Kapitel 15 - Ein Tod ist nicht genug
Wenige Minuten zuvor
Tropf. Tropf. Tropf.
Der tropfende Wasserhahn passte perfekt zu Silas' Empfindungen. Träge. Langsam. Dennoch kontinuierlich. Seit Stunden saß er auf dem Hocker hinter seiner Theke, polierte ein Glas nach dem anderen, während sein Blick fest auf die Sitznische rechts von ihm gerichtet war.
Das war er. Der Platz, an dem er die letzten Minuten verbracht hatte, indem sein Leben gerade perfekt schien. Skàdis Lächeln tauchte im Minutentakt vor seinem inneren Auge auf, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Denn immer wieder prasselte die bittere Realität auf ihn ein. Sie würde ihm nie wieder so anlächeln.
Seine Gedanken kreisten, seitdem er ihr Grundstück schlagartig verlassen hatte. Glücklich darüber noch zu atmen. Enttäuscht darüber, dass sie ihm scheinbar nicht einen Funken Zuneigung mehr entgegenbrachte.
Aber was hatte er auch erwartet?
Würde man ihn fragen, wie lange er schon zurück war, würde er mit den Schultern zucken und keine Antwort darauf haben. Die Kneipe lag in einem schummrigen Licht gehüllt, welches von einer einzelnen Glühbirne hinter der Theke kam. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie die letzten Tage zu öffnen. Wofür auch? Er hatte sie von dem ehemaligen Besitzer beinahe geschenkt bekommen und damals hielt er es für eine der besten Ideen, die er jemals hatte. Die Freundschaft zu Skàdi war zerbrochen, aber mit diesem Gemäuer konnte er zumindest die Erinnerung daran aufrecht halten. Nicht einen Tag hatte er an dieser Entscheidung gezweifelt. Doch das hatte sich geändert und er musste sich selbst eingestehen, dass er hier nur an etwas festhielt, was ihm für immer vergönnt war.
Skàdi.
Silas stöhnte auf und stellte das Whiskeyglas in seiner Hand so unsanft ab, dass es sofort zerbrach. Leise vor sich hin fluchend, schob er die Scherben beiseite und griff nach seinem Handy.
Keine Anrufe. Keine Nachrichten.
Natürlich nicht. Weil sich niemand um dich schert, mahnten ihn seine Gedanken und er warf das Handy von sich.
Dabei waren es die Sorgen, die ihm so richtig zusetzten.
Tamo war mittlerweile in den Medien und wurde offiziell als Mörder seiner Eltern gesucht. Der Gedanke, dass er etwas Falsches getan hatte, ließ Silas nicht los. Aber was für Alternativen hätte es gegeben? Sich selbst um den Schutz von Tamo bemühen? Silas war sich sicher, dass dieser seine Eltern nicht getötet hatte.
Das Zeichen.
Sie standen hier einem ganz anderen Problem gegenüber. Einem Problem, welchem Silas machtlos gegenüberstand und Skàdi die Einzige auf dieser verdammten Welt war, die irgendwas an dem Schicksal von Tamo zu ändern vermochte.
Und wieder nahmen seine Gedanken an Fahrt auf und er fragte sich, ob er nicht an ihrer Seite hätte bleiben sollen.
»Ja, klar. Weil sie auch ausgerechnet dich an ihrer Seite braucht«, entfuhr es Silas sarkastisch.
Kopfschüttelnd über sich selbst, stand er auf und wollte sich gerade auf den Weg in das Hinterzimmer machen, als ein leises Kratzen seine Aufmerksamkeit erweckte. Ein Schauer fuhr ihm über das Kreuz und ließ ihn in seiner Bewegung innehalten. Seine Muskeln spannten sich augenblicklich an und seine Sinne schärften sich. Sein Puls stieg an und automatisch sah er sich um. Die silberne Klinge schimmerte ihm entgegen und schon griff er nach dem Messer. Leichten Schrittes lief er um die Theke und versuchte auszumachen, woher das Kratzen kam. In der Dunkelheit sah er sich um und sein Blick wanderte langsam zu der Tür.
Ein weiteres Kratzen bestätigte ihm, dass er den Ursprung des Geräusches gefunden hatte.
Jemand stand vor der verschlossenen Tür. Oder war es eine Katze und seine Sinne spielten ihm nur einen Streich?
Kleine Nebelwolken stiegen aus seinem geöffneten Mund, als sein warmer Atem auf die kalte Luft um ihn stieß. Zu spät bemerkte er diesen Umstand und die Gänsehaut, welche sich im selben Moment auf seine Haut legte, hätten ihm eine Warnung sein sollen.
