Kapitel 10
• W E S •
Ich dränge meine Schulter gegen die Durchgangstür, damit sie sich öffnen lässt, und balanciere die Teller in meiner Hand einigermaßen elegant zum Tisch, an welchem ein Pärchen schon wartend sitzt. "Entschuldigen Sie bitte, dass Sie länger warten mussten", sage ich, während ich die Bestellung vor ihnen abstelle. "Heute ist ganz schön viel los."
Die dunkelhaarige Schönheit winkt lächelnd ab. "Kein Problem."
"Guten Appetit."
An einem Nebentisch mache ich mich daran, das dreckige Geschirr zusammenzusuchen, als jemand mir von hinten die Augen zuhält. Überrascht richte ich mich auf und greife nach den Händen, um sie wegzuziehen, drehe mich dann zu meiner Kollegin um, die lächelnd zu mir aufsieht.
Mir ist allerdings nicht zu Lachen zumute.
"Naomi, wo warst du, verdammt? Deine Schicht hat vor einer halben Stunde angefangen! Schau dich mal um", ich mache eine Handgeste über die besetzten Tische, "Hier ist die Hölle los und ich bin damit ganz allein ..."
"Mach dir mal nicht ins Hemd, Wes", sagt sie und nimmt mir die schmutzigen Teller ab. "Mein Fahrrad hatte einen Platten. Da musste ich mit dem Bus herfahren."
Ich versuche, mich zu beruhigen, und atme dafür ein paar Male langsam ein und aus. "Es soll mir egal sein. Du bist jetzt hier, also alles gut."
Sie sieht sich um, als suche sie jemanden. "Ich habe eigentlich damit gerechnet, den Neuen kennenzulernen."
"Matt hat vorhin angerufen. Er klang nicht so gut", entgegne ich. "Mir würde es jetzt aber sehr am Herzen liegen, wenn du arbeiten würdest. Die Bestellungen nehmen sich schließlich nicht von allein auf", mache ich ihr klar, woraufhin sie amüsiert die Augen verdreht.
Doch dann scheint etwas ihre Aufmerksamkeit gewonnen zu haben. "Dann werde ich mal den einsamen Jungen dort fragen, womit ich dienen könnte", sagt sie und geht an mir vorbei.
Überrascht schaue ich ihr hinterher. Es ist ausgerechnet Evan, der an einem der Tische an der Wand sitzt und die Menükarte studiert. Wobei es eher so aussieht, als würde er tief in Gedanken versunken zu sein. Das bestätigt sich, als er regelrecht aufschreckt, nachdem Naomi ihn anspricht.
Ich kann nicht verhindern, dass sich ein Schmunzeln auf meine Lippen schleicht.
Während ich meiner Arbeit weitergehe, lasse ich ihn nicht aus dem Auge. Er ist wie ein Magnet, von dem ich angezogen werde.
Als meine Kollegin zurückkommt, strahlt sie übers ganze Gesicht. "Hast du gesehen, wie schnuckelig der Typ ist? Wäre es dreist, ihm meine Telefonnummer unterzujubeln?"
"Definitiv."
"Egal, ich möchte mein Glück versuchen", meint die kleine Blondine und wirft ihre Haare über die Schulter, rauscht dann in Richtung Küche davon.
Kommentarlos lasse ich das über mich ergehen. Stattdessen kümmere ich mich weiter um die anderen Gäste, die versorgt werden müssen. Dabei habe ich das ständige Gefühl, beobachtet zu werden. Und tatsächlich erwische ich Evan manchmal dabei, wie er mich anstarrt. Und jedes Mal, wenn sich unsere Blicke treffen, lächelt er zurückhaltend.
Meine Knie sind durchgehend Wackelpudding.
Mittlerweile könnte ich ihn schon damit konfrontieren, dass er öfter hier ist, obwohl sein Freund nicht arbeitet. Hinter seinen Besuchen müsse also etwas anderes stecken. Und natürlich erhoffe ich mir innerlich, dass sie wegen mir ist.
Jedes Mal, wenn wir uns treffen, stellt dieser Lockenkopf etwas mit mir an, das ich seit langem nicht mehr gefühlt habe. Und obwohl ich es verhindern wollte, habe ich mich eindeutig in den Typen verknallt. Das schien auch nicht sehr schwer zu sein.
