Ich gehe direkt in mein Wohnheimzimmer. Mein Kopf ist wie leergefegt, von dem Echo der Stimmen aus der Vergangenheit abgesehen. Wahrscheinlich kann ich von Glück reden, dass ich auf meinem Weg nicht umgefahren werde oder sonst was, denn ich nehme meine Außenwelt kaum wahr.
Ohne mir auch nur etwas Bequemeres anzuziehen, lasse ich mich ins Bett fallen. Eigentlich ist die Heizung den Vormittag lang gelaufen und das Zimmer auf einer angenehmen Temperatur. Trotzdem ist mir so kalt, dass ich mich in meine Bettdecke einmummle, bis kaum noch mein Gesicht rausschaut. Und selbst das hätte ich am liebsten versteckt. Aber selbst so habe ich das Gefühl kaum Luft zu bekommen und das Bedürfnis zu atmen ist doch stärker als mein Wunsch einfach zu verschwinden. Mich so lange hier vor allem zu verbergen, bis die Welt mich einfach vergessen hat. Und ich sie.
Ich weiß nicht wie viel Zeit vergeht, in der ich nur hier liege. Ich mache nichts. Scrolle nicht durch Instagram oder suche mir einen Film auf Netflix. Ich liege nur da und starre in die Luft, während vereinzelt Tränen über mein Gesicht rollen. Ich weine nicht richtig. Dafür fühle ich mich zu ausgehöhlt. Wahrscheinlich kann man meinen Zustand am besten mit dem Wort „Existieren" beschreiben. Ich existierte. Nicht mehr, nicht weniger.
Glücklicher Weise taucht Silvia den Tag über nicht auf. Mir kommt kurz der Gedanke, dass sie bestimmt bei ihrem Freund ist. Aber wirklich wichtig ist das nicht. Hauptsache sie ist nicht hier. Ich habe immer noch nichts gegessen, doch auch wenn mein Buch inzwischen beschwerende Geräusche von sich gibt, kann ich mich nicht dazu motivieren aufzustehen. Außerdem fehlt mir so zumindest auch die Energie mich zu erinnern. Ich bin in einem wunderbar leeren Zustand. Geistig und körperlich.
Meine Therapeutin hätte mir in diesem Zustand wahrscheinlich Verhaltensaktivierung empfohlen. Raus aus dem Bett und etwas machen. Sport oder mit Freunden rausgehen. Und ich weiß selbst, dass es mir guttun würde. Mich aus diesem lethargischen Zustand rausreißen würde. Trotzdem bekomme ich es selbst nicht hin. Sogar Sport reizt mich nicht, was gerade zu an einem Wunder grenzt. Eigentlich ist es sogar das Gegenteil: der Gedanke ans Fitnessstudio, dem einen Ort, der mir sonst immer Sicherheit gegeben hat, dreht mir nun den Magen um. Bei meinem Glück wäre heute Sean wieder da. Und anstatt mir selbst und ihm beweisen zu können, wer hier die Oberhand hat, würde ich vor Schwäche zusammenbrechen.
Also nein. Ich werde ganz sicher nicht ins Fitnessstudio gehen. Oder sonst wo hin. Ich werde mich einfach weiter hier verkriechen, wo niemand sehen kann was für ein Wrack ich bin. Denn solange es niemand weiß, kann ich mir morgen wieder einreden, dass es auch nicht so ist.
Irgendwann liegt mein Zimmer im Dunklen. Die Welt besteht nur noch aus Schatten und obwohl das mein Reich ist, fürchte ich mich trotzdem vor dem, was sich hinter ihnen verbirgt. Mein Kopf ist träge, doch die Schemen um mich tragen mich aus dem Studentenwohnheim zu anderen Orten... anderen Zeiten. Die Bilder ziehen nur langsam vor meinen Augen vorbei. Nicht wie eine richtige Erinnerung, sondern eher als Fetzen. Und ich bin froh darüber. Bilder können viel weniger Emotionen transportieren als ein Film. So ist es erträglich. Erträglich die vielen Male zu sehen, als ich mich auf den Schultoiletten versteckt habe, und mir die Schluchzer verkniffen habe, solange noch ein anderes Mädchen mit im Raum war. Und wie oft ich mitbekommen habe wie Joyce über mich hergezogen hat, während sie ihren Lipgloss nachzog und sich nicht bewusst darüber war, dass ich nur wenige Schritte entfernt auf einem Klodeckel kauerte. Nicht, dass Joyce es gestört hätte all die diese Worte direkt in mein Gesicht zu sagen. Das musste man der Bitch lassen, sie hat zumindest nie einen Hell draus gemacht.
