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„Schwörst du, solange dein Herz schlägt diesen Ort und jeden seines Gleichen zu beschützen, sowie den Frieden weiterzugeben, welcher sich über die umgebenden Baumspitzen senkt? Dann nimm dieses Schwert in deine Hand und erfülle deine Pflicht."
~Migondra Silvados, Oberpriesterin des Silva-Tempels
Frustriert rammte sie ihr Schwert in den Boden und sah zu, wie die Silhouetten sich zwischen den dunklen Schatten der Bäume verloren. Es hatte keinen Zweck ihnen nachzulaufen. Sollten die Diebe dumm genug sein zurückzukommen, würde ihnen auch der gnädige Schutz des Waldes nicht mehr viel bringen. Lacalia steckte die Klinge ihrer Waffe zurück in die Schwertscheide an ihrem Gürtel und drehte sich um.
Das leise Rascheln der Blätter und ihre dumpfen Schritte waren das Einzige, was die nächtliche Stille das Waldes durchbrach, als das Mädchen sich zurück zu dem Tempel begab, welcher tief im Waldinneren lag. Sie merkte, wie ihre Schultern ihre Anspannung verloren und ihr Herzschlag sich nach der hektischen Verfolgungsjagt normalisierte. Wie eine warme Decke hüllte sie ein sanfter Wind ein und wirbelte kaum merklich ein paar Blätter vom Waldboden auf.
Lacalia war im Silberwald aufgewachsen. Sie kannte jeden Baum, jede Lichtung und jeden Fels, der die ebene Fläche des Waldbodens zerstörte und sie hatte geschworen jedes dieser Dinge mit ihrem Leben zu verteidigen.
„Lacalia!" Eine vertraute Gestalt näherte sich. Amistea hielt ihr gezücktes Schwert vor sich und sah sich misstrauisch um. Ihre Position war wachsam, bereit jeder Zeit die Klinge vor sich einzusetzen oder in einen Sprint zu verfallen, um Gegner zu verfolgen. Müde schüttelte Lacalia den Kopf und seufzte, wissend darüber was ihre Freundin mit ihrer Körperhaltung ausdrückte. „Sie sind entkommen", antwortete sie schließlich auf die stumme Frage.
Das Mondlicht, welches durch die Lücken im Blätterdach auf sie fiel, reflektierte sich in den Rüstungen der beiden und erhellte Amisteas Gesicht vor ihr. Ihre Augen wurden weicher, als sie auf Lacalia fielen und sie strich sich eine kurze, braune Haarsträne aus dem Gesicht, bevor sie ebenfalls ihr Schwert wegsteckte.
„Komm, wir dürfen den Wachposten nicht zu lange verlassen", seufzte sie schließlich und führte die beiden zurück ins Waldinnere. Lacalias Laune hob sich, als Laternen das schwache Mondlicht ablösten und ihre Augen auf die riesigen Baumhäuser trafen, die knapp unter den Baumkronen der hohen Stämme erbaut waren. Die Brücken zwischen den scheinbar schwebenden Gebäuden schaukelten sanft im Wind.
Menschenleer erhob sie der Ort über ihren Köpfen, als sie ins Innere voranschritten und sich schließlich aufteilten, um die Umgebung abzusichern. Kleine Felder und Obstbäume reihten sich am Rand des Weges oder auf ein paar wenigen Lichtungen im Inneren des Tempelkomplexes an. Das sanfte Licht kreierte eine magische Atmosphäre und ließ den Ort um sie herum noch mystischer wirken.
Ihre Schicht, dessen Ruhe nur durch das gelegentliche Grüßen anderer Wachen durchbrochen wurde, verlief solange, bis die ersten Bewohner aus ihren Häusern kamen und die Wege, sowie die Brücken darüber füllten. Priester die zum Morgengebet eilten und Ritter, welche sich auf den Weg zum Trainingsplatz oder ihren Schichten machten. Auch Auszubildende von beiden Sorten reihten sich in den morgendlichen Trubel ein, bereit ihre zugeteilten Autoritäten von ihrem Können zu überzeugen.