Mit einem lauten Krachen splitterte die Tür aus ihrer Verankerung und ließ ihn erschrocken zurückstolpern.
»Silas. Silas. Silas«, dröhnte es ihm dumpf entgegen.
»Ich hätte Besseres von dir erwartet.«
Silas stockte der Atem und eine, sich tief ins Mark fressende Angst breitete sich in ihm aus.
»Nein«, entfuhr es ihm, als seine Augen die drei schwarzen Umhänge erspähten.
Das weiße Zeichen auf ihren Kapuzen stach ihm entgegen und ließ seinen steifen Körper in die Knie sacken.
Seine Lungenflügel pressten sich schmerzhaft zusammen und drückten den letzten Sauerstoff heraus. Panisch wanderten seine Hände zu seiner Kehle, während die eisige Kälte ihm ein Brennen durch den Rest seines Körpers schickte. Doch so schnell, wie es angefangen hatte, war es auch wieder verschwunden. Seine Lunge breitete sich aus, er ließ von seiner Kehle ab und stützte sich, nach vorn gebeugt, auf seine Hände. Tiefe Atemzüge ließen ihn wanken, weil der plötzliche Sauerstoff sein Hirn überforderte. Doch er wusste, dass ihm keine Zeit blieb. Er kämpfte sich zurück auf die Knie und sah sich suchend nach dem Messer um.
Doch schon baute sich vor ihm eine Dunkelheit auf und noch, während Silas den Kopf hob, packten ihm blasse Hände am Shirt und stießen ihn mit übermenschlicher Kraft nach hinten. Mit einem lauten Krachen schlug er durch die Hocker, welche unter seinem Gewicht brachen. Er brüllte auf, als er vernahm, wie seine Haut unter den eindringenden Holzsplittern aufplatzte. Sterne tanzten vor seinen Augen und doch war er nicht bereit aufzugeben.
Sich abstützend, versuchte er sich aufzurichten, schon traten die dunklen Schuhe in sein Sichtfeld. Der nächste Schmerzimpuls schoss durch seinen Kiefer und ließ Silas machtlos zu Boden krachen. Sein Schädel schlug dumpf auf die Holzdielen und sofort quoll das Blut aus einer Platzwunde am Hinterkopf. Pulsierende Wellen des Schmerzes zogen sich durch seinen Schädel und weiteten sich durch den Rest seines Körpers aus. Er konnte versuchen weiterzukämpfen, doch ebenso gut konnte er aufgeben. Es würde keinen Unterschied mehr machen.
Er hörte die näherkommenden Schritte und legte seine Arme schützend über seinen Kopf, darauf wartend, dass die nächsten Schläge seinen Körper brechen würden. Er vernahm ein leises Rascheln, als sich einer seiner Angreifer zu ihm kniete und der Stoff dessen Umhangs, sich kunstvoll auf dem Boden zusammenfaltete.
»Was wollt ihr?«, sagte Silas leise, während er den brennenden Blick auf seinem Leib spürte.
Ein dunkles Lachen hallte durch die leere Kneipe.
»Reden«, erhielt er als Antwort, währenddessen er im Genick zurück auf seine Beine gezogen wurde, nur um im nächsten Moment rücklings gegen die massive Thekenplatte gedrückt zu werden.
Die Schmerzen in seinem Körper vermischten sich zu einem pulsierenden Brei und ließen sich nicht mehr zuordnen. Sein Geist verlor sich langsam in einem grauen Nebel und Silas hoffte, dass dieser sich schnell durch die tiefschwarze Dunkelheit ablösen würde. Eine Hand umschloss seine Kehle und schien ihm diesen Wunsch erfüllen zu wollen. Sofort schnappte er erneut nach Luft, doch nichts, außer dass der Druck in seinem Kopf anstieg, passierte. Ihm wurde schwindlig. Seine Sicht verschwamm endgültig und er war gewillt, sich seinem Schicksal hinzugeben.
»Es reicht«, zerriss eine weitere Stimme den Raum.
Ein leises Knurren drang in Silas Ohr und mit ihm ließ der Druck um seine Kehle nach.
Wieder krachte er auf dem Boden auf, doch diesmal blieb er regungslos liegen.
»Wo ist er?«
Silas reagierte nicht.
»Wo ist er?«, wurde die Frage unmittelbar wiederholt.