Ich weiß nicht, wie lange ich letztendlich so daliege. Umhüllt von meiner Decke, um mir Schutz vor dieser Welt zu geben. Oder wie lange ich noch liegen geblieben wäre, wenn es nicht mit einem Mal zu klingeln angefangen hätte... und nicht mehr aufhört. Ich schaffe es das Geräusch die ersten Minuten lang zu ignorieren. Eigentlich verstehe ich am Anfang nicht Mal, was es genau ist, so langsam funktioniert mein Gehirn. Aber schließlich fällt der Groschen und mein Blick wandert zur Tür und der Freisprechanlage, mit der ich auch die Tür des Haupteingangs öffnen kann. Nur bewegen kann ich mich nicht.
Ich weiß nicht, was ich mir wünsche. Dass dieses schrecklich nervige Geräusch aufhört und ich wieder allein in meinem dunklen Kokon sitze. Oder dass mich, wer auch immer da gerade klingelt, rettet. Mich zwingt endlich die Füße aus dem Bett zu schwingen und mir neues Leben einhaucht. Aber glücklicher Weise liegt die Entscheidung eh nicht bei mir, denn wer auch immer da ist, er ist hartnäckig. Und da ich mir nicht sicher bin, ob es nicht Kosten oder sogar Schäden verursachen kann, wenn eine Klingel fünf Minuten lang dauerhaft gedrückt wird, gebe ich irgendwann mit einem kleinen Stöhnen nach.
Es ist das erste Geräusch, dass ich seit Stunden von mir gebe, und mein Hals fühlt sich rau und trocken an. Es ist fast schmerzhaft. Genauso wie meine Gliedmaße aus der steifen Position zu bewegen, in der sie sich seit gefühlten Ewigkeiten befunden haben. Ich richte mich im Schneckentempo auf, muss Innehalten weil mich Schwindel überkommt. Aber schlussendlich schaffe ich es die Füße auf den Boden zu setzen und mich in eine stehende Position hochzudrücken. Noch immer in die Decke eingemummelt tapse ich zur Tür und zwinge mich dazu, die Freisprechanlage zu benutzen.
„Ja?" Das Wort ist mehr ein Krächzen, aber anscheinend werde ich verstanden, denn das rauschende Knacken wird von einer Stimme unterbrochen.
„Alexis, mach auf."
Innerhalb von Sekunden stehen mir Tränen in den Augen. Weil es nur eine Person gibt, die sich so viel Mühe für mich geben würde. Und es ist auch die einzige Person, der ich diese Tür öffnen würde. Row. Bevor es mich überwältigt, drücke ich den Türöffner und warte, bis ich im Treppenhaus Schritte höre. Dabei drücke ich mir eine Hand vor den Mund, um die Schluchzer zurückzuhalten, die mich bisher den ganzen Tag verschont hatten. Aber als Row die Zimmertür sanft aufdrückt, die ich für sie einen Spalt breit geöffnet hatte, und mich keine Sekunde später in eine Umarmung zieht, kann ich nichts mehr dagegen tun, dass sie mir hicksend entkommen.
