IX - Karin

Flackernd erwachte Karins auf dem Boden liegende Taschenlampe zum Leben und warf einen grellen Keil in den vom Sturm leer gefegten Raum. Auf den Betten waren immer noch schemenhaft die Mumien der beiden Schatzjäger zu erkennen und erinnerten sie daran, was ihr bevorstand. Von Anna keine Spur. Jedoch stand die Tür des Panikraums, sie war überzeugt, dass es sich darum handelte, weiterhin offen.

Erschöpft sank sie in die Hocke und legte ihr Haupt auf die Arme. Feuchtigkeit sickerte aus ihren Augen in die Armbeuge und es schnürte ihr die Kehle zu. In was war sie hier nur hineingeraten? Und wie kam sie wieder heraus? Sie sollte leisten, was zwei professionelle Schatzjäger nicht geschafft hatten. Das war ein Witz. Woher sollte sie die Kombination nehmen? Die Ansage des Geistes jedoch war eindeutig. Also würde sie hier sterben. Genauso wie die beiden. Was sonst?

Als ihre Beine langsam drohten einzuschlafen, griff sie sich die Taschenlampe, erhob sich stöhnend und wischte sich Staub und Tränen aus dem Gesicht. Was für eine Scheiße. Aber noch war sie keine Mumie. Auch ohne Wasser würde sie sicher einige Tage durchhalten. Genug Zeit, um einen Ausgang zu finden. Wer weiß, ob nicht bereits eine der Außenmauern eingefallen war oder sich zerstören ließ. Und eventuell fand sie ja doch einen Zettel mit der Kombination des Safes. Besonders wahrscheinlich war das jedoch nicht.

Ihr dringendstes Problem war ein anderes: Licht. Leider war sie für ein professionelles Taschenlampenmodell zu knauserig gewesen, die hielten locker hundert Stunden oder mehr. Ihr Billigteil wäre bald durch. Mist. Blieb nur zu hoffen, dass morgen früh tatsächlich Helligkeit hereinfiel.

Um keine weitere Zeit zu verschwenden, griff sie sich ihren Rucksack und verließ den Raum. Ihr erstes Ziel war, einen Ausgang zu finden, der keine Tür oder Fenster benötigte. Sicher beobachtete der Geist sie, aber das ließ sich nicht ändern. Zunächst würde sie es nochmals mit dem Offensichtlichen versuchen: der defekten Haustür. Und sich dabei nicht von Anna ins Bockshorn jagen lassen.

Während sie erneut dem Gang in Richtung Eingangshalle folgte, fragte sie sich, wie viel Macht diese Entität wirklich hatte. Okay, sie konnte Fenster versiegeln und einen Sturm entfachen. Jedoch keinen Tresor öffnen? Oder wollte sie den Safe bewusst von jemanden anderes aufmachen lassen? Was trieb diesen Geist mit dem Gemüt einer Achtjährigen an? Ein normales Kind würde sich vermutlich um seine Eltern oder Freunde sorgen, wenn es sich so aufregte.

In Gedanken vertieft betrat sie die weitläufige Halle und schaute sich um. Niemand wartete hier. Sie lag verwaist vor ihr, wie beim ersten Betreten. Leider war die Haustür jedoch geschlossen. Ein kurzes Rütteln zeigte ihr, dass diese jetzt genauso versiegelt war, wie die Fenster. Verflucht. Anna hatte offenbar vorgesorgt. Ihre Hoffnung, einen Ausgang zu finden, sank damit rapide. Der Geist kannte das Gebäude auswendig und würde sich vermutlich keine Fehler leisten. Außerdem war er in der Lage es zu verändern. Wie ihr hier eindrücklich bewiesen wurde. Es war sogar anzunehmen, dass Anna entscheiden konnte, wen sie hineinließ und wen nicht. Ihre geheime Hoffnung, dass jemand nach ihr suchen und sie befreien würde, begrub sie damit ebenfalls.

