2 | 53 | Zusammenhalt
Scheint momentan mein Lieblingstitel zu sein für Kapitel. Ich hoffe, es gefällt euch.
„Es tut mir leid, ich wusste nicht, wen ich anrufen sollte", schluchzte Cassie, während sie sich an Martens Brust drückte. Der hielt sie schweigend im Arm und wiegte sie hin und her, schaute dabei den endlos langen, beengenden Gang der Notaufnahme entlang. Nach seinem Überraschungsbesuch hatte er es noch nicht nach Hause zu Nika geschafft, denn vorher hatte er sich noch kurz mit Carlos getroffen. Als Cassie ihn erreicht hatte, waren sie sofort hergekommen. Seitdem warteten sie gemeinsam auf weitere Informationen.
Cassies Blick fiel auf Carlos, der schweigend und mit angespannter Miene auf einem der ungemütlichen Holzsitze saß, seine Hände knetete und die Tür des Operationssaals der Notaufnahme im Auge hielt. Sie hingegen konnte keine Sekunde stillsitzen. Bevor Marten sie schweigend in die Arme geschlossen hatte, war sie wie eine Raubkatze nervös den Gang auf- und abgelaufen, doch es hatte ihr nicht geholfen, den Stress loszuwerden.
All die Geschehnisse um sie herum wirkten schrecklich surreal. Romes plötzlicher Angriff, Johns Abtransport in die Notaufnahme, ihr verängstigtes Telefonat mit Marten und ihre Ankunft im Krankenhaus – alles schien wie ein Film vor ihren Augen abzulaufen. Sie war wahnsinnig vor Sorge um John. Er war bereits vor dem Eintreffen des Notarztes ohnmächtig geworden. Das Schlimmste war jedoch nicht das Warten, sondern die gefühlte Machtlosigkeit, die ihr die Luft zum Atmen nahm. Nichts für ihn tun zu können und sein Schicksal in die Hände von fremden Menschen zu legen, war unerträglich für sie.
„Er wird das überstehen", versprach Marten ihr bemüht gefasst, während sie sich fest an ihn drückte; so fest, dass sie glaubte, ihn erdrücken zu müssen. Doch er hielt sie sicher im Arm und gab ihr den Halt, den sie in diesen schweren Minuten brauchte. Die Vorstellung, dass auch nur das geringste Risiko bestand, John könnte sterben, trieb ihr erneut heiße Tränen in die Augen.
Ohne es wirklich zu wollen, lief ein grausamer Film in ihrem Kopf ab. Sie stellte sich vor, wie es sich anfühlte, wenn sie ohne ihn nach Hause kommen und von einer kalten, unerbittlichen Leere eingenommen werden würde. Es würde schrecklich sein, sich ohne ihn in diesem großen Haus aufzuhalten, und auch, wenn es so viel Platz bot, würde sie sich fühlen, als würden die Wände sie erdrücken. Sie würde es dort keine Sekunde ertragen, ebenso wenig wie im Tanzstudio, das sie überhaupt nur ihm zu verdanken hatte. Sie würde daran zugrunde gehen, nie wieder seine Stimme zu hören, ihn nie wieder lachen zu sehen oder ihn zu berühren. Ohne ihn weiterzuleben, würde auch sie umbringen.
Ein kalter Schauer lief ihren Rücken hinab, als sie an das viele Blut zurückdachte; auf dem Boden des Balkons, an den Wänden, auf dem hellen Schlafzimmerteppich, aber vor allem an seinen Händen – und an ihren, nachdem sie diese verzweifelt auf die Wunde gepresst hatte, um die Blutung zu stoppen.
„Er hat sehr viel Blut verloren und sie haben gesagt, der Stich war ziemlich tief", stellte sie betroffen fest. Ihr Blick wanderte automatisch zu ihren Fingern, an denen selbst nach der notdürftigen Säuberung noch Blut klebte.
„Das habe ich auch damals", sagte Marten ernst und nahm ihre Hände in seine. „Ich habe das auch überstanden."
„Aber sie operieren ihn schon so lang", erwiderte sie nachdenklich. „Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist."
„Der Arzt hat gesagt, sie tun alles, was in ihrer Macht steht", sagte Carlos leise. Es war das erste Mal, dass er überhaupt etwas sagte. Was, wenn das nicht reichte? Cassies Knie drohten, nachzugeben. Marten schlang seine Arme kräftiger um sie.
„Komm schon, Kleines. Setz dich hin. Sie tun, was sie können. Außerdem solltest du auf deinen Fuß aufpassen", sagte er sanft. Sie seufzte lautlos. Trotz des stechenden Schmerzes, den sie verspürt hatte, als Rome sie unsanft daran gehindert hatte zu fliehen, schien es, als hätte sie keine erneute schlimme Verletzung davongetragen. Einer der Sanitäter hatte bereits vorsichtig nachgeschaut und sie würde sicherheitshalber noch einmal Aufnahmen machen lassen, doch momentan konnte sie den Fuß ganz normal belasten.