Es fühlt sich so gut an. So gut, dass es das erste ist, was die Kälte in mir bezwingen kann. Auch wenn das heißt, dass ich als zitterndes Wrack in ihren Armen liege. Row streichelt mir beruhigend über den Rücken und ich drücke mein Gesicht an ihre Schulter, um die Tränen zurückzuhalten. Ich will nicht weinen. Will Row nicht noch mehr Grund zur Sorge geben, nachdem sie schon den ganzen Winter mit einer steilen Sorgenfalte zwischen den Augen herumgelaufen ist. Aber dafür ist es wohl schon lange zu spät. Jedenfalls werde ich wie ein verlorener Welpe zum Bett dirigiert und dort auf die Matratze gedrückt, bevor sich Row mit ernstem Blick vor mich kniet.
„Lex, was ist heute passiert?"
Sie verhakt ihren Blick mit meinen und lässt mir damit keine andere Wahl als ihr direkt in die Augen zu schauen. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, nur um in gleich darauf wieder zu schließen, weil ich nicht weiß was. Es ist nicht allein was heute passiert ist. In mir ist so viel kaputt, dass ich nicht mal weiß, wo ich anfangen müsste, um zu erklären, wieso es mir so schlecht geht. Aber das weiß Row. Hat beim Meisten mitangesehen, wie es in mir zerbrochen ist. Also sage ich das einzige offensichtliche was heute passiert ist.
„Elisa und Heather haben mich verstoßen."
Okay, das hört sich so an als wäre ich ein Hund, der mit einem Fußtritt vor die Haustür befördert worden wäre. Und Rows mitleidiger Blick drückt genau das Gleiche aus. Meine Unterlippe fängt an zu zittern, was mich nur noch erbärmlicher erscheinen lässt. Aber ich kann es einfach nicht unterdrücken und für diese Schwäche hasse ich mich. Sofort werde ich in eine feste Umarmung gezogen, doch obwohl ich die Geste zu schätzen weiß, kann ich mich nicht darin entspannen. Stattdessen sitze ich steif da und ringe mit dem Bedürfnis Row zu sagen, dass sie das lassen soll. Dass ich das nicht verdient habe. Mit was auch? Seit Jahren ist es immer das Gleiche und doch bin ich kein Stück vorangekommen. Im Gegensatz zu Row habe ich mir kein Leben aufgebaut, sondern nur das Beste gegeben, den Schein davon zu erhalten. Und dann wundert es mich, dass das Gerüst nicht hält? Ich bin ein Nichts. Vielleicht mit einer kleineren Kleidergröße als früher, aber immer noch genauso wertlos.
Als sie auch noch beginnt mir beruhigend über den Rücken zu streichen, halte ich es nicht mehr aus. Etwas ruppig löse ich mich von ihr und schüttle den Kopf.
„Das ist nicht nötig, Row. Ich überreagiere nur. Es ist nicht so, dass sie mir die Freundschaft gekündigt haben. Ich bin nur einfach nicht... die erste Wahl."
Aber für wen bin ich das schon? Als hätte sie meine Gedanken gelesen, lenkt Row meine Aufmerksamkeit wieder auf sich, indem sie mein Handgelenk packt. Das Handgelenk, an dem ich das Armband trage, mit dem wir unsere Freundschaft besiegelt haben.
„He, du bist meine Nummer eins! Und wenn Elisa und Heather so oberflächlich sind, dass sie dich einfach so fallen lassen, ist das ihre Schuld. Die beiden haben doch eh nur eins im Kopf."
Ich schaue Row für einen Moment an. Aber sie meint ihre Worte völlig ernst und ich weiß nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll. Denn sie hat so viel Vertrauen in mich, glaubt so sehr an das Gute in mir, dass sie es nicht sieht. Nicht merkt, dass ich genauso oberflächlich bin, genauso wenig im Kopf habe. Ich passe perfekt zu Elisa und Heather, nur dass selbst sie mich nicht wollen.
Trotzdem versuche ich es mit einem Lächeln, weil ich den Zweck der Worte zu schätzen weiß. Zu schätzen weiß, dass sie überhaupt hier ist und sich um mich kümmert.
