𝐰𝐞𝐢𝐡𝐧𝐚𝐜𝐡𝐭𝐬𝐰𝐮𝐧𝐝𝐞𝐫
• sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀʏ •
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Richard zog seinen roten Schal bis über die ebenso gerötete Nase. Kleine Atemwölkchen entwichen aus dem Zwischenraum und mischten sich unter das Flockengestöber. Mit vor Kälte starren Fingern stellte er seinen Mantelkragen auf, um sich etwas gegen den pfeifenden Wind abzuschirmen. Die Spuren seiner schlurfenden Schritte waren längst von einer neuen Schicht Schnee bedeckt worden. Nur die schwere Tasche, die gegen seine Schulter drückte, leerte sich nach und nach und ließ den langen Weg erahnen, den er bereits zurückgelegt hatte.
Straßenlaternen beschienen die nächtliche Sycamore Street. Aus den Schornsteinen der Häuser rauchte es. Richard seufzte. Wie gerne hätte auch er jetzt vor dem Kamin gesessen.
Er zog einen Packen Briefe aus seiner Tasche, warf einen prüfenden Blick auf die Anschrift und steuerte das erste Haus zu seiner Rechten an. Während er mit dem Ärmel eine Ladung Schnee vom Briefkasten wischte, blieben seine Augen an den Fenstern hängen. Man hatte die Vorhänge nicht zugezogen und so sah er geradewegs in die hell erleuchteten Stuben. Ein prächtiger Baum nahm fast die gesamte Bildfläche ein. Die Zweige bogen sich unter all den Kerzen, Strohsternen und Lamettafäden. Richard machte sich nicht viel aus dem Krimskrams, aber er stellte sich vor, welche Freude beim Schmücken in der Luft gelegen haben musste. Früher hatte er dieser ganz besonderen Magie nicht widerstehen können. Doch er war müde geworden.
Mit einem Quietschen ließ sich der angefrorene Briefschlitz öffnen. Das Geräusch hallte durch die stille Nacht, bis es von der weißen Decke verschluckt wurde.
Behutsam warf Richard Karte für Karte ein. Man sollte es nicht für möglich halten, dass eine einzige Familie so viel Weihnachtspost bekommen konnte. Er verschloss den Briefkasten und beeilte sich, wieder in Bewegung zu kommen, damit die Kälte nicht zu sehr in seine Knochen kroch. Nur er, der Postbote, schien so spät am Heiligen Abend noch auf den Straßen unterwegs zu sein. Selbst die streunenden Hunde, denen er für gewöhnlich Leckerbissen zuwarf, waren heute wohl anderswo untergekommen.
Mit jedem Haus, das Richard abklapperte, wurde seine Umhängetasche leichter und sein Herz ein Stückchen schwerer. Manchmal vergaß er gar, dass er mit Kuverts und Karten in der Hand vor den Gartentoren stand, so eingenommen war er vom Innenleben der Häuser. Dabei war es nicht einmal so, als hätte er all das noch nie in seinem Leben gesehen. Im Gegenteil. Es war ihm fast, als schmeckte er das zuckrige Aroma von Plumpudding noch immer auf seinen Lippen.
Die Truthähne, die in den Küchen der Sycamore Street schmorten, konnte er beinahe durch verschlossene Fenster riechen. Von diesen war eines schöner geschmückt als das andere. Hie und da wurden noch Girlanden angebracht. Hinter einem anderen Fenster sah er, wie zwei junge Frauen ein Tuch aus feinstem Leinen ausbreiteten und die festliche Tafel deckten. In den meisten Häusern hingen bereits bunte Strümpfe vom Kaminsims, die darauf warteten, befüllt zu werden. Mistelzweige zierten die Türstöcke und wenn Richard die Augen schloss, sah er eine jüngere Version seiner selbst darunter stehen. Er blinzelte den Gedanken weg und stapfte dem herrschaftlichen Gebäude am Ende der Straße entgegen. Selbst wenn er es ernsthaft versucht hätte, hätte er seinen Blick nicht von den großen, rundbogenförmigen Fenstern ablenken können. Halb geöffnete Vorhänge gewährten Sicht auf einen eleganten Flügel, um den die ganze Familie versammelt war und musizierte. Die Lieder drangen nicht bis nach draußen, doch Richard meinte trotzdem, sie wie ein Echo aus längst vergangenen Zeiten zu hören. Er sah in die lachenden Gesichter und sog für einen Moment deren Wärme in sich auf.