Nachdem Lacalia von einer Gruppe Waisenkinder begrüßt wurde, erreichte sie den Abschnitt des Tempels, in dem die Ritter ihre Behausung besaßen. Amistea schleppte sich bereits die schmale Wendeltreppe hoch, welche einen Eingang zum erhöhten Teil des Tempelkomplexes darstellte.
So sehr sie sich auch danach sehnte sich eine Weile hinzulegen oder zumindest etwas zu essen, um ein wenig Energie zu gewinnen, wusste sie, dass sie in Schwierigkeiten geraten würde, wenn sie den nächtlichen Vorfall nicht meldete.
Nachdem Lacalia ihre Brustplatte und Arm- und Beinschoner in einer Hütte neben der Lichtung verstaut hatte, begab sie sich tief in das Innere des Komplexes. Mit jedem Schritt wurde das morgendliche Treiben ruhiger und die Baumhäuser kleiner und weniger. Der Geruch unzähliger Wildblumen schlich sich in ihre Nase, während Vögel in den leicht besiedelten Baumkronen ihre Lieder trällerten. Sie fragte sich, welche Geschichten sie zwischen ihren Melodien erzählten oder ob sie einfach nur um ein paar Würmer stritten.
Plötzlich brachen die Bäume aus ihrem Sichtfeld weg. Sattgrünes Gras streckte sich vor ihr aus, gespickt mit kleinen Blüten und wenigen Schmetterlingen. Die riesige kreisförmige Lichtung stellte das Zentrum des Silva-Tempels dar, in dessen Mitte wiederum ein gigantischer Baum stand. Es wirkte so, als ob die übrigen Bäume ehrfürchtig von ihm wegweichen würden, um ihm genügend Platz zu geben, seine Wurzeln unter der Erde auszustrecken. Niemandem war es erlaubt ihn zu berühren, selbst dem Baum nahe zu treten war unvorstellbar. Nur der Oberpriesterin war dieses Privileg vergönnt, der einzigen ernannten Führungsposition.
Migondra Silvados kniete neben einer großen Wurzel, die sich aus dem Waldboden erhob. Darauf bedacht auf keine, der hauptsächlich noch halb geschlossenen Blüten zu treten, bahnte Lacalia sich vorsichtig einen Weg zu ihr, um schließlich mit genügend Abstand von der Priesterin stehen zu bleiben.
Es dauerte eine Weile bis die Frau sich erhob und zu ihr umdrehte. Ihr Gesicht, welches von leichten Falten geziert war nahm einen überraschten Ausdruck an, als sie Lacalia erblickte.
„Was führt dich zu mir Lacalia?", fragte sie sanft und ihre Augen, welche scheinbar die braune Rinde des Baumes hinter ihr nachahmten, musterten die Elfe, welche nervös an ihrem Siegelring spielte. „Es gab erneut einen", sie zögerte, „Vorfall." Die Gesichtszüge der Frau verhärteten sich.
„Ist es ihnen gelungen etwas zu entwenden?" Lacalia schüttelte den Kopf und atmete erleichtert aus. Die Einbrüche in den Tempel, welche sich in letzter Zeit immer mehr häuften, waren ein sensibles Thema bei den meisten Tempelbewohnern. Oft wurde eine Meldung aktiv ignoriert und die Anzahl der täglichen Gebete beinahe verdoppelt.
„Ich konnte sie aufhalten bevor es dazu kam, aber es ist mir leider nicht gelungen sie zu fassen." Migondra nickte zufrieden. „Geh dich ausruhen, du hattest eine lange Schicht hinter dir", sagte sie und drehte sich um, um ihr vorheriges Gebet zu wiederholen. Lacalia biss sich auf die Unterlippe.