Aber Row ist nicht nur der schlauste Mensch, den ich bisher getroffen habe, sondern kennt mich auch schon mein Leben lang. Sie merkt sofort, dass ihre Worte nicht wirklich etwas gebracht haben, und lässt sich mit einem Seufzen nach hinten fallen, sodass sie nicht mehr vor mir kniet, sondern auf dem Boden sitzt.
„Okay, du kommst heute Abend mit."
Von ihrem entschlossenen Tonfall überrascht, beobachte ich Row dabei, wie sie in ihre Handtasche greift und zwei Sandwiches daraus hervorholt. Der Blick, den sie mir schenkt, als sie mir eins davon hinhält, erlaubt keinen Widerspruch, also greife ich aus Reflex danach und werde mir erst dann bewusst was hier passiert. Row gibt den Ton an und ich folge. Bis vor einem halben Jahr war das noch genau andersrum. Ich kann mich nur zu gut an die Party der Eishockeyspieler erinnern, auf die ich sie geradezu mitschleppen musste. Und die alles verändert hat. Denn dort war Row das erste Mal Gray begegnet.
Ein Teil von mir lehnt sich gegen diesen Rollenwechsel auf. Ich bin niemand, der wie das verlorene Entlein hinter jemandem herdackelt. Oder wollte es zumindest nie sein. Aber als ich unentschlossen auf das Sandwich in meiner Hand starre und mein Magen bei dem Anblick so laut knurrt, dass es wahrscheinlich das ganze Stockwerk hört, kann ich nicht leugnen, dass ich Hilfe brauche. Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, dass ich heute noch nichts gegessen habe. Oder gemerkt wie energielos und ausgezerrt sich mein Körper anfühlt. Also packe ich das Sandwich aus der Folie aus, in das Row es eingepackt hat, und frage gleichzeitig, ohne den Blick zu heben: „Was meinst du? Wo geht es überhaupt hin?"
Ich höre gegenüber von mir Folie rascheln, trotzdem schaue ich Row nicht direkt an. Dafür ist es mir zu unangenehm der Pflegefall zu sein. Stattdessen betrachte ich die Köstlichkeit in meiner Hand und hätte fast zufrieden aufgestöhnt, als ich den ersten Bissen nehme. Gott, das schmeckt wunderbar! Und mein Magen will mehr.
„Na, zum Pubquiz. Ich brauche bei den ganzen Hohlbirnen doch etwas Unterstützung."
Okay, damit hat sie mich doch so weit, dass ich ihr einen kritischen Blick zuwerfe. Denn was das angeht bin ich wohl kaum eine Hilfe. Mir fällt es ja schon schwer die letzten fünf Präsidenten aufzuzählen. Aber als ich den Mund öffne, um ihr zu widersprechen, stützt sie die Hände in die Hüften und fährt mir dazwischen.
„Oh nein! Du wirst dich nicht weigern! Wie oft hast du mich gezwungen irgendwo mithinzugehen? Und glaube nicht, dass ich dich dafür nicht hin und wieder gehasst habe! Aber weißt du was? Du hattest recht, es war genau das was ich gebraucht habe. Also werde ich dich jetzt auch zu deinem Glück zwingen."
Energisch steht Row auf und zieht mich ebenfalls auf die Füße. Ich werde vor den Spiegel an meinem Kleiderschrank gezerrt und betrachte uns zwei zähneknirschend darin. Dieser Spiegel hat nicht die gleiche Zauberkraft, wie der von Elisa. Hier sehe ich eine strahlende und starke Row. Sie sieht super aus, hat mit der weißen Bluse mit Blumenmuster an den Ärmeln und einer einfachen Jeans genau ihren Stil gefunden. Und daneben stehe ich, irgendwie fehl am Platz. Als würde ich nicht in meine Kleider passen. Oder in dieses Zimmer oder diese Welt...
„Du wirst dir jetzt was Hübsches anziehen und wieder zu meiner starken besten Freundin mutieren, die ich über alles bewundere! Die Alexis, die ich kenne, lässt sich nicht von so Leuten wie Elisa und Heather fertig machen."