Dabei ist es so verrückt. Wir haben uns ein paar Male miteinander unterhalten - die Gespräche waren immerzu wahnsinnig unterhaltsam -, und ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass er ein guter Mensch ist. Aber reicht sowas schon, um sich für jemanden auf diese eine gewisse Art zu interessieren?
Offenbar schon.
*
Ich bin gerade dabei, an der Theke ein wenig Ordnung zu schaffen, als eine vertraute Stimme in mein Ohr dringt.
"Entschuldigung? Könnte ich noch etwas zu trinken haben?", höre ich Evan rufen.
Naomi ist gerade anderweitig beschäftigt, sodass ich zum Getränkeschrank gehe und eine Flasche Cola herausnehme.
Mittlerweile ist es ruhiger geworden. Die Pizzeria leert sich nach und nach. Einige Studenten sitzen in Lerngruppen an den Tischen oder lassen den Freitagabend gemeinsam ausklingen.
So erlaube ich es mir, mich zu meinen Bekannten zu setzen. Wortlos stelle ich ihm die Glasflasche vor die Nase.
"Matthew scheint nicht zu arbeiten, oder?"
"Hast du ihn die letzten zwei Stunden gesehen?", stelle ich als Gegenfrage, was er belächelt.
"Nein."
"Er hat sich krankgemeldet."
"Er war schon in der Schule ein wenig neben der Spur."
Ich betrachte Evan eingehend. Er wirkt auch nicht gerade gut gelaunt. "Trägst du wieder ein Problem mit dir herum?", möchte ich deshalb wissen.
Evan runzelt überrascht die Stirn, was ziemlich heiß aussieht. "Woher weißt du ..."
"So langsam habe ich ein Gespür dafür. Also möchtest du darüber reden?", biete ich an, doch er schüttelt den Kopf.
"Ich kann dich nicht jedes Mal damit nerven."
"Wer behauptet denn, dass ich genervt bin? Wäre ich es, würde ich dir ja wohl kein offenes Ohr anbieten."
Er scheint wenig überzeugt zu sein. Ich beobachte ihn dabei, wie er eine der Servietten nimmt und daraus wieder ein Flugzeug bastelt. "Möchtest du es lieber aufschreiben?"
"Nein, nein. Ich … es geht eigentlich gar nicht um mich", erzählt er.
"Sondern?"
"Matthew lässt mich nicht an sich heran. Und das frustriert mich ein wenig", gesteht Evan schließlich, was mich nur noch stutziger werden lässt.
"Evan, du weißt aber, dass er alt genug ist, um seine Angelegenheiten selbst zu regeln ..."
"Das ist etwas anderes, glaube mir. Ich kann nicht sehr ins Detail gehen. Aber unsere Freundschaft ist durch so einiges geprägt, dass ich mir berechtigterweise Sorgen machen kann. Und, naja, Matt macht es sich im Leben selbst oft sehr schwer. So wie auch heute." Seufzend stützt er seinen Kopf ab. "Ich würde so gerne helfen, weiß aber nicht wie. Sie befinden sich in einer Zwickmühle, die nur die beiden bewältigen können."
"Sie?"
Evan nickt.
So gern ich ihm auch einen Rat geben würde, bin ich gerade zu sehr verwirrt, um überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können.
Nur eines ist deutlich zu erkennen. "Lockenköpfchen, du solltest auch mal abschalten und dich um dich selbst kümmern. Du kannst nicht die Welt retten, weißt du?" Ehe ich mich stoppen kann, habe ich über den Tisch gegriffen und meine Hand auf seine gelegt. Er behält sie an Ort und Stelle. "Ich kann mir vorstellen, wie schwer es dir fällt, aber vielleicht solltest du Matt einfach mal machen lassen. Er muss, wenn er aus sich herauswachsen möchte, es allein schaffen."
"Lockenköpfchen?"
Grinsend lehne ich mich zurück. "Das ist doch wohl nicht das einzige, das du jetzt aus meiner kleinen Rede mitgenommen hast."
Warum muss er nur so sein? Er ist so verdammt niedlich!
Seine Wangen nehmen unverkennbar einen rötlichen Farbton an. "Ähm, also … danke für deinen Rat. Mal wieder. Ich denke, ich sollte dich nicht weiter von deiner Arbeit abhalten." Er rückt seinen Stuhl zurück und springt auf.