Schweigen. Silas konzentrierte sich darauf, trotz der Schmerzen tief zu atmen und gegen die ansteigende Übelkeit anzukämpfen.
Ein reißender Schmerz kündigte die gebrochenen Rippen an, welche der Angreifer ihn gerade mit einem gezielten Tritt verpasst hatte. Silas brüllte voller Qual auf und krümmte sich zusammen.
»Wo ist er?«, ertönte die gleiche emotionslose Stimme erneut.
»Nicht. Nicht hier«, brachte Silas hustend hervor.
Blut vermischt mit Speichel lief ihm über die Unterlippe und hinterließ einen ekelhaften Geschmack in seinem Mund.
»Wo ist er?«
Silas schloss die Augen. Würde er weiter schweigen, wäre es sein sicherer Tod. Aber er konnte sie auf keinen Fall verraten. Um nichts in der Welt würde er denselben Fehler noch einmal begehen. Er drehte sich vorsichtig wieder auf den Rücken und zog langsam seine Hand von der Brust. Mühsam hob er diese und streckte einen Mittelfinger in die Höhe.
»Fickt euch!«
Doch anstatt eines weiteren Schlages hörte er nur ein gehässiges Lachen.
»Er ist also schon bei ihr. Sehr schön!«
Eine bittere Gewissheit durchfuhr ihm und ließ seinen letzten Widerstand im Nichts versinken. Er war nicht in der Lage sie zu schützen. Weder heute noch damals.
»Wo das geklärt ist, haben wir nur noch eine Bitte an dich.«
Silas öffnete seine flatternden Lider und neigte leicht den Kopf. Die Dunkelheit um ihn zog sich langsam zusammen. Sein trüber Blick machte es ihm kaum möglich mehr als Schatten zu erkennen und doch zwang er sich zu einem Lächeln.
»Fickt euch«, murmelte er erneut.
Wieder hallte ein dumpfes Lachen durch den Raum.
»Es ist nicht so, als würden wir deine Einwilligung dazu brauchen.«
Ehe er etwas erwidern konnte, wurde er erneut vom Boden geschliffen. Diesmal jedoch nicht auf seine Beine, sondern an die Wand der Theke. Wankend lehnte er sich an den harten Hintergrund und presste die Zähne zusammen, während die Schmerzen in seinen Körper erneut aufflammten. Er vernahm die silberne Klinge, welche sich in Zeitlupe auf ihn zubewegte.
»Nein«, raunte er, nicht mehr imstande seiner Stimme Nachdruck zu verleihen.
»Tut ihr das nicht an«, fügte er hinzu, doch schon zerriss ein glühender Schmerz seine rechte Flanke.
Das kalte Metall schob sich durch sein weiches Fleisch und zerfetzte ihm die Haut. Das Blut sickerte aus der tiefen Wunde und um seinen Leib bildete sich eine Blutlache. Mit jedem Herzschlag spürte er, wie das Leben langsam aus ihm schwand.
»Liebe Grüße«, raunte der Vermummte, wandte sich mit seinen Gefährten von Silas ab und schon verließen sie die Kneipe.
Silas vernahm das Klicken der zufallenden Tür. Sein Kopf war zu einem unaufhaltsamen Karussell geworden und dennoch kämpfte er gegen die stärker werdende Dunkelheit an. Blut stieg ihm den Rachen nach oben und löste einen unausweichlichen Hustenreiz aus. Blut spuckend, wanderte seine Hand langsam zu dem Messer, welches sich immer tiefer in seinen Körper schob. Mit der letzten Kraft umschloss er den Schaft und hielt die Luft an. In Zeitlupe zog er die Klinge vorsichtig aus der Wunde und zischte dank der neuen Schmerzensschübe.
Dennoch hielt er nicht inne. Er tat es nicht für sich. Er tat es für sie.
Als die Klinge seinen Körper verlassen hatte, ließ er das Messer aus seiner Hand gleiten und atmete erleichtert auf. Der Blutschwall verstärkte sich und sein Leib wurde langsam schwer wie Blei. Seine Gedanken verschwammen und wurden von einem weichen Nebel umhüllt.
Und endlich vernahm er sie. Diese vertraute Kälte. Wie ein alter Freund umarmte sie ihn und zog ihn langsam ins Nichts.
Lass los, mahnte er sich selbst.
Und das tat er, hoffend, dass ihm diesmal der Tod gegönnt war.
»Es tut mir leid, Skàdi. So leid«, waren die letzten murmelnden Worte, die seine Lippen verließen.
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