Sie schüttelt mich an den Schultern und ein Kloß setzt sich in meinen Hals fest. Mich bewundern? Dazu gibt es momentan wirklich keinen Grund. Aber ich will wieder stark sein. Will mit erhobenem Haupt durch die Welt schreiten und es allen beweisen. Und Row hat Recht. Leute wie Elisa oder Heather werden mich nicht zu Fall bringen. Genauso wenig wie ein One-Night-Stand mit dem verschlossensten Eishockeyspieler, den ich bisher treffen durfte.
Mein Blick wird entschlossen und ich beobachte, wie mein Spiegelbild tief Luft holt. Meine Augen sind etwas Mascara verschmiert und mein Gesicht sieht fahl aus. Aber das ist nichts was man mit etwas Makeup nicht wieder hinbekommt.
„Okay, gib mir kurz dann bin ich soweit."
Eine Viertelstunde später habe ich mich wieder hergerichtet. Das Wetter ist zwar immer noch eisig, trotzdem war mir nach einem Kleid und das florale Muster darauf hebt meine Stimmung tatsächlich etwas. Das Kleid ist in verschiedenen Ockertönen gehalten und ich habe es zusammen mit einer gemusterten schwarzen Strumpfhose und schwarzen Overknee-Stiefeln kombiniert. Die Absätze machen mich gute fünf Zentimeter größer, aber Kerle, die sich davon stören lassen, sind selbst schuld. Meine Haare liegen mir offen auf den Schultern und mein Makeup ist passend zur Farbe des Kleides, allerdings dezent gehalten.
Row hat die Zeit auf meinem Bett verbracht und mich mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen dabei beobachtet, wie ich zu meinem alten Ich zurückgekehrt bin. Naja, oder dem Ich, dass ich allen gerne verkaufe. Aber das ist egal. Sie hat mich aus dem Loch rausgeholt und Mal wieder kann ich ihr meine Dankbarkeit mit nichts entgelten. Also lasse ich mich zumindest dazu hinreißen sie fest in die Arme zu schließen, als wir gerade das Zimmer verlassen wollen. Etwas überrumpelt legt sie auch ihre Arme um mich und ich murmle leise: „Danke, dass du mich immer wieder rettest."
Kurz werde ich festgedrückt, dann löst sich Row und betrachtet mich ernst. „Wir gegen den Rest der Welt. Daran wird sich nie etwas ändern."
Mit einem ehrlichen Lächeln greife ich nach ihrer Hand und zusammen verlassen wir das Wohnheim. Draußen will ich sie zu meinem Auto ziehen, aber Row schüttelt den Kopf und deutet in die andere Richtung. „Gray wartet schon auf uns. Du denkst doch nicht, dass ich Freialkohol gewinne und meine beste Freundin dazu verhafte mit dem Auto zu fahren."
Normalerweise hätte ihre Art, so überzeugt von ihrem Sieg zu sprechen, mich zum Lachen gebracht. Aber als ich Grays Wagen entdecke bleibt es mir im Hals stecken. Gray ist hier? Hat er etwa die ganze Zeit auf uns gewartet? Doch bevor ich fragen kann, läuft Row auch schon los und ich muss mich beeilen ihr hinterherzukommen. Aber meine Gedanken bleiben trotzdem bei dem Thema stecken. Erst jetzt wird mir bewusst, das Row mich auf den Abend der Eishockeymannschaft mitnimmt. Menschen, die sie inzwischen sehr gut kennt, während ich nur mit ein paar von ihnen herumgeknutscht habe. Anders als früher werde nicht ich diejenige sein, die vorläuft und Row vorstellt. Ich bin das Anhängsel und das wird mir nur zu bewusst, als ich mit einem kurzen „Hi" an Gray auf die Rückbank klettere, während meine beste Freundin fröhlich plaudernd vorne bei ihrem Freund einsteigt.
