„Wissen Sie, was ein Sicherer Ort ist, Sophie?" Dr. Harris sah mich durch seine Hornbrille an und wartete auf meine Antwort. Wir arbeiteten nun seit acht Tagen zusammen. Ich konnte nicht sagen, ob ich den Mann mochte oder nicht. Vermutlich mochte ich ihn nicht. Er war ätzend. Er stellte unbequeme Fragen und ließ nicht locker. Er bohrte nach, war pedantisch und stur. Aber er hatte Schokolade, die Gute von Lindt, Lindor-Kugeln und zwar jede Menge. Ich hatte sicher schon drei Kilo zugenommen, seit ich in dieser verdammten Klinik war und das nur, weil ich zweimal täglich eine Stunde bei Harris saß und mit ihm über meine Eltern sprach. In der ersten Woche hatten wir viel Beziehungsarbeit gemacht. Ich war, und das hatte Dr. Harris schnell eingeräumt, keine einfache Patientin, weil ich frisch traumatisiert war. Das traf zwar auf viele Patienten zu, aber diese Entführung war wohl doch ein Spezialfall. Deshalb ließ er sich viel Zeit, mich kennenzulernen und die Hintergründe herauszufinden über meine Eltern, Nick, über Merlot, Spätburgunder, Carrie und Lüttkenhaus. Und über Pur – über dieses beschissene Lied. Bislang war es leicht gewesen.
Und heute sprachen wir über Orte. „Ein Ort, wo nichts passieren kann?", versuchte ich es. Ich schluckte. Sofort dachte ich an meine Wohnung in Heidelberg. Die Wohnung war definitiv kein sicherer Ort für mich. Dort war das alles passiert. Zu Beginn der Sitzung hatten wir darüber gesprochen, was nach meinem Aufenthalt hier passieren würde. Ich hatte ihm von meinen Ängsten erzählt. Dass ich Angst hatte, was passieren würde, dass ich eine gewisse Perspektivlosigkeit erkannt hatte. Bei Jan konnte und wollte ich nicht bleiben. Ich hatte ihn damals so überrollt, ich war ihm jetzt schon so viel schuldig... Und zurück nach Heidelberg konnte ich einfach nicht. Ja, dort hatte ich eine Wohnung – die Wohnung, in der all das passiert war.
„Aber Sie haben die Wohnung noch gar nicht betreten. Sie wissen noch gar nicht, ob Sie all das überrollt", hatte Dr. Haris gesagt. „Sie steigern sich im Vorfeld in diese Vorstellung hinein und Übergeneralisieren. Sie vermeiden von vorneherein die Konfrontation mit der Situation." Dann hatte er mich nach dem Sicheren Ort gefragt.
Ich war mir noch unsicher, wohin das ganze führen sollte. Allerdings rauschte das Blut in meinen Ohren und meine Hände begannen unkontrolliert zu schwitzen und ich hatte die Worte der beigen Frau wieder in den Ohren: eine Traumatherapie ist schmerzhaft und unbequem. Ich starrte Dr. Harris an, wie vor den Kopf gestoßen. Ging er tatsächlich erst das Trauma an, bevor er an das Suchtproblem ging? Die beige Frau hatte damals gesagt, sie würde meine Behandlung ablehnen, solange ich nicht nüchtern wäre und mein Suchtproblem nicht behandelt wäre. Aber vermutlich war das hier etwas anderes. Ich war ja in Behandlung wegen dem Alkoholproblem und das eine bedingte ja das andere?
Und warum war ich jetzt überhaupt so vor den Kopf gestoßen? Ich wollte doch gar nicht, dass Harris an den eigentlich Kern des Problems ging. Daher sollte ich mich doch entspannt zurücklehnen und mit ihm über Lüttkenhaus plaudern und über den Keller das war doch quasi fast wie Urlaub, oder nicht? Ich lachte bitter auf.
Dr. Harris legte den Kopf schief. „Was ist so lustig?"
„Nichts. Fahren Sie fort."
Der Psychologe räusperte sich und wechselte das überschlagene Bein. „Der Sichere Ort ist in diesem Sinn kein physischer Ort. Es ist ein Ort in Ihren Gedanken. Ich möchte, wir Ihnen in den nächsten Sitzungen einen Sicheren Ort in ihrer Imagination kreiieren, der Ihnen hilft das Trauma zu überwinden."