Ich sehe ihm zu, wie er sich seine Jacke überzieht und dann sein Portemonnaie aus der Hosentasche zieht. Als er mir vierzig Dollar hinlegt, halte ich ihn auf. "Warte, du bekommst noch ..."
"Behalte den Rest. Du hast dir das Trinkgeld bei mir echt verdient", entgegnet er.
Meine Augen weiten sich, und als er realisiert, was er da von sich gegeben hat, wendet er sich ab. "W-wir sehen uns."
Sprachlos schaue ich ihm nach, wie er die Pizzeria verlässt. In dem Moment tritt Naomi an den Tisch. "Wie jetzt? Er geht einfach so? Was ist denn mit dem?"
"Er hatte es eilig", murmle ich.
Sie greift nach den Geldscheinen und wedelt mit ihnen herum. "Naja, wenigstens hat er ein gutes Trinkgeld da gelassen."
Augenverdrehend stehe ich auf und schnappe ihr das Geld aus der Hand. "Und das gehört nicht dir, Schätzchen."
"Ey!"
• E V A N •
"Das kann doch echt nicht wahr sein", murmle ich wütend vor mich hin und starre wie hypnotisiert auf mein Handy, warte auf eine Nachricht von Chris.
Seit einer halben Ewigkeit versuche ich schon, ihn zu erreichen. Aber es passiert einfach nichts.
So langsam frage ich mich wirklich, warum ich mir die Mühe mache, ihm ständig hinterher zu laufen.
Warum mache ich mir eigentlich Sorgen um ihn? Er wollte mit Matthew reden. Das lief wohl nicht sehr gut und da ist er abgehauen. Hat die restlichen zwei Stunden geschwänzt. Erreichbar ist er nicht.
Entweder er verkriecht sich einfach in seinem Zimmer oder er baut gerade irgendeinen Mist. Ich hoffe auf Ersteres. Den Scherbenhaufen willich nämlich ungern beseitigen, aber wie ich mich kenne, würde ich es trotzdem tun.
Ein tiefer Seufzer verlässt meinen Mund, als ich vom Sofa aufstehe und ans Fenster gehe, um ein bisschen frische Luft reinzulassen. Ich brauche gerade einen klaren Kopf. Als die frische Brise mich umgibt, höre ich Chris sagen: "Vielleicht solltest du mal lernen, dich aus manchen Dingen rauszuhalten."
Und so denke ich augenblicklich auch daran zurück, als ich bei Wes in der Pizzeria war. Wie er mir geraten hat, Matthew seinen Weg gehen zu lassen.
Wahrscheinlich sollte ich das wirklich tun. Womöglich mische ich mich zu oft in die Angelegenheiten meiner Freunde ein. Aber das tue ich nur, weil sie mir so wichtig sind.
Es ist doch verrückt. Einerseits habe ich in den letzten Jahren Piper ständig gesagt, sie soll Matt nicht so einengen, dabei habe ich nichts anderes mit ihm oder Christoph gemacht. Wenn auch anders, aber besser bin ich definitiv nicht.
"Es ist wohl besser, wenn ich die beiden einfach machen lasse", überlege ich laut und schaue nach draußen. Genau in dem Moment entdecke ich meinen völlig aufgewühlten Freund, der aus dem Nachbarshaus stürmt. Aus Chris' Haus.
"Verdammte Scheiße", zische ich, als Matthew gerade noch rechtzeitig einem Auto ausweichen kann.
Ohne zu überlegen, stürme ich nach draußen und steuere den in sich kauernden Jungen an, der sich auf den Fußweg fallen gelassen hat. Auf meine Rufe reagiert er nicht. Schon von der Entfernung kann ich erkennen, wie sein Körper zittert. Er scheint vollkommen fertig zu sein. Irgendwas muss geschehen sein. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich wirklich wissen möchte, was ihn so aus der Fassung gebracht hat.
Als ich ihn erreicht habe, lege ich Matthew eine Hand auf den Rücken. "Matty, was ist los? Warum bist du hier? Und vor allem, wieso weinst du?", bombardiere ich ihn mit Fragen. Doch anstatt mir zu antworten, schaut er zu mir auf. Über sein Gesicht fließen die Tränen. Ich seufze. "Chris?"
Als er nickt, helfe ich ihm aufzustehen. Um ihn ein wenig zu beruhigen, streiche ich ihm mit dem Daumen die Tränen weg. "Wir gehen rein, da mache ich dir einen Tee und sobald du dich beruhigt hast, erzählst du mir alles. Okay?"