Ich versuche positiv gestimmt zu bleiben, mich einfach auf den Abend zu freuen und noch viel mehr mich für meine beste Freundin zu freuen. Aber während wir über die dunklen Straßen fahren, bleibt mein Blick an meiner Spiegelung im Seitenfenster hängen. Meine Mundwinkel sind nach oben gezogen und es haben sich sogar kleine Lachfältchen gebildet. Aber wenn man genau hinschaut, schreien meine Augen nach Hilfe, um endlich nicht mehr so verloren zu sein in dieser Welt. Und ich frage mich, ob das niemand sieht... oder ob mir einfach niemand helfen kann.
„Alexis?"
Grays tiefe Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich fahre zu ihm herum. „Ähm ja?"
Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtet mich der Freund von Row über den Rückspiegel. Er scheint mit seinem Blick nach etwas zu suchen und für einen Moment fühle ich mich in die Nacht zurückversetzt, als Sean mich nach dem Showdown mit Carly heimgefahren hat. Auch er hat mich damals so bohrend angeschaut. Und ich frage mich bis heute, was er dabei gedacht hat. Wieso er mich heimgefahren hat. Dieser Kerl ist ein Widerspruch in sich. Zum einen scheint er der ruhige Typ zu sein, der sich aus den Dingen eher raushält. Dann besteht er wiederum darauf mich heimzubringen. Genauso sagt er mir in der einen Sekunde direkt ins Gesicht, dass er mich nicht attraktiv findet und schläft in der nächsten mit mir. Ich verstehe ihn nicht und erst jetzt wird mir klar, dass es das ist, was mich so verrückt macht. Normalerweise durchschaue ich Kerle. Weiß, wie sie ticken und wie ich das von ihnen bekomme, was ich will. Doch bei Sean... ich habe ihn mit etwas Arschgewackel rumbekommen, aber seine Handlungen verstehe ich trotzdem nicht.
„Ich habe dich gefragt, wie es so mit deinen Kursen läuft. Jura ist ja nicht unbedingt ein Zuckerschlecken."
Wieder reißt mich Gray aus meinen Gedanken, aber dieses Mal bekomme ich zumindest seine Frage mit. Allerdings bin ich im ersten Moment etwas überfordert, so... normal ist das Gesprächsthema. Damit habe ich nicht gerechnet, aber nach einer Sekunde reiße ich mich zusammen und lächle ihn in meinem Smalltalk-Modus an.
„Ja, es ist wirklich anspruchsvoll und so super Noten wie Row kann ich nicht aufweisen. Aber man schlägt sich durch."
Vor allem wenn man sich mit den Richtigen im Kurs gut stellt, um an die besten Lernzusammenfassungen zu kommen. Man glaubt nicht was man alles mit einem Flirt zum richtigen Zeitpunkt anstellen kann.
„Krass. Na dann bist du für alle rechtlichen Fragen beim Quiz verantwortlich. Das ist einer der wenigen Themen bei dem Bunny nicht alles weiß."
Um sie zu ärgern wuschelt Gray Row durch die Haare und sie meckert leise, während sie versucht seine Hand wegzuschlagen. Der Anblick ist so putzig, dass ich automatisch grinsen muss und als hätte es nicht mehr gebraucht – eine kleine dumme Nachfrage zu meinen Kursen – entspannte ich mich mit einem Mal in diesem Auto. Gray gehört zu den guten Kerlen. Sonst hätte ich niemals zugelassen, dass Row sich auf ihn einlässt. Und auch wenn meine beste Freundin jetzt eine andere Person in ihrem Leben hat, die ihr ein und alles ist, darf ich deswegen nicht schlecht reden, was die beiden haben. Und wenn Gray wirklich die ganze Zeit auf uns gewartet hat, während Row mich erstmal mental dazu aufbauen musste, mein Zimmer zu verlassen, hat er einfach nicht verdient, dass ich aus Eifersucht sauer bin. So jemand will ich nicht sein.
„He Bunny! Ich wollte dich damit nicht beleidigen. Du musst dienen Freunden nun Mal kleine Nischen lassen. Sonst entwickeln wir noch Minderwertigkeitskomplexe!"
