3 : DAY ONE
Jaemin ist nicht da, als Jeno zurückkommt, und seine Tasche ist offen, weshalb er davon ausgeht, dass er ebenfalls zu einem ersten Training gehen musste. Aber so kann er in Ruhe duschen gehen und Mark noch auf den neuesten Stand bringen. Dabei kommen sie ein wenig vom Thema ab, weshalb Jeno immer noch nur seine Jogginghose trägt, als Jaemin ins Zimmer kommt.
"Moin", begrüßt Jeno ihn, ohne von seinem Handy aufzusehen, und so sieht er nicht, wie Jaemin einen Moment den Anblick verarbeitet, dann die Augen verdreht und die Tür hinter sich schließt. Klar, natürlich muss das Leben seinen unfreiwilligen Zimmernachbarn aus einem gegnerischen Team nicht nur im Gesicht, sondern auch davon abwärts attraktiv machen. Was von einem Fußballer vielleicht nicht anders zu erwarten ist, aber Jaemin findet Jenos Körperbau ein bisschen zu perfekt, und ein Teil von ihm will ihn wieder mit einem Kissen abwerfen. Nur diesmal wirklich ins Gesicht.
"Schonmal was von Kleidung gehört?"
"Hm?" Jetzt sieht Jeno doch kurz auf und sieht ihm zu, wie er seine Tasche aufs Bett pfeffert und ausräumt. "Stört's dich?"
"Nein." Aus seiner anderen Tasche wühlt Jaemin neue Klamotten hervor, und während er ins Badezimmer verschwindet, fragt Jeno sich, ob er jemals wieder einen normalen Satz aus ihm herauskriegen wird.
Als er das Wasser rauschen hört, richtet Jeno sich auf und zieht sich ein T-Shirt an, bevor er das Fenster öffnet und sich etwas nach vorne lehnt, um sich umzusehen. Das Hotel befindet sich auf einer Anhöhe; nicht am höchsten Punkt, aber weit genug, dass er einen recht guten Blick über einen Teil der Stadt hat. Er kann sogar das Stadion sehen, in dem die Spiele stattfinden werden, und unwillkürlich wird er bei dem Anblick nervös. Zuhause haben sie auch schon vor mehreren Tausend gespielt, zwar selten, aber es kam vor, doch er hat sich nie daran gewöhnen können und wird es wohl auch nie. Schließlich ist es genau das, von dem er von klein auf immer geträumt hat; so viele Menschen, die einem zusehen, zujubeln, und vielleicht ja sogar eines Tages dort, wo er sich vor dem Fernseher immer hingeträumt hat: An der Seite seiner Vorbilder.
Das ist nicht mehr als Wunschdenken, und das weiß er ja selbst gut genug, aber trotzdem fühlt sich das hier auch schon recht groß an. Sie haben sich schließlich für eine Quasi-Weltmeisterschaft qualifizieren können, und je nachdem, wie die ersten Spiele morgen laufen, haben sie vielleicht sogar gute Chancen, in die Vorrunden des Finales zu kommen.
Dass es draußen auf dem Flur laut wird, lenkt Jeno von den Gedanken ab, und ein Blick auf sein Handy verrät ihm, dass es Zeit fürs Abendessen ist. Also schließt er das Fenster wieder und überlegt noch kurz, ob er auf Jaemin warten soll – aber der Braunhaarige wird ihn dann wohl nur wieder mit einem Blitzblick strafen und demonstrativ weit vor ihm hergehen, deshalb tut er es nicht. Auf dem Flur trifft er dann auch auf seine Freunde, weshalb Jaemin schnell vergessen ist.
Das nächste Mal sieht Jeno ihn in der Mensa, drei Tische entfernt am äußersten Ende, neben ihm sitzt niemand und ihm gegenüber zwei Erwachsene, die Jeno deshalb als seine Trainer einschätzt. Sein Blick ist starr auf das Essen gerichtet, und Jeno betrachtet einen Moment zu lange die feuchten Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht hängen.
"Na, wie ist das so?" Donghyucks Faust an seiner Schulter holt ihn mit einer solchen Wucht zurück an den eigenen Tisch, ihm fällt beinahe das Besteck aus der Hand. "Habt ihr euch schon gegenseitig Morddrohungen gemacht?"
"Was?", stammelt Jeno, aber auch die beiden anderen – und jetzt wo er hinsieht, auch die Hälfte des Tisches – schauen ihn erwartungsvoll an.
"Du und dein Zimmernachbar! Chenle hat gesagt, er ist aus einem anderen Team!"
"Hm? Ja." Jenos Blick wandert automatisch wieder zu Jaemin. "Er hat mir gedroht, aber nicht mit Mord."
Der halbe Tisch dreht sich seinem Blick hinterher, und Jeno verdreht seufzend die Augen.
"Der im Tie Dye?" Donghyuck und Chenle sind wirklich eine Kombination, die Jeno manchmal nicht aushält, denn wie auch jetzt rücken sie ihm zu zweit besonders gut auf die Pelle. Aber er verkneift sich einen Kommentar und nickt bloß.
"Ohh, er ist hübsch. Was spielt er?"
"Mittelfeld." Jeno fragt sich, was er verbrochen hat, dass seine ganze Mannschaft zu Jaemin herüberstarrt und nicht den Hauch an Anstand besitzt, um wieder wegzusehen, aber der Braunhaarige scheint in Gedanken, denn er bemerkt die fast zwei Dutzend auf ihn gerichteten Augenpaare gar nicht (oder er ignoriert sie gekonnt, das hält Jeno gar nicht für so unwahrscheinlich). Am Tisch herrscht Stille, weil sie alle gucken müssen, und er macht innerlich eine Notiz an sich selbst, nie wieder ein Wort über Jaemin zu verlieren.