Er lässt sich von mir über die Straße führen. Mir entgeht nicht, wie er zu Chris' Haus schielt, sage dazu aber nichts. Erst als ich die Haustür hinter uns schließe, spüre ich, wie er sich ein wenig entspannt.
"K-kann ich auch ei-einen Kakao haben?", fragt er mit gebrochener Stimme.
Vor mir steht nicht mehr mein bester Freund, sondern ein kleiner Junge mit zerrissener Seele. Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen. Mein Vorhaben, mich ab sofort rauszuhalten, beiseitegeschoben, gehe ich mit ihm in die Küche.
Während Matt sich auf einen der Stühle setzt, hole ich aus einem Hängeschrank zwei Tassen und stelle sie vor ihm hin. "Also, was ist zwischen euch beiden schon wieder vorgefallen? Und was hast du überhaupt bei ihm gemacht?", falle ich sogleich mit der Tür ins Haus.
"I-ich wollte mit ihm über unsere Präsentation reden, die wir für Sozialwissenschaften vorbereiten müssen."
Mit gerunzelter Stirn hole ich Milch aus dem Kühlschrank und erwärme sie auf dem Herd. "Matty, irgendwas stimmt doch nicht. Erst verschwindet er schon wieder mitten am Tag und reagiert auf keine meiner Nachrichten und dann gehst ausgerechnet du zu ihm nach Hause, hockst dann aber wie ein Häufchen Elend vor unseren Häusern."
"Er wollte doch mit mir reden. Über uns. Aber bevor er so wirklich etwas sagen konnte, habe ich ihn ... abgewiesen", höre ich ihn murmeln.
Ungläubig drehe ich mich zu meinem Freund um. "Du hast Christoph einen Korb erteilt? Wieso denn das, Matty?" Die Milch kocht schnell auf, sodass ich sie mit einem Schneebesen umrühre. Dabei behalte ich Matt aber im Auge.
Dieser lässt frustriert den Kopf hängen. "Weil ich keinen Jungen mögen kann, Evan! Es geht einfach nicht!", sagt er leise, aber bestimmend.
Das beschäftigt ihn also? Er hat Angst vor seinen Gefühlen für Chris, weil er ebenso ein Junge ist? Nicht nur, dass er schon denkt, nichts wert zu sein, möchte er sich wirklich gegen sich selbst wehren?
"Du solltest das tun, was dich glücklich macht. Und verdammt nochmal, wenn dich eben ein Junge glücklich macht und es ausgerechnet Chris ist, dann ist das so. Und falls es wieder um deine Eltern geht, dann verdränge ihre Stimmen in deinem Kopf. Du bist etwas ganz Besonderes und wirst es immer sein", lege ich ihm nahe, in der Hoffnung, dass meine Worte bei ihm etwas erreichen.
Im Schrank suche ich Kakao raus und gebe ein paar Löffel davon in unsere Tassen, bevor ich die warme Milch dazu gieße. Dann schiebe ich ihm eine der Tassen über den Tisch zu. "Das Einzige, das du tun solltest, ist zu dir zu stehen. Denn sonst bringt es auch nichts, Menschen um dich herum zu haben, die dir beistehen, wenn du dein Glück nicht frei ausleben kannst", sage ich weiter.
Niedergeschlagen rührt er den Kakao um. "Ich habe aber Angst davor, zu lieben. Was ist, wenn ich ihm nicht die Liebe geben könnte, die er verdient? Du kennst doch meine Eltern. Sie waren nie ein gutes Vorbild darin, Liebe zu geben. Und wenn ich genauso bin?"
Ich bin noch nicht oft zum Vergnügen gekommen, die beiden anzutreffen. Aber falls es doch mal geschehen ist, war es sehr unschön. Besonders seine Mutter macht keinen Hehl daraus, wie sie zu ihrem Sohn steht. Und das macht mich unheimlich wütend.
"Das bist du nicht. Du bist kein bisschen wie deine Eltern, Matty. Und sie verdienen es nicht, dass ihr Sohn in sein eigenes Unglück rennt. Dir bedeutet Chris doch etwas, das sehe ich dir an der Nasenspitze an. Warum versuchst du es dann nicht erstmal?"
