiefe Falten. Das konnte nicht sein. Klack. Sie ließ sich nicht öffnen. Nicht einen Spalt. Klack. Verschlossen, wie er sie zurückgelassen hatte. Sein Herz stolperte für einige Sekunden wieder über seine eigenen Schläge und seine Atmung geriet ins Stocken. Joah hatte noch nie eine einzige Tür hinter sich verschlossen, eine seiner wohl leichtsinnigsten Angewohnheiten. Doch jetzt war sie verriegelt, obwohl er sich eindeutig dahinter aufhielt. Urplötzlich verstummte die weinerliche Stimme und signalisierte Collin so, dass ihr Besitzer ihn gehört haben musste.
Das dumpfe Trappeln von Sohlen, die in kurzen Abständen auf den hölzernen Boden trafen, drang zu ihm durch die verschlossene Tür hindurch. Dann das Knallen einer Tür, ehe das Wimmern mit ähnlicher Bitterkeit ertönte - nur weiter entfernt als zuvor. Das Unbehagen in Collin wuchs mit jedem flachen Atemzug, verbreitete sich wie Gift in seinen Gliedern und drohte, ihn ein weiteres Mal zu lähmen. Die Situation brachte jede seiner instinktiven Alarmglocken zum Läuten. Nichts passte zusammen. Es passte nicht zu Joah. Nicht zu seiner Art, nicht zu seinem sonstigen Verhaltensmuster oder seinen Macken. Doch er war die einzige schlüssige Erklärung für das herzzerreißende Geschluchze. Nach einem tiefen Atemzug und mit einem Herzklopfen, dass ihm bis zum Hals reichte, fischte er seinen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. Es musste - Nein, es war zu hundert Prozent Joah. Vielleicht hatte er eine besonders schlimme Auseinandersetzung mit seinem Freund hinter sich und hatte befürchtet, dass dieser ihm folgen würde. Und logischerweise hatte er dann hinter sich abgeschlossen.
Wer sollte es denn sonst sein? Ein Einbrecher würde wohl kaum irgendwo eindringen, um sich ungestört die Seele aus dem Leib zu heulen und manierlich die Tür hinter sich wieder zu schließen. Erst recht nicht, wenn sich besagtes Appartement im vierten Stock befand und an der Tür keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen zu finden waren. Dem 21-jährigen entfloh ein trockenes Lachen und er schüttelte fassungslos den Kopf über sein angstgeleitetes Denken. Collin gab sich einen letzten Ruck, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn dann, sodass das Schloss mit einem weiteren Klacken seine Öffnung bekanntmachte. Bedächtig und noch immer gezügelt von dieser irrationalen Angst drückte er die Wohnungstür auf und betrat mit dieser den stockfinsteren Raum, den Türgriff noch in seiner Hand haltend. "Joah? Kumpel, bist du das?", rief er in die Dunkelheit hinein, seine Stimmlage schwankte unwillkürlich von Sorge zu Verunsicherung. Keine Antwort. Das Wimmern verstummte abermals und hinterließ dabei eine Stille, die dem jungen Kellner den Magen umdrehte. Eine weitere Gegebenheit, die seine plausible Theorie in Grund und Boden stampfte. Keine Nachricht, die Tür war abgeschlossen, das Licht war ausgeschaltet und obendrein bekam er keine Antwort. So sehr er sich auch dagegen sträubte - er musste sich eingestehen, dass das hier alles andere als gewöhnlich war.
