5 : DAY TWO

Es ist über zwölf Stunden später, dass sie sich das nächste Mal sehen – Jaemin hatte zwei Spiele und Jeno eins, und in dem Zeitraum, in dem sie sich hätten sehen können, hat Jaemins Trainerin eine Theoriestunde eingelegt –, Jeno sitzt bereits seit einer ganzen Weile am geöffneten Fenster und blickt auf die Stadt, als Jaemin die Tür auftritt und hindurchschwankt.

"Wie lief's?", fragt Jeno, als er nichts sagt, aber es kommt nur undeutliches Grummeln zurück. Er sieht Jaemin zu, wie er seine Fußballtasche neben die andere wirft, aus dieser Kleidung fischt – Jeno erkennt das Mintgrün schon, ohne richtig hinzusehen – und im Badezimmer verschwindet. Dann ärgert er sich über sich selbst, dass er zu beschäftigt war, den Menschen anzusehen statt des Trikots, in dem er steckte, damit er endlich herausfindet, in welchem Verein er ist. Wenn er auf den Spielplan sieht, kann er eventuell ein paar Optionen herausfiltern, aber eine feste Antwort hat er dann immer noch nicht.

Seufzend lehnt er sich wieder ans Fenster und schreibt eine Weile mit Mark, bis Jaemin wieder aus dem Bad kommt. Achtlos wirft er sein Trikot und seine Fußballschuhe in die Ecke und verkriecht sich im Anschluss unter seine Bettdecke. Jeno betrachtet ihn eine Weile, zusammengerollt, wie es scheint, und – macht er sich gerade ernsthaft Sorgen?

"Jaemin?" Keine Antwort. Er richtet sich auf. "Redest du nicht mehr mit mir?"

Jaemin kämpft sich unter der Decke hervor, nur um ihn mit Blitzen zu bewerfen. "Ich bin fertig, lass mich in Ruhe."

"Sorry." Jeno hebt abwehrend die Hände, weshalb Jaemin sich wieder auf die Seite dreht. "Hast du was gegessen?"

"Nein."

"Warum nicht?"

"Jeno, Mann, lass mich doch einfach in Ruhe."

"Aber das ist wichtig."

"Ich kann ganz bestimmt keine Treppen mehr runter- und wieder hochlaufen."

"Soll ich dich tragen?"

Jaemin richtet sich auf, sieht Jeno einen Moment undefinierbar an und wirft dann mit seinem Kissen nach ihm.

Jeno fängt es auf. "Bist du verrückt? Das Fenster ist offen."

"Halt die Klappe." Jaemin legt sich wieder hin und schmollt, weil er kein Kissen mehr hat.

"Soll ich dir was holen?"

"Du sollst mich in Ruhe lassen, warum interessiert dich das überhaupt? Ist doch gut für dich, wenn's mir scheiße geht und ich ausfalle."

"Ja, vielleicht." Jeno steht von der Fensterbank auf, macht es auf Kipp und nähert sich vorsichtig Jaemins Bett, um das Kissen auf seinen Kopf fallen zu lassen. "Ich bin aber Kapitän und das heißt, dass ich mich um meine Mitspieler sorge, und weil ich fair bin, gilt das auch für gegnerische."

"Lass mich in Ruhe." Jaemin hat das Gefühl, nichts anderes mehr zu sagen, aber der Nachdruck wird jedes Mal weniger. Jeno findet genau die Orte, an denen er bohren muss, um Jaemins Panzer zu knacken, und das gefällt ihm überhaupt nicht. Vor allem, weil Jisung nicht da ist und heute auch nicht mehr kommen wird, aber Jaemin platzt bald vor aufgestauter Frustration. Ehrlich, er weiß nicht, wie er es jeden Tag mit seinem Team aushalten soll, und er hofft sogar, dass sie es nicht einmal aus den Gruppenspielen schaffen, aber sie haben heute beide Male gewonnen, deshalb sieht das wohl schlecht aus. Warum ist er überhaupt mitgekommen? Warum spielt er überhaupt noch Fußball? Gott, wie er das alles hasst.

"Sagst du mir wenigstens, was los ist?" Jaemin kann hören, wie Jeno sich vor sein Bett setzt, und damit ist der Riss in seinem Panzer so groß, dass er wie von selbst auseinanderfällt.

"Jeno." Geh weg, lass mich in Ruhe, du kennst mich doch gar nicht. Jeno will ihn eigentlich am liebsten umarmen, aber traut sich ja noch nicht einmal, seinen Rücken zu berühren.

"Was denn?"