Ich blinzelte und starrte ihn an. „Was?"
„Einen Rückzugsort in Ihren Gedanken, wenn Sie so wollen. Sie haben viele schreckliche Dinge erlebt, ob es die Dinge sind, die ihrem Pferd geschehen sind oder die Dinge, die Sie selbst in diesem Sommer erlebt haben. Wir werden gemeinsam einen Weg finden, dass Sie zwischen diesen Bildern wechseln können und an Ihren Sicheren Ort gelangen können und", er lächelte, „ so hoffe ich, Ruhe finden. Wie klingt das?"
Meine Augen brannten. „Gut." Die Vorstellung, diese Bilder endlich loslassen zu können, und wenn auch nur für einen winzigen Moment – wann ich es wollte, ohne Alkohol – das klang zu gut. „Das klingt gut."
Dr. Harris nickte. „Die Methode kann gut funktionieren, wenn der Raum, den Sie sich schaffen, von Sicherheit geprägt ist." Er holte tief Luft. „Wenn Sie die Augen schließen und sich einen solchen Ort vorstellen, an dem Ihnen niemand etwas anhaben kann, eine sichere Festung, wenn Sie so wollen, was für ein Ort wäre das?"
Ich schloss die Augen und ließ mich etwas tiefer in den Sessel sinken. Ich spürte das weiche Polster im Rücken und warme Arme, die sich um mich schlossen. „Nick", hauchte ich. „Mein Ort wäre Nick." Ich brauchte gar nicht länger darüber nachzudenken. Er war immer dieser Ort gewesen. Er war immer diese Sicherheit gewesen für mich. Sogar schon als ich ihn kennengelernt hatte, hatte ich das gespürt. Vielleicht, weil er mir ins Ohr geraunt hatte, dass er Polizist war, ich war mir nicht sicher – aber er war für mich immer ein Feld gewesen.
Dr. Harris schwieg einen Moment. „Gut... das müssen wir auf eine abstraktere Ebene bringen. Ihr Freund, Sophie, was schätzen Sie an ihm, dass er ihr Sicherer Ort wäre?"
Ich überlegte einen Moment – nicht, weil ich unsicher war, sondern weil ich die richtigen Worte finden wollte. „Seine Aufrichtigkeit, seine Stärke... Die Art, wie er mich ansieht..."
„Wie sieht er Sie denn an?"
„Als sei ich das Kostbarste für ihn, als sei ich... ein Geschenk, das er eigentlich nicht verdient." Ich schluckte. Ich war mir sicher, dass er sich so auch sah. Dass er eigentlich nicht glaubte, dass er nach Diana noch einmal nochmal die Liebe verdient hatte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass dieser Geist von ihr ihn einfach nicht loslassen konnte. Oder er sie. Nicht bewusst, aber sie war immer noch da - und weil sie noch da war, war ich immer noch eine gewisse Ungläubigkeit für ihn.
„Warum?"
„Weil er..." Ich biss mir auf die Lippen. „Er... hat eben auch seine Dämonen... Aber er hat diese Stärke, die er ausstrahlt und er stellt sich immer vor die, die er liebt, was immer es kostet."
Der Psychologe notierte sich etwas und schwieg einen Moment. Ich war mir nicht sicher, ob er meine Wahl gut hieß oder nicht. „Sie müssen ihn nicht verteidigen, Sophie... Schließen Sie wieder die Augen und gehen zurück. Denken Sie an Momente mit Nick, an denen sie beide ganz beieinander waren... Momente, die in ihrer Erinnerung unfassbar stark sind und... leuchten."
Ich dachte sofort an unseren Kuss im Wunder. Als ich Harris davon erzählte, nickte er bedächtig. Er bat mich vom Wunder zu erzählen und noch während ich ansetzte, ihm von dem Ort zu erzählen, an dem wir uns kennengelernt hatten, den ich als Sicheren Ort besetzen wollte, erkannte ich, dass das Wunder vielleicht, nicht die optimale Wahl war und schüttelte den Kopf. „Das Wunder ist meine Wolke...", murmelte ich. „Ich... das ist nicht mein Sicherer Ort... Das ist... meine Taubheit, aber nicht mein Sicherer Ort. Ich habe Nick da zwar gefunden, aber..." Mir stand zitternd der Mund offen und ich spürte wie mich Schweißperlen auf die Stirn traten. Ich hätte nie gedacht, dass das so schwierig sein würde. Niemals hätte ich geglaubt, dass eine blöde Fantasiereise zu einem inneren Safehouse so anstrengend werden würde. „Können wir eine Pause machen?"