Unschlüssig ließ sie den Lichtkegel durch die Halle wandern. Hier käme sie nicht weiter. Daher öffnete sie die Türen, durch die sie bisher noch nicht geschritten war. Die Untersuchung einzelner Räume mit zerstörtem Mobiliar schenkte sie sich, was sie brauchte, war ein Ausgang. Dabei durchquerte sie einem wahren Irrgarten. Von jedem Zimmer führten zwei oder drei Türen in das nächste. Ein paar Mal lief sie im Kreis. Probierte Fenster zu öffnen und testete die Festigkeit der Wände mit einem kräftigen Tritt. Dort war kein Durchkommen.

Nach gefühlten zwei Stunden war sie sich ziemlich sicher jeden der Räume im Haupthaus der Villa abgeklappert zu haben.

Weitere drei Stunden später hatte sie auch alle fünfundfünfzig Zimmer im altertümlichen „Hoteltrakt", wie sie die langen Flure nannte, durch.

Ohne Erfolg. Ihre Befürchtung, dass Anna das Gebäude hermetisch versiegelt hatte, verfestigte sich. Verflucht. Am Ende stand sie erneut in der Eingangshalle, sicher, dass kein weiterer Ausgang existierte, den der Geist übersehen hatte. Und nun?

„Anna?", rief sie in den leeren Raum. Ihre Stimme wurde von den Wandbehängen und dem Stuck an der Decke geschluckt. Nichts regte sich.

„Anna? Bitte. Ich muss mit dir reden. Um den Tresor zu öffnen, brauche ich Hilfe. Allein schaffe ich das nicht", versuchte sie es erneut.

Keine Reaktion. Nur totenstille und tintenhafte Finsternis, die jenseits des Lichtscheins ihrer Taschenlampe zusammenfloss, als hätte hier nie etwas anderes existiert.

Alle ihre nachfolgenden Rufe, Bitten und Flehen blieben unbeantwortet. Langsam fragte sie sich, ob die Erscheinungen, Anna und die Schatzsucher, nicht einfach nur ihrer überdrehten Fantasie entsprungen waren. Und vielleicht waren Haustür und die morschen Fensterläden problemlos zu öffnen und sie bildete sich nur ein, dass dem nicht so war. Auszuschließen war das nicht. Aber half es ihr weiter? Nein. Wenn man nur fest genug an die eigene Realität glaubte, wurde sie real. Zumindest für die Person, mit dem Glauben. Es benötigte eine zweite, eine Außensicht, um sie von der Zwangsvorstellung zu erlösen. So viel hatte sie in den Vorlesungen an der Uni verstanden. Leider war sie hier jedoch ganz allein. Es existierte kein Therapeut, mit dem sie diskutieren konnte, warum sie durch die Vordertür zwar hinein- aber nicht mehr hinausgelangen konnte. Eventuell konnte sie sich selbst therapieren?

Ein heiseres Lachen hallte durch den Raum. Erschrocken ließ sie ihren Lichtkegel über die Wände, Porträts und Böden springen. Nur, um im nächsten Moment zu realisieren, dass sie es war, deren trockener Kehle sich dieser verzweifelte Laut entrungen hatte. Oh, Mann. Vermutlich würde sie sich bald aus purer Verzweiflung bewusst den Kopf einschlagen, ehe sie hier verdurstete.

Ihr gingen die Optionen aus – und die Batterien. Der Schein der LEDs war bereits deutlich geschwächt. Leuchtete die Apollo-Büste bei ihrem ersten Betreten im gleißenden Weiß, so war es inzwischen ein kränkliches Gelb, dass vom nahen Ende jeglichen Lichtes und absoluter Finsternis kündete. Der leicht arrogante Zug um die Lippen des Götterboten und sein missfälliger Blick forderten sie auf, es doch endlich sein zu lassen und ihr Schicksal mit Demut zu akzeptieren. Was für ein Wichser.

Während sie sich noch überlegte, was sie ihm ins Gesicht schmettern konnte, um dieses boshafte Lächeln auszuradieren, streifte eine leise Melodie ihr Ohr. Stünde sie nicht zufällig konzentriert und regungslos, hätte sie die sanfte Weise sicherlich überhört. Doch sie war eindeutig zu vernehmen. Kam sie von Anna, die sie verwirren wollte oder einen Spaß mit ihr trieb? Nein, das machte keinen Sinn. Der Geist handelte bisher – im Rahmen seiner Gedankenwelt – halbwegs rational. Allerdings hatte sie ja bereits in einer Selbstdiagnose festgestellt, dass es um ihren eigenen Geisteszustand vermutlich nicht besonders gut bestellt war.