Ich greife über den Tisch nach seiner Hand und bevor er zurückweichen kann, umfasse ich seinen Arm und ziehe den Ärmel seines Pullovers nach oben. Es geht ihm genauso wie mir, als wir die blassen Narben auf seinem Arm sehen. "Sieh dir das an, Matty. Sind das hier deine Eltern wirklich wert gewesen? Du hast keine Probleme. Du hast keine Fehler. Du bist einfach du. Okay?" Ich lasse von seinem Arm ab, umfasse stattdessen sein Kinn, um ihn deutlich zu machen, dass ich ihn den Halt gebe, den er braucht.
Und tatsächlich wirft er sich schniefend in meine Arme. "Du bist der beste Freund, den man haben kann. Ohne deine Unterstützung könnte ich es nicht aushalten, die Finger davon zu lassen", murmelt er, als er sein Gesicht an meinen Hals vergräbt.
Meine Augen füllen sich mit Tränen, als ich ihn enger an mich drücke. "Du weißt, dass du zu jeder Zeit zu mir kommen kannst. Ganz egal, um was es geht."
Es vergehen ein paar Minuten, in denen wir so bleiben, dann lösen wir uns lächelnd voneinander.
"Ich habe dich lieb, Evan."
"Ich dich auch, Matty."
Schließlich setzen wir uns gegenüber und reden über die unsinnigsten Dinge, während wir uns den Kakao schmecken lassen. Ich merke meinem Freund an, wie er sich nach und nach mehr entspannt und sich von mir beruhigen lässt. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ihn tröste, aber er scheintgerade besonders aufgelöst zu sein.
Irgendwann springt er hoch und starrt mit aufgerissenen Augen an mir vorbei. "Mist, ich muss doch zur Arbeit!", ruft er aus. "Ich schaffe es doch niemals rechtzeitig, wenn ich jetzt noch mit dem Bus fahren muss! Warum läuft heute eigentlich alles schief?", stöhnt er verzweifelt, was mich zugegebenermaßen ein wenig belustigt.
"Rufe doch in der Pizzeria an und sag, dass du ein bisschen später kommst", schlage ich vor, doch er schüttelt energisch den Kopf.
"Dann bin ich doch tot! Entweder mein Chef oder später meine Mutter, wird mich einen halben Kopf kürzen." Er kaut auf seiner Unterlippe herum, was er immer tut, wenn er nervös ist. Ihm scheint aber schnell etwas einzufallen, denn er fischt sein Handy aus der Hosentasche und hält es sich einen Moment später ans Ohr.
Gespannt beobachte ich ihn. "Was tust du jetzt?"
"Wes kommt sowieso immer erst kurz vor Schichtbeginn! Bestimmt kann er mich mitnehmen."
Als sein Name fällt, löst es augenblicklich ein Kribbeln in meiner Bauchgegend aus, was mich ein wenig aus dem Konzept bringt. Das lasse ich mir allerdings nicht anmerken. Ich führe lächelnd meine Tasse an den Mund. "Das scheint doch ein Plan zu sein."
"Bist du gerade auf dem Weg zur Arbeit?", spricht Matthew dann auch schon zu seinem Arbeitskollegen und verdreht dann die Augen. "Und dann telefonierst du, während du hinterm Lenkrad sitzt? Könntest du mich vielleicht mitnehmen? Ich habe die Zeit vollkommen aus den Augen verloren."
Er hört, was Wes sagt, und scheint dann erleichtert zu sein. Als er scheinbar aufgelegt hat, sehe ich ihn fragend an. "Und? Was hat er gesagt?"
Matt tippt irgendwas auf seinem Handy herum. "Er kommt gleich. Komisch, als ich dich erwähnt habe, hat er sofort zugestimmt, mich abzuholen."
Ich kann nicht verhindern, dass sich ein Grinsen um meine Lippen schleicht, versuche, es aber hinter meiner Tasse zu verstecken. "Das ist wirklich komisch", gebe ich betont normal von mir. Offensichtlich ohne Erfolg.
"Warum lächelst du plötzlich?"
"Ich weiß nicht, was du meinst. Das tue ich doch gar nicht."
Er glaubt mir kein Wort.
*
Als es einige Minuten später an der Haustür klingelt, springe ich vom Stuhl und flitze los.
Es ist schwer zu erklären, aber es freut mich, dass Wes hier ist.