"Lass mich in Ruhe", wispert Jaemin ein letztes Mal, schließt die Augen.

"Wenigstens was essen solltest du aber. Wie viele Spiele hattest du heute?"

"Zwei."

"Umso wichtiger. Ich hol dir was, du musst mir nur sagen, was du willst." Jeno steht auf, aber es kommt nichts zurück. "Jaemin?"

Unter seiner Decke macht er sich noch kleiner. "Egal."

Jeno seufzt leise. "Okay. Wehe, du sperrst mich aus."

Jaemin wartet, bis er aus der Tür ist und seine gedämpften Schritte auf dem Flur verklungen sind, bevor er sich aufrichtet und nach seinem Handy greift. Bevor er bei Jeno einen Ausbruch hat, überschreitet er bei Jisung die zweihundert Nachrichten.

Ji ❤️‍🩹

Jisung
Sag ihm, er soll aufhören
Was soll der Scheiß???? 😶
Er holt mir jetzt Essen
Und ich hab ihn nicht mal drum gebeten
Ich hab mich unter meine Decke verkrochen, damit die Welt mich in Ruhe lässt, nicht damit Vereinsjacken-Jeno Lee sich um mich kümmert
Ich meine, what the fuck? Jisung 😶
Warum lässt er mich nicht einfach in Ruhe? 😶
Ich habs ihm mehrfach gesagt und er machts trotzdem nicht 😶
Aber
Mann
Nein
Ich kanns ihm nicht übel nehmen und das ist noch viel schlimmer
Ich weiß nicht mal ob er es ernst meint
Ich bin so leicht weichzukriegen, das ist nicht mehr lustig
Ich kanns ihm nicht sagen, hörst du??
Und wenn ich es jemals vorhabe, HALT MICH AUF.
Ich bin nicht ehrlich zu Jeno Lee. Niemals

Die Türklinke wird heruntergedrückt, weshalb Jaemin sein Handy zur Seite wirft und sich wieder hinlegt, ehe Jeno das Zimmer betritt. "Zimmerservice", murmelt er, darauf konzentriert, dass ihm nichts herunterfällt, und Jaemin hasst sich dafür, dass es ihn zum Lächeln bringt.

"Unsere Teams scheinen sich angefreundet zu haben." Jeno wirft Jaemin einen seiner heißgeliebten Proteinriegel zu, aber er hinterfragt gar nicht erst, warum er die mit ihm teilt, wenn er es nicht einmal mit Mark tut. "Dein Kapitän ist eine Flachpfeife."

Jaemin fängt ihn auf. "Ich weiß." Eigentlich will er nicht über seine Mitspieler reden, aber er kann Jeno nichts ausschlagen, nachdem er ihn mit Essen versorgt und ihm einfach beinahe durchgehend stille, aber sehr angenehme Gesellschaft geleistet hat.

"Ich kann wirklich verstehen, warum du sie nicht leiden kannst, und ich kenn sie kaum." Jeno rutscht mit einem eigenen Riegel zurück vors Bett, sie reißen das Plastik gleichzeitig auf.

"Manche sind okay", murmelt Jaemin. Weil er es nicht weiter ausführt, will Jeno nicht nachbohren, und so essen sie eine Weile schweigsam.

"Du musst nicht auf dem Boden sitzen, weißt du", sagt Jaemin irgendwann leise, die Decke fester um seine Beine wickelnd.

"Mein Bett ist so weit weg von dir." Und das war eine so dermaßen fehlplatzierte Aussage, Jeno möchte sich schlagen. Aber Jaemin sagt nichts dazu, rutscht nur zur Seite und klopft auf die Matratze neben sich.

Jeno kann seinem Herz kaum glauben, als es sich bei ihrem kurzen Augenkontakt überschlägt.

Mit einem leisen Räuspern nimmt er den freien Platz neben Jaemin ein, und als sie ihre Riegel aufgegessen haben, nimmt er ihm den Müll ab und wirft ihn weg. Kurz überlegt er, ob er sich wieder aufs Bett setzen soll, aber Jaemin hat sich nicht bewegt, und ehrlich gesagt sieht er ein bisschen verloren aus, wie er da sitzt, mit den Armen um seine Beine geschlungen und den Blick auf den Boden gerichtet, also muss Jeno es allein deswegen wieder tun.

Sie schweigen, bis Jaemin ihn sachte anschubst.

"Danke", flüstert er, und wirklich, Jeno will ihn erdrücken.

"Morgen machst du das Gleiche dann für mich, ja?", grinst Jeno zurück, und Jaemin verdreht die Augen.

"Darüber reden wir dann nochmal, Käpt'n."