„Nein." Dr. Harris schüttelte den Kopf. „Aber Sie können etwas trinken, wenn Sie möchten." Er zeigte auf das Glas Wasser auf dem Beistelltisch. Gierig stürzte ich es hinunter und stand danach auf. Nervös lief ich zum Fenster und sah hinaus. Vor dem Fenster stand ein Baum, eine Eiche vermutlich. Ein Eichhörnchen turnte darauf herum, blieb auf einem Ast sitzen und begann sich zu putzen.
„Wie war die Frage?", fragte ich.
„Keine Frage. Sie sollten an starke Momente mit Nick zurück denken..."
„Ach ja... Momente, die leuchten..." Trotzdem dachte ich an diese erste Nacht im Wunder. An diesen Kuss auf der Tanzfläche. Auch wenn ich betrunken gewesen war, der Kuss war magisch gewesen. Ich war berauscht gewesen und nicht nur vom Alkohol. Die ganze Nacht war der Hammer gewesen. Er war so süß gewesen... Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich ihn abschleppen würde – oder er mich. Er war nicht der Typ für One Night Stands und er hat ganz ehrlich zugegeben, dass ich sein erster war. Überhaupt war ich nach Dianas Tod seine erste Frau gewesen, was mich irgendwie Stolz gemacht hatte. Und diese Nacht... diese Nacht war für mich so anders gewesen als andere... ich war geblieben. Er hatte mich zu bleiben gebracht. Wir hatten gefrühstückt. Er hatte mir Frühstück gemacht. In diesem dämlichen Captain America T-Shirt. Whatever it takes.
Ich wollte schon ansetzen und von Nicks Küche erzählen. Von all den Momenten, den wundervollen Momenten, die wir dort miteinander erlebt hatten. Vom Sex auf dem Küchentisch zum Beispiel. Aber dann dachte ich auch an Carries Akte und das Bild wurde überlagert und ich zögerte.
Dr. Harris beobachtete mich währendessen ruhig und trank von seinem Kaffee, der mittlerweile kalt sein musste. Ich fragte mich, was er für Kaffee trank. Filterkaffee vermutlich. Sicherlich hatte er keine Schwäche für so außergewöhnlichen Kaffee wie Nick. An diesem ersten Morgen hatten wir uns ewig über Kaffee unterhalten und er hatte mich mit diesem sensationellen Kaffee auf Chile zum Bleiben gebracht und ---
Ich starrte den Psychologen an. Mit aufgerissenen Augen und pochendem Herzen, weil mir plötzlich unabhängig von Nick, glasklar bewusst war, welcher Ort mein sicherer Ort war. Der Ort, an dem mir niemand, nicht einmal Tristan Lüttkenhaus, etwas anhaben würde können. Nicht einmal Jana Stephan. Der Ort, an dem ich nie gewesen war.
„Ja?", machte Dr. Harris.
Ich drehte mich um und begann, vollkommen ohne Grund, zu weinen. Meine Knie gaben nach und ich sank auf dem Boden zusammen.
„Sophie? Sprechen Sie mit mir... was geht in Ihnen vor?" Harris Stimme klang warm zu mir durch wie ein Streicheln, während die Vorstellung an diesen Ort förmlich in zwei Hälften riss. Dieser Ort war mit so viel Schmerz und Sehnsucht verbunden wie kein anderer. Und an diesem Morgen war die Vorstellung, vielleicht irgendwann mit Nick dorthin zu reisen zu einer kleinen, winzigen neuen Sicherheit geworden, die ich nie weiter ausgeführt hatte.
Ich schluchzte auf und die nächsten Worte waren mehr ein unverständliches Krächzen, als dass man sie wirklich verstehen konnte. „Tanah Lot."
Mit einer unbändigen Sicherheit wusste ich, dass mein Sicherer Ort der Felsentempel im Meer auf Bali war. Ich hatte diese Reise mit meinen Eltern nie angetreten. Und vielleicht war es jetzt die Zeit, Bali zu meiner Zuflucht in meinen Gedanken zu machen.
Niemand würd mir dort jemals etwas anhaben können.
Niemand.
..........
Tanah Lot...
Damit ihr wisst, wovon Sie spricht
Foto von mir :)
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