„Fröhliche Weihnachten", wisperte er und warf den letzten Brief ein. Dann machte er sich auf den Heimweg. Er hatte gar nicht bemerkt, dass es aufgehört hatte zu schneien. Ein paar einsame Kristalle hatten sich noch in seinem Schal verfangen. Bis er aber seine Haustür erreicht hatte, waren es nur noch durchnässte Flecken in der Wolle.
Richard war gerade im Begriff, aufzusperren, als etwas seine raue Hand streifte. Er ertastete ein Geschenkband, das an der Klinke fixiert worden war. Er hob es an und mit ihm auch das liebevoll verzierte Lebkuchenherz, das daran baumelte. Jemand hatte wohl Mitleid mit einem einsamen, alten Mann.
Er trug den Lebkuchen ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Dann warf er Schal und Mantel über einen Haken und begab sich ins Wohnzimmer. Richards Magen grummelte nach diesem langen Tag, doch er hatte nicht vor, das Lebkuchenherz zu verspeisen.
Stattdessen hängte er es an seinen Platz zwischen den anderen Lebkuchenherzen am Kaminsims. Es waren nun fünf an der Zahl.
Jedes Weihnachten hatte er eines vor seiner Tür gefunden. Jedes Weihnachten, seit seine Eleanore von ihm gegangen war. Er nahm ihr Porträt von der Kommode und hielt den Rahmen mit zittrigen Händen fest. Zu dieser Zeit des Jahres vermisste er sie am meisten.
Während er seinen Gedanken nachhing, schürte Richard mit gebeugtem Rücken den Kamin. Er legte ein Scheit nach. Zwei. Drei. Langsam breitete sich die Wärme des Ofens im Zimmer aus. Richard ließ sich in seinen Ohrensessel neben dem Kamin fallen. Es hätte friedlich sein können, wenn ihn nicht die Leere des Sessels ihm gegenüber so angestarrt hätte.
Er lauschte dem Knacken des Feuerholzes und dem Ticken der Wanduhr. Irgendwann durchbrach der Schneesturm in seinem Kopf die Stille. Er hätte zu gerne gewusst, wer ihm Jahr für Jahr die Lebkuchenherzen schickte und warum. Sie stimmten ihn hoffnungsvoll und traurig zugleich, als würde ihm seine Eleanore noch einmal sanft über die Wange streichen. Vermutlich war es nur eine mitleidige Geste von irgendeiner guten Seele aus der Nachbarschaft. Nett, und doch bedeutungslos. Was war schon Lebkuchen gegen den besten Plumpudding auf Erden?
Irgendjemand hatte Richard einmal gesagt, dass man aufmerksam durchs Leben gehen müsse, um die kleinen Wunder nicht zu versäumen. Doch das Leben hatte ihm den Glauben an Weihnachtswunder längst entrissen. Er starrte auf die Lebkuchenherzen, die die Zeit hart wie Stein gemacht hatte. Doch wenn man sie nur ansah, konnte man das glatt vergessen. Sie waren noch immer kleine Kunstwerke aus Teig und Zuckerguss in allen Farben.
Der Wind pfiff durch das Ofenrohr. Die Uhr tickte. Richards Lider wurden schwerer und schwerer. Da läutete es an seiner Haustür. Er wurde stutzig. Waren zu dieser späten Stunde noch Carolers unterwegs? Mühsam erhob er sich aus dem bequemen Sessel und schleppte sich durch den Flur auf die Tür zu.
Er öffnete sie und kniff die Augen zusammen angesichts der beißenden Kälte, die ihm entgegenschlug. Und dann – lächelte er.
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Diese kleine Geschichte habe ich im Rahmen der weihnachtlichen Schreibchallenge des Profils KuhleKathiisten während meiner Weihnachtsferien geschrieben. Als Vorgabe hatte ich die Wörter "Kaminfeuer", "Lebkuchenherz" und "Schal".
Jetzt ist zwar schon Januar, aber bei mir gilt "we could leave the Christmas lights up 'til January". ✨
Ich hoffe, ihr konntet beim Lesen noch einmal ganz tief die weihnachtliche Luft einatmen. Und jetzt lasst uns nach vorne sehen, in ein neues Jahr. Ich wünsche euch allen, dass ihr Tag für Tag große und kleine Wunder entdecken könnt. <3
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