Trotzdem hielt sie die Luft an. Drehte sich langsam im Kreis und horchte nach der Quelle. Schrittweise, als näherte sie sich einem scheuen Vögelchen, schlich sie mit minimalem Knarzen durch die Halle. Der Singsang verstummte. Mist. Aber sie war sich sicher, dass er aus einem der Gänge auf der gegenüberliegenden Seite kam und folgte der Richtung. Ob verrückt oder nicht, jede Chance war besser als keine.

Als sie den bekannten Korridor betrat, der zum eingestürzten Raum führte, war das Lied erneut zu vernehmen. Deutlicher dieses Mal und eindeutig eine Frauenstimme.

„In dieser stillen Weihnacht,

denk' an die, die nicht mehr sind,denn ihre Liebe lebt in uns,wie der Schnee im Winterwind.Lass uns feiern, lass uns trauern,in dieser Heiligen Nacht,denn der Tod ist ein Geschenk,das uns alle glücklich macht."

Sie ließ die melancholischen Worte in sich wirken, während sie weiter in Richtung der Quelle schlich. Es ging um Weihnachten und Gestorbene, kein Wunder. Aber der Tod ein Geschenk, dass glücklich macht?

Einige Meter vor ihr trat eine Gestalt, vermutlich die Sängerin, aus dem eingestürzten Raum. Mit wiegenden Schritten bewegte sich die Frau in die entgegengesetzte Richtung davon und hinterließ ein Hauch von Lavendel und Patschuli. Ihre hochgesteckten Haare sowie ein mit Pailletten besetzter Blazer mit hohen Schulterstücken, erinnerte sie an die Mode der Achtziger oder frühen Neunziger. Eindeutig festlich, aber scheußlich anzusehen. Anna hatte sie in ihrem biederen, bestickten Kleid und mit ihrer beinahe förmlichen Ausdrucksweise eher in das vorvorletzte Jahrhundert einsortiert. Diese Frau, die sicherlich ebenfalls nur eine Geistererscheinung war, könnte jedoch problemlos bei der tödlichen Familienfeier anwesend gewesen sein. Dazu passte auch der Text ihres Liedes.

Sollte sie sie ansprechen oder ihr folgen? Nichts garantierte ihr, dass dieses Gespenst sich genauso „rational" verhielt wie die Achtjährige. Karin entschied sich für Letzteres. Eventuell bewegte die Frau sich zu relevanten Orten und brachte ihr eine Eingebung, wie sie hier heraus kam oder die Tresorkombination finden konnte. Der weitere Text des Liedes war ähnlich traurig und drehte sich um Weihnachten und den Tod, verhalf ihr jedoch zu keinen neuen Erkenntnissen. Nach rund zehn Schritten und einer spielerischen Pirouette bog der Geist in einen Raum auf der rechten Seite ab. Er musste sie spätestens bei seiner Drehung wahrgenommen haben, aber ignorierte sie. Oder wollte er, dass sie folgte? Zügig schlich sie ihm hinterher und lugte um die Ecke in das fragliche Zimmer. Wie alles in dieser verfluchten Villa war es ebenfalls stockfinster. Abgesehen von Annas Ausbruch vorhin, schienen die Gespenster hier auch nicht zu leuchten, wie man es immer in Büchern liest.

Der Gesang verstummte. Kurz darauf setzte ein regelmäßiges, hölzernes Knarzen ein. Es erinnerte sie an die Schaukel bei Opa Hennrich. Das waren damals nur zwei grobe Seile an einem knorrigen Apfelbaumast mit einem selbstgezimmerten Brett dazwischen. Beim Schwingen war das Geräusch ähnlich und hatte ihr eine Gänsehaut über den Rücken getrieben. So auch hier. Was zum Teufel trieb das Gespenst dort drin? Sie schluckte trocken. Hoffentlich war es kein Körper, der an einem Dachbalken hin und her schwang.

Nochmals atmete sie tief durch, wappnete sich für das Schlimmste und leuchtete mit der Taschenlampe hinein.

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