Aber selbst das löste keinen Funken Erleichterung in ihr aus. Es gab nichts, das gerade zählte; nichts, außer, dass John durchkam. Hätte sie eine Wahl treffen müssen zwischen ihrer Tanzkarriere und Johns Leben – sie hätte ihren Traum sofort für ihn aufgegeben. Er musste es einfach schaffen.
Sie schluckte und unterdrückte ein paar neue Tränen. Die Ungewissheit, wie es John ging, machte sie wahnsinnig, doch sie musste stark sein; stark für ihn und für sich selbst. Es half ihm nicht, wenn sie hier draußen saß und ihren Gefühlen freien Lauf ließ. Sie durfte nicht daran denken, wie schlimm es für sie sein würde, ihn zu verlieren, sondern musste sich darauf konzentrieren, wie wichtig es für John selbst war, dass er überlebte.
Es gab Menschen, die ihn brauchten; Marten zum Beispiel. Seit er im Gefängnis saß, brauchte er seinen Cousin mehr denn je. Sie wusste, dass niemand Johns emotionale Unterstützung für ihn ersetzen konnte. Doch er musste sich nicht nur um Marten kümmern, sondern vor allem um seine Mutter. Nicht auszudenken, wenn sie ihr sagen müsste, dass ihr Sohn vor ihr verstorben war. Allein die Vorstellung ließ sie erschaudern. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie seine Mutter bisher nicht informiert hatte.
„Ich muss seine Mum anrufen", platzte es hektisch aus ihr heraus, bevor sie sich mit den Händen durch die Locken fuhr.
„Später. Es ist mitten in der Nacht", sagte Marten sanft. „Setz dich erstmal wieder hin."
Schweigend folgte sie seiner Aufforderung und ließ sich neben Carlos auf den freien Sitz aus Holz fallen.
Sie war mit dem Kopf so sehr bei John, dass ihr nicht einmal mehr auffiel, wie ungemütlich die Sitzfläche war. Marten setzte sich neben sie, legte seinen Arm um sie und zog sie zu sich heran. Sie ließ es einfach geschehen. Sie war dankbar dafür, dass er ausgerechnet an diesem Wochenende auf Freigang war, auch, wenn das bedeutete, dass er gerade seine einzige Nacht mit seiner Freundin opferte, um bei ihr zu sein.
„Es wird alles gut", versicherte er. „In unserer Familie wird nicht so schnell gestorben."
„Ich wünsche mir die ganze Zeit, dass das hier nur ein schrecklicher Traum ist, aus dem ich gleich aufwache", sagte sie gefasst und wischte sich die letzten getrockneten Tränen von den Wangen. Anschließend verhakte sie ihre Finger mit seinen, bevor sie ihren Kopf gegen seinen lehnte. Es war schön zu spüren, dass diese besondere Bindung zwischen ihnen nach wie vor bestand, auch, wenn sie den Kontakt zueinander reduziert hatten. Sie wussten einfach, dass sie sich jederzeit auf den jeweils anderen verlassen konnten und füreinander da waren, wenn es hart auf hart kam. Er war tatsächlich zu dem Bruder geworden, den sie nie gehabt hatte und war dankbar dafür; in diesem Moment mehr als jemals zuvor. Selbst in dieser kritischen Situation strahlte er so viel Ruhe aus, dass diese sich auf sie übertrug. Ohne ihn hätte sie vermutlich zugelassen, dass ihre Angst sie überwältigte und wäre verzweifelt zusammengebrochen. Doch je länger sie gemeinsam dasaßen und warteten, dass die quälende Ewigkeit des Wartens endete, desto ruhiger wurde sie.
Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als sich irgendwann die Tür am Ende des Gangs öffnete. Als sie den dunkelhaarigen Arzt im grünen Kittel aus dem Not-OP kommen sah, stand Cassie auf und lief zielstrebig den Gang hinunter. Marten und Carlos folgten ihr.
„Wie geht es ihm?", fragte sie bemüht gefasst und musterte den Mann mittleren Alters aufmerksam. Sein ernster Gesichtsausdruck beunruhigte sie, doch sie zwang sich zur Ruhe. Die Sekunden, in denen der Arzt sie schweigend anschaute, fühlten sich zunächst an wie endlose Stunden, ehe die Welt um sie herum komplett zum Stehen kam. Ihre Finger hatten zu schwitzen begonnen, während das durch ihre Adern rauschende Blut ihre Ohren zum Klingeln brachte. Als ihr Gegenüber endlich zu einer Antwort ansetzte, hielt sie den Atem an und das Herz schlug ihr bis zum Hals, während ein heißer Schauer sie ergriff.
