6. Kapitel

„Was?", schrie Elli beinahe.

„Ich glaube Maxim ist tot und André lebt", flüsterte ich. Bei meinen eigenen Worten wurde mir bitterkalt. André hatte nie etwas für seinen Bruder übrig, aber würde er so kaltblütig sein, um ihn zu töten?

„Ich wusste, dass irgendetwas an ihm faul ist", knurrte Elli. „Aber bist du dir wirklich sicher?"

Ich nickte tonlos. Zu tief saß der Schock.

„Wir müssen das unbedingt der Polizei sagen", sagte Elli sofort. „Nicht nur, dass es Adrian helfen kann, wir müssen dich unbedingt vor ihm schützen. Wer weiß, zu was er noch alles in der Lage ist."

Wie in Trance nickte ich nochmals. Ich hatte das Gefühl, als würde ich neben mir stehen und die Geschehnisse als fremde Person verfolgen. Erst, als wir vor die Tür traten, kehrte ich in die Realität zurück.

„Gianna?" Elli schnipste mit den Fingern.

„Tut mir leid, was? Ich hab dir nicht zugehört", sagte ich entschuldigend.

„Ich habe gefragt, wie wir zur Polizei kommen. Sollen wir uns ein Taxi nehmen?"

„Ich frage Nate. Es wäre besser, wenn wir nicht alleine rumlaufen, wenn André wirklich noch lebt", murmelte ich und wählte abermals Nate's Nummer. Ich war mir sicher, dass er mir irgendwann den Hals umdrehte, wenn ich ihn weiter als privaten Chaffeur missbrauchte.

„Hast du schon Sehnsucht nach mir?", ging Nate an sein Handy.

„Kannst du Elli und mich zur Polizei fahren? Es ist wirklich dringend", bat ich ohne Umschweife.

„Ich bin schon unterwegs." Mit diesen Worten legte er auf.

„Nate kommt. Er müsste in ungefähr fünfzehn Minuten hier sein", informierte ich Elli. „Ich kann Nate übrigens gerne fragen, ob er dich danach nach Hause fahren kann. Ich habe dich wirklich gern bei mir, aber ich kann auch verstehen, wenn du Zeit für dich brauchst oder sie mit Mason verbringen möchtest."

Elli lehnte meinen Vorschlag mit einem merkwürdigen und dankenden Lächeln ab.

„Was ist los zwischen dir und meinem Bruder?", fragte ich.

„Nichts, alles Bestens", sagte sie und winkte ab. Ich zog bloß eine Augenbraue in die Höhe. „Na schön. Ich habe ihn rausgeschmissen."

„Wieso das denn?" Ein wenig geschockt war ich definitiv, vor allem weil Elli mir nichts davon erzählt hatte.

„Er hat mich betrogen", sagte sie leise und konnte mir nicht in die Augen sehen.

Sofort drückte ich sie fest an mich. „Das tut mir so leid. Gott, ich werde ihn umbringen!", zischte ich aufgebracht. Wie konnte Mason bloß so dumm sein?

„Ich will nicht, dass es komisch zwischen euch wird, deswegen hab ich auch nichts gesagt", sagte Elli und sah mich zögernd an.

„Das kann ich verstehen und trotzdem werde ich ihm dafür den Hintern versohlen", brummte ich. „Selbst Schuld, wer so eine tolle Frau wie dich gehen lässt."

Elli lächelte mich dankbar an und legte die Arme um mich, um mich fest zu drücken. „Ich hab dich Lieb, G."

Nate bremste zehn Minuten später vor uns ab. „Was ist passiert, dass ihr beide zusammen zur Polizei möchtet?"

„André war hier", sagte ich, während Elli und ich einstiegen.

„Bitte was?", fragte Nate geschockt, während er wendete. Durch den Rückspiegel sah er mich fassungslos an.

„Wir glauben, dass Andrés Bruder Maxim derjenige ist, der tot ist. Wahrscheinlich hat André ihn getötet, um es Adrian in die Schuhe schieben zu können. Dann hat er freie Bahn, was Gianna angeht", erklärte Elli unsere Theorie. Ich spürte förmlich, wie die Stimmung im Auto umschwang. Nate war tierisch wütend, was ich bei ihm noch nie in diesem Ausmaß gesehen hatte. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, als würde er es erwürgen wollen.

„Verdammt sei dieser Bastard, wenn das wirklich stimmt", stieß er hervor. „Das bedeutet, Adrian sitzt umsonst im Knast?!"

„Nicht umsonst", widersprach Elli leise. „Zumindest nicht für André. Von dort aus kann er wenig dagegen ausrichten, was auch immer André mit Gianna vor hat."

Mir schauderte es bei dem Gedanken, dass ich diesen Psychopathen ohne Zögern in Adrians Haus gelassen hatte. Doch ich zerbrach mir bereits die ganze Fahrt darüber den Kopf, was André mit diesem Besuch bezwecken wollte.

„Stopp", sagte ich plötzlich. „Halt bitte an." Nate sah mich überrascht an, lenkte den Wagen aber an den Straßenrand.

„Was ist, wenn wir einen Fehler machen?", fragte ich.

„Würdest du bitte genauer werden?", fragte Elli ratlos.

„Was ist, wenn André genau das will, was wir gerade tun? Vielleicht sollten wir lieber nicht zur Polizei gehen", überlegte ich laut.

„Bist du wahnsinnig geworden? Wir könnten Adrian damit aus dem Gefängnis holen", schnauzte Nate, woraufhin er einen bösen Blick von Elli kassierte.

„Sprich nicht in dem Ton mit ihr, sie ist traumatisiert", fauchte sie ihn an.