Er lächelt mich an, als ich ihm die Tür öffne. "Hey", begrüße ich ihn schüchtern und trete beiseite, um ihm Platz zu machen.
"Selber hey." Er kommt meiner Einladung nach und kommt hinein, lässt dabei seinen Blick durch den Flur wandern. "Schön hast du's hier. Ich bin schon ein bisschen beleidigt, dass du mich noch nie eingeladen hast."
Ich lehne mich an den Türrahmen an. "Sowas kann man schnell nachholen", erwidere ich und beiße mir unwillkürlich auf die Lippe. Ihm entgeht es nicht. Seine Augen wandern zu meinem Mund.
Was auch immer hier passiert, ich kann es mir nicht erklären. Bei ihm fühle ich so eine Leichtigkeit, die ich sonst nicht kenne. Nicht einmal bei Chris.
Es ist eher, dass Wesley … mich nervös macht. Nervosität - das trifft es ganz gut.
Matthew tritt hinter ihm und räuspert sich. "Hi, Wes. Können wir los?"
Doch anstatt mit ihm zu gehen, hält der Dunkelhaarige ihm seine Autoschlüssel vor die Nase. "Du kannst schon mal ins Auto steigen. Ich komme sofort nach", meint er zu meinem Freund, starrt mich aber weiterhin an.
Matt lässt uns allein. Nur so nebenbei bemerke ich, wie er sich von mir verabschiedet. Ich warte gebannt darauf, was Wes wohl als Nächstes sagen wird.
Als sein Arbeitskollege außer Reichweite ist, fragt er schmunzelnd: "So … und wann darf ich mit einer Einladung deinerseits rechnen?"
Ein Grinsen umspielt wieder meine Lippen, als ich die Arme verschränke. "Wer weiß. Kommt wohl darauf an, wie sich gewisse Umstände regeln lassen."
Er hebt amüsiert eine Augenbraue. "In wessen Händen liegen denn diese Umstände?"
In denen eines verwirrten Teenagers.
Was macht dieser Typ mit mir, dass ich mich so aufführe, sobald ich in seiner Nähe bin? Es reicht eigentlich schon, dass ich an ihn denke, und alles in mir spielt verrückt. Sowas kenne ich nicht. Wie soll ich damit umgehen?
Natürlich bemerkt er mein Zögern, ich bin aber erleichtert, dass er nicht weiter darauf herumreitet. "Du kannst demjenigen zumindest gerne ausrichten, dass ich warten werde", versichert er mir und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln. "Er soll sich einfach mal melden."
Sofort schießt mir eine mörderische Hitze in die Wangen, wofür ich mich innerlich verfluche. Und auch das entgeht ihm nicht. Schnell senke ich den Blick und beiße mir wieder auf die Unterlippe, wie schon zuvor.
So muss sich wohl Matthew fühlen. Kein Wunder, dass er so durcheinander ist.
"Also, ähm ... wir könnten viellei ...", beginne ich, als ein Hupen hinter mir ertönt.
Wir sehen uns beide verwundert um und sehen Matt, der mit seinen Händen herumwedet und dann auf sein Handgelenk deutet. Sie sollten zur Arbeit fahren.
"Ich … sollte dann mal gehen, wenn ich nicht zu Pizzabelag verarbeitet werden will", scherzt Wes und klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. Es fühlt sich an wie ein Dämpfer meines brodelten Inneres. Kein schönes Gefühl.
"Das wollen wir natürlich nicht", entgegne ich und zwinge mich zu lächeln, als er mich auf einmal in eine Umarmung zieht.
Feuer.
Mein ganzer Körper steht in verdammten Flammen!
Ich atme seinen Geruch ein und fühle mich mit einem Mal berauscht.
Doch dann löst er sich viel zu schnell von mir und tritt ein paar Schritte zurück nach draußen. "Dann … sehen wir uns wohl", wiederholt er unsere übliche Verabschiedung.
"Auf jeden Fall. Bis dann."
Er hebt kurz die Hand und deutet einen Winker an. "Bis dann." Dann wendet er sich auch schon von mir ab und geht auf seinen Wagen zu, in welchem Matthew auf ihn wartet.
Ich bleibe an der Tür stehen, bis die beiden wegfahren, und werde mir dann erst bewusst, was gerade geschehen ist.
Ich habe mich von Wes völlig aus dem Konzept bringen lassen.
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