„Oh damit habe ich sicherlich kein Problem. Aber anstatt meine Haare zu einem Vogelnest zu verwandeln, solltest du deine Aufmerksamkeit lieber auf die Straßen richten."
Bestimmt greift Row nach Grays Kinn und dreht es nach vorne. Dieser lacht und beginnt mit Absicht auf der leeren Straße Schlangenlinien zu fahren.
„Was? Ich weiß nicht was du meinst. Ich kann auch mit Augen zu fahren, siehst du?"
Gray tut so als würde er wirklich die Augen schließen und Row will schon einen entsetzten Laut von sich geben. Aber da hört ihr Freund auf sie zu verarschen und fährt wieder schön brav gerade auf seiner Spur. Allerdings schüttelt er sich dabei vor Lachen so panisch krallt Row sich an ihrem Sitz fest. Und auch ich muss grinsen. Einfach weil Gray eine solche Unbeschwertheit verbreitet. Etwas das ich zu gerne selbst besitzen würde. Stattdessen besteht mein Leben daraus zwanghaft alles unter Kontrolle zu halten. Nur wenn ich das schaffe, kann ich zumindest den Anschein von Unbeschwertheit vermitteln. So tun als wäre ich die Partyqueen. Aber wahre Unbeschwertheit hat damit zu tun loszulassen. Ich bin eher eine Gefangene meiner selbst. Also gebe ich mich damit zufrieden mich von der Unbeschwertheit anderer mitreißen zu lassen. Und genau das könnte mir der Abend mit dem Eishockeyteam geben. Darauf hoffe ich zumindest.
Trotzdem überkommt mich eine unübliche Nervosität, als wir auf dem Parkplatz des Irish Pubs stehen bleiben. Row und Gray steigen sogleich aus, wahrscheinlich weil eine Meute Sportler bereits ungeduldig vor der Tür des Pubs wartet. Ich kann aus der Ferne Bas und Lee erkennen und der Anblick lässt mich mitten in meiner Bewegung innehalten, als ich gerade nach dem Türgriff greifen wollte. Verdammt. Irgendwie habe ich gar nicht daran gedacht, dass die beiden auch hier sind. Und was ist wenn...
Hektisch gleitet mein Blick über die Jungsgruppe, aber das Gesicht, nachdem ich suche, kann ich glücklicher Weise nicht finden. Ein erleichtertes Seufzen kommt über meine Lippen und mit einem Kopfschütteln schelte ich mich selbst. So wie ich Sean einschätze ist er nicht der Typ für witzige Gruppenaktivitäten am Dienstagabend. Also sollte ich mir nicht so Gedanken machen. Und mit Lee und Bas komme ich schon zurecht. Vor allem Lee erinnert mich zwar immer an meine Momente der Schwäche, die ich nur zu gerne vergessen würde. Aber ein Abend lang wird mich das nicht umbringen. Zumal so viele andere noch mit dabei sind. Wenn ich nicht mit ihm sprechen will, werde ich das auch nicht müssen.
Ein Klopfen an der Fensterscheibe lässt mich zusammenzucken und als ich aufschaue, blicke ich in Rows besorgtes Gesicht. Hinter ihr steht Gray und hat einen Arm um sie gelegt, während er etwas zu seinen Freunden hinüberbrüllt. Schnell beeile ich mich auszusteigen und werfe Row ein aufmunterndes Lächeln zu. Das soll sie beruhigen. Aber Rows Blick spricht Bände. Sie wird den ganzen Abend ein Auge auf mich haben. So wie sie das auch früher immer hatte, um mir im Notfall beizustehen. Ich frage mich wirklich, womit ich das verdient habe.
„He, da ist sie ja endlich! Row komm schon, das Quiz beginnt gleich! Wir müssen uns beeilen."
Caleb tritt aus der kleinen Gruppe hervor und winkt ungeduldig. Dass er nur meine beste Freundin angesprochen hat und sich scheinbar nicht für sein Teamkollegen interessiert, bringt mich zum Grinsen. Und auch Gray scheint die Missachtung seiner Person nicht entgangen zu sein, zumindest schnaubt er und bedenkt Caleb mit seinem Mittelfinger.