„Hört doch auf damit, alle beide", warf ich unwirsch ein. „Was ist, wenn wir mit den Informtionen zur Polizei gehen und sie uns nicht glauben? Oder André ist so gut, dass er ihnen wirklich weismacht, dass er Maxim ist. Dann würden wir Adrian noch tiefer in die Misere reiten, als er ohnehin schon drinsteckt."

Nun schienen auch Nate und Elli nachdenklich.

„Ist er wirklich so ein guter Schauspieler?", zweifelte Nate. „Glaubst du echt, dass er die Polizei hinters Licht führen kann? Also wirklich, die müssen doch bloß die Fingerabdrücke checken und wissen Bescheid. Wir sollten trotzdem dahin fahren."

„Vielleicht hat Gianna recht", stellte sich Elli auf meine Seite. „André wäre definitiv zuzutrauen, dass er das System manipulieren kann. Er ist zwar der größte Psychopath, den ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe, aber dafür auch einer der schlausten Menschen."

Die nächsten Minuten waren von Stille gekennzeichnet. Wir alle hingen unseren Gedanken nach und grübelten. Plötzlich bekam ich ein ungutes Gefühl.

„Adrian hat mir erzählt, dass die Polizei in den nächsten Tagen eine Hausdurchsuchung machen möchte", sprach ich laut aus.

„Und?", fragte Nate verwirrt, während sich Elli mit leichenblasser Miene zu mir drehte. Sie hatte sofort verstanden, worauf ich hinauswollte.

„Dieser hinterlistige Bastard", fluchte sie. „Nate, wir müssen sofort zum Haus zurück!"

„Wieso?", fragte er verwirrt.

„André brauchte Zugang zum Haus. Er wusste, dass die Polizei bei der Durchsuchung nichts finden würde. Zumindest dann nicht, wenn er nicht vorher die Gelegenheit gehabt hätte, Beweismaterial dort zu platzieren", sagte ich.

Ohne ein weiteres Wort wendete Nate den Wagen und fuhr in einem rasanten Tempo die Straßen entlang. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

„Hätte ich einen Wunsch frei, dann würde ich mir wirklich seinen Tod wünschen", entfuhr es plötzlich Elli.

„Dito, meine Liebe", erwiderte Nate. Seine Miene war wie in Stein gemeistert. Keine zehn Minuten später standen wir erneut vor Adrians Haus und ich war relativ erleichtert, da ich beinahe damit gerechnet hatte, dass die Polizei auf uns warten würde.

„Irgendwas stimmt hier nicht", murmelte ich, während ich zur Tür lief. Als ich aufschließen wollte, bemerkte ich, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Fieberhaft überlegte ich, ob ich die Tür vorhin abgeschlossen oder es im Affekt vergessen hatte. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern.

„Habe ich vorhin abgeschlossen?", fragte ich an Elli gewandt.

„Natürlich, wieso?", gab sie mir die Antwort, die ich nicht hatte hören wollen.

„Jemand war hier. Die Tür ist offen", sagte ich.

„Wir sollten lieber nicht reingehen", gab Elli etwas ängstlich zurück. „Was, wenn er noch drin ist? Ich steh nicht so auf Krankenhausbesuche." Das letzte Aufeinandertreffen mit André steckte ihr offenbar noch tief in den Knochen.

„Was sollen wir tun? Die Polizei rufen können wir auf keinen Fall", sagte ich und drehte mich zu Nate um. „Hast du eine Idee?"

„Nein, nur dass ich euch da auf keinen Fall reingehen lasse. Adrian würde mich eigenhändig dafür erwürgen", schnaubte er. „Ich probiere es bei einigen Kontakten, die vielleicht helfen können."

Eine halbe Stunde telefonierte Nate mit etlichen Leuten, bis er endlich zum Auto zurückkehrte, in dem Elli und ich uns verbarrikadiert hatten.

„Gleich kommen ein zwei oder drei alte Freunde, die das Haus mal checken werden", sagte Nate. „Sie waren mir noch etwas schuldig."

Die alten Freunde, die Nate erwähnt hatte, waren offenbar Biker. Scheinbar war es sogar eine ganze Biker-Gang, da es definitiv mehr als zwei oder drei Leute waren.

„Ripper, was geht?", begrüßte Nate den Anführer der Truppe. Ich konnte sein Gesicht kaum erkennen, da es von einem Bandana bedeckt war.

„Ist das Adrians Lady?", fragte er mit einer solch tiefen Stimme, die mir die Gänsehaut auf den Körper trieb. Allerdings aus Respekt und zum Teil aus Furcht. Seine dunklen Augen bohrten sich wie Pfeiler in meine. Mit aller Kraft bemühte ich mich, dass meine Knie nicht nachgaben. Der Mann sah aus wie der Tod auf zwei Beinen.

„Ja, das ist Gianna", sagte Nate. Mein Blick wanderte für den Bruchteil einer Sekunde zu Nate. War er bescheuert, diesem Monster von Mann meinen Namen zu nennen?

„Hi", sagte ich mit zittriger Stimme. Der Mann namens Ripper antwortete nicht. Einen kurzen Moment später wanderte sein Blick zu Elli.

„Ich bin Eleanor", kam Elli Nate zuvor. Wie immer klang sie selbstbewusst. Ihr schien die brutale Ausstrahlung von Ripper nichts auszumachen.

„Dann wollen wir mal schauen, ob wir darin etwas finden werden", sagte Ripper und wandte sich von uns ab.

Ich hoffte wirklich sehr, dass er nichts und niemanden darin finden würde. Selbst für André würde es mir ein wenig Leid tun, denn dieser Mann sah nicht danach aus, als hätte er die Absicht, freundliche Gespräche zu führen.

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