"Smash", sagt Donghyuck, und der Tisch bricht in lautes Gelächter aus.
"Der Typ ist so horny, jetzt schmeißt er sich noch an fremde Jungs ran", grölt der erste Torwart, und Donghyucks Protest geht in weiteren Bemerkungen unter.
"Leute." Bei Jenos scharfer Stimme verstummen die Meisten, der Rest kriegt Ellenbogen in die Seiten gerammt, bis sie Ruhe geben. "Habt ein bisschen Anstand."
"Wir machen doch nur Spaß", mault Chenle.
"Ja, über jemanden, der das nicht mitbekommt und den ihr nicht kennt, also fahrt mal runter."
"Sorry, Käpt'n", kommt es betreten aus mehreren Richtungen, und Jeno seufzt.
"Wart ihr schon in der Innenstadt?"
"Negativ." Sungchan wirft einen Zahnstocher über den Tisch. "Vorm Training keinen Plan von irgendwas und danach keine Motivation."
"Was haltet ihr dann von einer abendlichen Tour?"
Und schon geht das Gegröle wieder los, aber diesmal muss Jeno lächeln und lässt sich freiwillig von Donghyuck in einen Schwitzkasten nehmen.
In der gesammelten Gruppe hat die Mannschaft so viel Energie, dass sie mehrere Stunden umherlaufen und nicht nur einmal mit weniger Spielern um die Ecke biegen, als sie losgelaufen sind, weshalb Jeno sich ziemlich schnell wie die – völlig erschöpfte – Aufsicht fühlt.
"Morgen um halb sieben gehen wir joggen", erinnert er sie nochmal, ehe alle auf ihre Zimmer verschwinden, und bekommt einen Haufen genervter Stöhner zurück. "Wer nicht aufkreuzt, macht vor dem Training Liegestütze, Anweisungen vom Chef." Und bevor noch Proteste bei ihm ankommen können, schließt er seine Zimmertür auf und schiebt sich hindurch.
Die Stille, als sie hinter ihm zufällt, ist so erleichternd, erst einmal schließt er die Augen und atmet aus.
"Na, Kapitän?" Er zuckt bei Jaemins amüsierter Stimme zusammen. "Langen Tag gehabt?"
"Du hast keine Ahnung", murmelt er zurück, "das sind zwanzig Kleinkinder und ich bin der Babysitter."
"Nett." Jaemins Blick folgt ihm, als er den Raum durchquert und sich mit einem Ächzen aufs Bett fallen lässt. Wenn er den anfänglichen Hass beiseiteschiebt, ist Jeno ja vielleicht wirklich sympathisch, und das wäre irgendwie schön, weil Jaemin sich dann nicht mehr so blöd fühlt, wenn er ihn die ganze Zeit von der Seite ansieht. Aber er kann ja auch nichts dafür, dass Jeno so hübsch ist, ohne überhaupt etwas zu machen.
Er merkt gar nicht, dass er wieder starrt, bis Jeno ihm den Kopf zudreht und grinst.
"Was?"
"Ich hab mich nur gefragt, ob ich nett zu dir bin und dir den Trainings- und Spielplan schicke, aber ich bin mir da noch nicht so sicher."
Jenos setzt sich ruckartig auf. "Die sind draußen?"
Jaemin nickt. "Aber halt nur bis Montag."
"Kannst du mir das schicken? Hast du Airdrop?"
"Ich sagte, ich bin mir noch nicht sicher." Trotzdem setzt Jaemin sich auf und wählt die Bilder in seiner Galerie aus. Jetzt ist er ganz froh, dass er sich seine Spiele noch nicht markiert hat, sonst wäre es ihm peinlich, dabei weiß er gar nicht, wieso.
iPhone von Jeno, taucht im Airdrop-Fenster zwischen einigen anderen, teilweise bekannten Namen auf. Jaemin tippt das graue Bild an und sieht dem blauen Balken zu, wie er sich langsam auflädt.
"Super, danke." Damit sinkt Jeno wieder zurück in sein Kissen und vertieft sich in die insgesamt sieben Fotos, weshalb Jaemin sich auch mit seinen Versionen davon beschäftigt und endlich seine Felder highlighten kann.
Einen der Trainingsplätze kennt er schon, und es ist auch der, auf dem sie zum Training eingetragen sind. Abgesehen von morgen hat er jeden Tag ein Spiel, bis es Dienstag ins Achtelfinale geht, wobei er recht zuversichtlich ist, dass sie wenigstens das noch schaffen. Sowohl der Trainings- und der Spielplan werden nach den Gruppenspielen für die zwei Tage des Achtelfinales erstellt, und ihm ist zwar klar, dass das Sinn macht, aber trotzdem nervt es ihn, sich nicht darauf vorbereiten zu können.
Nachdenklich sieht Jaemin zu seinem Zimmernachbarn herüber, der immer noch an seinem Handy beschäftigt ist. Er hat noch nicht herausfinden können, wie Jenos Verein heißt, und direkt fragen will er auch nicht, weil er kein Interesse an ihm zeigen will. Vor allem ist ja noch nicht einmal klar, ob sie beide durch die Vorrunden kommen, und dann wäre es nur unangenehm, zu wissen, dass Jeno weiterkommt und er nicht.
Also fragt er nicht, sieht ihm nur weiter zu und muss lächeln, als er bemerkt, dass auch er gelbe Kreise um seine Spiele zieht.
26.07.2022
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