Mit einer panischen Ruhe spähten die geweiteten, smaragdgrünen Augen das dunkle Zimmer nach Auffälligkeiten ab. Suchten nach einem Hinweis darauf, wer sich hier befand und vor allem wo diese Person sich nun aufhielt. Vergebens, denn es war alles so, wie Collin es hinterlassen hatte. Durch die unbeschädigte Fensterfront inmitten der gegenüberliegenden Wand fiel das bläulich schimmernde Mondlicht herein und umrahmte somit die Konturen seiner Wohnzimmermöbel. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die hageren Lichtverhältnisse und er konnte bei genauerem Betrachten erkennen, dass Fernseher, Konsole und ähnliche Geräte noch an ihren vorgesehen Plätzen standen. Augenscheinlich war nichts beschädigt oder entwendet worden. Collin bemühte sich, eine Erklärung für das alles zu finden. Im Endeffekt erreichte er damit nur, dass er so langsam an seinem eigenen Verstand zweifelte. Das gespenstische Gejammer konnte er nicht mehr hören... Hatte er es sich nur eingebildet? Hatte sich sein unter Schlafmangel leidender Verstand einen miesen Scherz erlaubt? Ohne es zu merken hielt er den Atem an, als er einige Schritte nach vorne machte und nun mitten in seinem Wohnzimmer stand. Plötzlich überrollte ihn eine unsagbare Kälte wie eine massive Schneelawine und er zog schockiert die eisige Luft ein.
Es war Hochsommer und man fühlte sich auf den Straßen wie ein Stück Fleisch auf dem Grill. Hier drinnen war die Temperatur aller Logik entgegen spürbar auf Minusgrade gesunken, obwohl Collin sich nicht daran erinnern konnte, die Klimaanlage auf eine dermaßen niedrige Temperatur geschaltet zu haben. Obwohl das Unbehagen aus Collins Eingeweiden einen Knoten zu zaubern schien, krallte er sich verzweifelt an eine weitere, vollkommen rationale Erklärung. Die Klimaanlage musste defekt sein. Leise fluchte der junge Mann vor sich hin und schlang dann seine Arme um seinen frierenden Körper, der nun gänzlich von einer Gänsehaut bedeckt wurde. "Hallo? Joah? Könntest du immerhin antworten? Ich weiß, dass du wahrscheinlich Zeit zum Runterkommen brauchst, aber es wäre schon ganz schön, wenn du mir das Ganze mal erklären könntest.", rief der junge Mann ein weiteres Mal entnervt in die finstere Leere des Zimmers. Doch der sonst so selbstbewusste Ton hatte seine Stimme verlassen, verdrängt von der stetig wachsenden Unruhe. Nun bebte seine Stimme zwischen den Sätzen und wurde Wort für Wort leiser.
Keine Antwort. Stattdessen ein weiteres gequältes Schluchzen und ein undeutliches Flüstern. Mit gespitzten Ohren bewegte sich Collin durch den Raum, setzte mit hochgradiger Vorsicht einen Fuß vor den anderen und versuchte, die Quelle des Geräusches auszumachen. Vorhin war eine Tür zugefallen, also musste Joah sich in einem der anderen Zimmer verschanzt haben. Und nach ein paar Momenten des Schweigens konnte er erkennen, dass die gedämpften Töne eindeutig links von ihm und somit aus dem Badezimmer kamen. Dieses grenzte direkt an den gemütlichen Wohnbereich an. Sein Fass drohte überzulaufen und die Frustration war kurz davor, rücksichtslos aus ihm herauszusprudeln. Diese ganze Situation zerrte an seinen bereits überstrapazierten Nerven und der sonst friedliebende Mann könnte für nichts garantieren, sollten diese reißen. Die Wut säte eine andere Erklärung für diese überaus abstruse Situation in seinen Verstand: Das Ganze musste nichts weiter als ein Scherz sein. Ein lächerlicher und unsinniger Scherz seines besten Freundes, der schon immer ein Problem damit hatte, dass Collin allem Paranormalen und Außerweltlichen nicht einen einzigen Funken Glauben schenkte. Er selbst befasste sich mit Gespenstergeschichten und urbanen Legenden in einem ungesunden Maße und ließ sich von seinem Aberglauben nicht abbringen. "Joah, lass den Quatsch und komm da jetzt sofort raus!", forderte der Karamellblonde und stampfte zielsicher auf die geschlossene Tür zu, hinter der das Schluchzen abermals verstummte. " Du hast gewonnen, für einen winzigen Moment hatte ich sogar Schiss. Sogar die Klimaanlage hast du manipuliert, Hut ab."
Doch bevor seine Hand den metallischen Griff erreichen konnte, ertönte unmittelbar hinter ihm ein markerschütterndes, donnerndes Knurren.
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