Der Blauhaarige seufzt. "Lassen sie nicht einmal euch damit in Ruhe?"

Jaemin gluckst. "Man könnte denken, sie kennen deinen Namen nicht. Bis unserer nachgefragt hat, wussten wir nicht einmal, dass du gemeint warst."

"Wow. Haben sie sich wenigstens benommen?" Jeno erinnert sich noch daran, wie sie ihn mitzerren wollten, um zuzusehen, mit einer derartigen Energie, sie hat wohl vor Ort höchstens noch zugenommen.

Nicken. "Haben uns angefeuert."

"Na immerhin." Jeno lehnt sich gegen die Wand und schließt mit einem Ausatmen die Augen. Eigentlich will er etwas sagen, aber da legt Jaemin den Kopf auf seine Schulter, und etwas in der Bewegung scheint so scheu, dass Jeno nicht einmal mehr atmen will, um Jaemin nicht aufzuschrecken.

"Sie lieben dich ziemlich, oder?"

"Mhm." Jeno spricht nicht so gerne darüber, weil es ihm manchmal nicht so vorkommt, als sollte das so – aber eigentlich findet er es wirklich schön, dass seine Mannschaft sich wie Zuhause anfühlt.

"Das ist toll. Wirklich." Jaemin klingt verschlafen, fällt Jeno auf, und auch, wie entspannt er selbst ist. Deshalb berührt er ihn sanft am Knie, wovon er den Kopf von seiner Schulter hebt.

"Bevor du mir hier einschläfst, solltest du vielleicht noch Zähne putzen gehen."

"Aber du bist so schön warm." Oh Himmel. Jeno wusste nicht, dass er so schnell so knallrot anlaufen kann.

"Bin ich auch noch, wenn du zurückkommst."

Jaemin sieht ihn eine Weile von der Seite an, und er scheint wirklich müde zu sein, denn nicht nur knüllt er seine Decke wortlos in Jenos Schoß, er stolpert auch beinahe gegen den Türrahmen, und kurz fragt Jeno sich, ob im Essen vielleicht Alkohol war. Zurück kommt er aber unfallfrei, und weil Jeno von der Wand weggerutscht ist, wirft er sich einfach gleich hinter ihm aufs Bett.

"Wann spielt ihr morgen? Vielleicht solltest du dich nach dem Frühstück nochmal hinlegen", schmunzelt Jeno.

"Geht schon", murmelt Jaemin undeutlich ins Kissen, und weil er keinerlei Anstalten macht, sich irgendwie noch zu bewegen, breitet Jeno die Decke über ihm aus, wofür er einen ziemlich schiefen Blick abbekommt.

"Was denn?" Er muss wieder schmunzeln. Jaemin ist ja geradezu niedlich, wenn er seine Mauer herunterfährt.

"Geh weg. Nein, nicht weg." Also macht Jeno den Schritt ans Bett wieder heran.

"Haben die dir was ins Essen gemacht?"

Jaemin verdreht die Augen. "Nein, das ist normal, wenn ich müde bin. Leider. Und jetzt... Ach." Er kugelt sich wieder zusammen – warum findet Jeno das eigentlich so goldig? – und zieht sich die Decke halb über den Kopf, Jeno sieht nur noch seine langen Wimpern und weichen Haare unter dem Stoff hervorlugen. Er macht es sich also zu seiner Aufgabe, den Vorhang zu schließen und selbst Zähne putzen zu gehen, und als er davon zurückkommt, hat Jaemin sich gerade umgezogen und wirft ihm beinahe mit seinem Hoodie ab.

"Du hast es irgendwie auch damit, oder?"

"Zwei von drei Malen waren unabsichtlich." Jaemin fällt schwungvoll zurück ins Kissen, während Jeno den mintgrünen Pullover auf seiner Tasche ablegt und in sein eigenes Bett kriecht.

"Jeno?"

"Hm?" Irgendwo ganz hinten in seinen Gedanken fragt Jaemin ihn, ob er zu ihm kommt, aber er schiebt die Vorstellung lieber ganz weg, bevor sie noch Unheil anrichtet.

"Kannst du mich morgen wecken, wenn ich meinen Wecker überhöre? Bitte?"

"Klar." Jeno dreht sich auf die Seite, aber im abgedunkelten Raum kann er Jaemins Umriss nur schemenhaft erkennen. Weil Jaemin nichts mehr sagt, tut er es auch nicht, aber wünscht ihm wenigstens in Gedanken noch eine gute Nacht, und er ist sich nicht sicher, ob er viel später als Jaemin einschläft.

28.07.2022

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