„Danke, dass du uns Restliche auch hier haben willst. Du weißt aber schon noch, dass das meine Freundin ist?"
Caleb grinst breit und öffnet die Tür des Pubs, als wir nur noch wenige Schritte entfernt sind.
„Gray wir wissen beide, Row ist zu gut für dich. Irgendwann wird sie das erkennen und dann werde ich meine Chance ergreifen."
Für den dummen Spruch kassiert er von Bas einen Schlag auf den Hinterkopf, als dieser an Caleb vorbeiläuft.
„Wenn sie was Besseres als Gray verdient, sollte sie einen großen Bogen um dich machen."
Die kleine Zurechtweisung des älteren Mannschaftskollegen nimmt Caleb mit einem Grinsen hin und es ist nur zu klar, dass er seine Worte als Scherz gemeint hat. Er hat viel zu großen Respekt vor Gray, um auch nur irgendwas bei Row zu versuchen. Aber wenn ich von meiner Zeit am Mensatisch des Eishockeyteams eins gelernt habe, dann das Caleb ein unverbesserlicher Vollidiot mit einer viel zu großen Klappe ist. Allerdings bin ich ihm ganz dankbar dafür, dass sein Auftritt von meiner Anwesenheit abgelenkt hat. So bekomme ich nur vereinzelt ein kurzes Lächeln oder „Hi" von den Spielern zugeworfen, anstatt wie der uneingeladene Gast der ich bin, von allen auf einmal dumm angestarrt zu werden. Auch Lee gehört zu denjenigen, die mich bemerkt haben und versucht es mit einem freundlichen Lächeln. Doch wie immer bringe ich es nicht über das Herz die Geste zu erwidern. Stattdessen streife ich ihn mit dem gleichen höflichen Halblächeln wie alle anderen auch und folge Row ins Innere des Pubs hinein. Ich meine fast ein enttäuschtes Seufzen hinter mir zu hören. Aber vielleicht ist es auch nur mein Stolz, der mich mal wieder über alle Vernunft hinweg antreibt.
Jedenfalls merke ich wie sich meine Schultern von ganz allein zurücknehmen, kaum dass wir in den gut gefüllten Raum eintreten. Das Pub ist thematisch perfekt eingerichtet. Alles sieht rustikal und etwas abgewetzt aus, aber genau das macht den Charme des Ladens aus. Auf jedem Tisch stehen alte Flaschen, die über und über mit Wachs überlaufen sind, weil sie schon so lange als Kerzenhalter fungieren. Das Bier wird hier richtig gezapft und die Stehtische sind nichts anderes als alte Fässer, die mit einer Tischplatte versehen sind. Ich mag das, fühle mich hier jedes Mal in eine Szene von Fluch der Karibik zurückversetzt. Und die vielen Menschen hier lassen wie automatisch die selbstbewusste Maske auf meinem Gesicht erscheinen. Mit einem Mal bin ich nicht mehr das zerbrochene Mädchen, dass sich in ihrem Bett verkriecht, sondern die leicht eingebildete Blondine, die genau weiß, was für eine Wirkung sie auf andere hat. Und das Gefühl ist so erleichternd, dass ich beinahe laut aufgelacht hätte. Wer hätte gedacht, dass unter Menschen zu kommen so schnell meine Laune heben könnte? Ich vergesse immer wieder welche Wunder die Aussicht auf etwas Spaß vollbringen kann. Und mit einem Mal habe ich richtig Lust auf den Abend. Zumindest bis Caleb meine Aufmerksamkeit auf einen ganz speziellen Tisch lenkt.
„Da drüben sind die anderen schon!"
Wie alle anderen wende ich mich in die Richtung, in die Caleb zeigt. Allerdings wäre ich beinahe über meine eigenen Füße gestolpert, als ich dort das eine Gesicht entdecke, dass ich heute hier nicht sehen wollte. Das darf doch nicht wahr sein!
Liebe Grüße aus Kos 🌴❤️
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