„Das können wir noch nicht hundertprozentig sagen", zerstörte der Arzt ihre Hoffnung auf eine positive Rückmeldung. Cassie fuhr sich schwer seufzend mit den Händen durch die Haare. „Wir konnten die Blutung stoppen, aber es ist wichtig, wie er die Nacht übersteht."
Sie sammelte sich, wurde ernst und schaute ihm mit klarem Blick ins Gesicht.
„Wie stehen die Chancen?", fragte sie und ihre Augen funkelten aufmerksam. Der Anflug eines Lächelns machte sich auf dem Gesicht des Arztes breit. Sie atmete innerlich erleichtert auf.
„Natürlich kann es Komplikationen geben. Aber ihr Freund scheint ein tougher Kerl zu sein. Ich denke, wir können zuversichtlich sein", sagte er.
„Wie schlimm sind seine Verletzungen?", fragte Cassie nüchtern. Der Arzt seufzte. Sie musste jetzt genau zuhören, damit ihr nicht vielleicht wichtige Details entgingen.
„Die Stichwunde ist fünf Zentimeter lang und zehn Zentimeter tief. Durch eine Perforation des Darms kam es zu einer Blutung im Bauchraum, die wir jedoch gestoppt und ausgeräumt haben. Die Schnittwunde an seiner Hand haben wir versorgt. Es wurden glücklicherweise keine Sehnen durchtrennt."
„Ist das gut?", fragte sie verwirrt.
„Fürs Erste ja", erwiderte der Arzt. „Wenn über Nacht keine neuen Einblutungen auftreten, sollte er es überstehen."
„Kann ich zu ihm?", fragte sie. Der Arzt nickte.
„Sobald er wach ist, sage ich ihnen Bescheid", versicherte er ihr.
Cassie atmete erleichtert auf, als sich der Arzt entfernte.
„Gott sei Dank", entfuhr es ihr, bevor sie kraftlos in Martens Arme sank. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Ich habe doch gesagt, wir sterben nicht so schnell."
„Ich hole mir einen Kaffee. Wollt ihr auch was?"
Sie wandte Carlos dankbar lächelnd ihren Kopf zu.
„Nein, danke."
Sie setzte sich wieder zurück auf den Holzsitz und ließ ihren Blick schweifen. Marten leistete ihr weiterhin Gesellschaft.
„Tut mir leid, dass du Nika nicht überraschen konntest", sagte sie irgendwann.
„Es geht hier um John. Sie wird das verstehen", erwiderte er.
„Vielleicht klingelst du ausnahmsweise", murmelte sie.
„Weil?"
„Es ein schreckliches Gefühl ist, wenn du aufwachst, und aus dem Nichts steht eine dunkle Gestalt in deinem Schlafzimmer", kommentierte sie und erschauderte bei der Erinnerung an diesen Augenblick. Marten sagte nichts. Es war offensichtlich, dass es ihm leidtat.
„Wär kein Verlust, wenn er an dieser Stichwunde verreckt", knurrte er düster. Cassie nahm sanft seine Hand. Die Vorstellung, Rome könnte sterben, war ebenfalls unheimlich, doch ihre Angst vor ihm war größer, nachdem sie gesehen hatte, zu was er fähig schien.
„Denk nicht mal dran, nachzuhelfen", flüsterte sie und sah eindringlich in seine Augen.
„Mach ich nicht. Aber verdient hätte er es."
Sie biss sich auf die Unterlippe, dann senkte sie ihren Blick auf ihre Hände.
„Es ist schön, dass du da bist", sagte sie aufrichtig und schaute erneut in seine Augen. Er lächelte.
„Nicht der coolste Anlass, aber ich freu mich auch, Zeit mit dir zu verbringen. Du könntest mich ruhig mal wieder besuchen kommen."
„Tut mir leid, aber Nika hat-"
„Schon okay. War die richtige Entscheidung", sagte er.
Sie wollte gerade etwas sagen, als zwei Männer mittleren Alters sich ihnen näherten. Marten seufzte lautlos.
„Was ist?", zischte sie nervös.
„Bullen", murmelte er und schob seine Hand in die Tasche seiner Trainingsjacke. Sie runzelte die Stirn. Dann hielt sie den Atem an.
„Etwa wegen Rome?"
„Denke schon. Soll ich die für dich abwimmeln?"
„Hab ich ne Wahl?"
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen, auch, wenn es nicht viel zu John gab 😔 aber dafür gab es einen kleinen Gastauftritt von Marten. Also immerhin etwas.
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