Der strenge Glaube daran, dass die „Vorfälle", wie die Priester sie nannten, einfach verschwinden würden sobald man den Wald um mehr Schutz bat, war in ihren Augen Unsinn.
Ein schweres Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus, als sie darüber nachdachte. War es ihr überhaupt gestattet daran zu zweifeln? An der Religion, der sie ihr Leben verschrieben hatte? Beschämt verließ sie die Lichtung und stolperte zurück ins Waldinnere.
„Bei den Goldspitzen, was ist nur los mit mir?", fluchte sie, als sie über die nächste Wurzel stolperte. Sie sollte sich hinlegen, die Müdigkeit betrübte ihr rationales Denken und beeinflusste ihre Konzentration. Was hatte sie sich nur dabei gedacht sich freiwillig für eine weitere Nachtschicht zu melden?
Dieser Zustand konnte ihr Schwierigkeiten bereiten und sie hatte sich nicht ihr Leben lang gute Beziehungen zu den Autoritäten des Tempels aufgebaut, um diese wegen ein wenig Erschöpfung zu verlieren.
Amistea lag bereits in ihrem Bett, als Lacalia in ihre schwach beleuchtete Behausung trat. Seufzend verstaute sie Schwert und Schuhe, bevor sie sich auf die weiche Matratze sinken ließ. Die Tempelritter konnten stolz behaupten, die besten Betten in der gesamten Anlage zu besitzen. Nach der Ansicht der Naturreligion war Schlaf eines der wichtigsten Güter für erfolgreiche Arbeit. Wenn diese daraus bestand ein Schwert mit sich zu tragen und Gegner abzuwehren, war dies also essentiell.
Doch auch mit der weichen Seidendecke, welche sie bis unter die Nasenspitze zog, fand der Sturm aus Gedanken in ihrem Kopf keine Ruhe. Hatte die Oberpriesterin bemerkt, dass sie gezweifelt hatte? Sie betete dafür, dass dem nicht so war und schloss direkt daran ein richtiges Gebet an den Wald an.
Doch das Zwitschern der Vögel in der Baumkrone über ihr, die Rufe der Leute unter ihr und Amisteas leichtes Schnarchen neben ihr, pochten wie ein Hammer auf sie ein, als würden sie eine Skulptur schaffen wollen, ohne Rücksicht auf den zerbrechlichen Stein zu nehmen.
Zum hundertsten Mal wälzte sie sich auf die andere Seite und beobachtete, wie der silberne Anhänger ihrer Kette auf die Matratze fiel. Der fein gearbeitete Baum wirkte im spärlichen Licht fast schwarz, als sie ihn vorsichtig vor ihre Augen hob. Er sollte sie daran erinnern, wo sie hingehörte, genau wie der hölzerne Ring an ihrem rechten Zeigefinger den sie überreicht bekommen hatte, als sie zur Tempelritterin geschlagen wurde.
Auch wenn dies der schönste Moment ihres Lebens gewesen war, konnte er nicht mit dem kleinen Anhänger mithalten, den sie seit über zehn Jahren um den Hals trug. Die Person, welche ihn ihr einst überreicht hatte, war die die am nächsten an eine Mutter an ihrem Leben herankam. Sie und Amistea waren die einzige Familie die sie besaß, außer der erzwungenen Familiendynamik, welche die Priester verzweifelt umzusetzen versuchten.
Seit sie denken konnte, wurde daran gearbeitet sie in diese Familie einzufügen, sie in eine Schublade zu stecken, in die sie nie richtig gepasst hatte. Doch jeder der als Waisenkind in einen Tempel gebracht wurde erlebte dies, weshalb viele von ihnen nach dem sie sechzehn Jahre alt wurden den Tempel verließen. Doch Lacalia hatte ihre Schublade hier gefunden, ihre kleine von Nägeln und Brettern zusammengehaltene Schublade in der sie sich wohl fühlte. Mit diesem Gedanken und einem Lächeln auf den Lippen, empfing sie schließlich die Welt der Träume.
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by Poldi0710
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