Kapitel 10 - Last


Bel



Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden, während sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Unverständnis auf den Hafen hinaus starrte. Es schien, als würde sie ihre Umgebung förmlich in sich aufsaugen und auch wenn ihr Gesicht offen wie ein Buch war, so hatte sie ihren Körper besser unter Kontrolle. Zwar krallte sie die schmutzigen Fingernägel in die Reling, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten, aber sie stand aufrecht und erweckte nicht den Eindruck, kurz vor einer Ohnmacht zu stehen.

Was mein Befinden anging, da war ich mir nicht ganz so sicher. Wie war es möglich, dass sie hier vor mir stand, wo ich doch selbst am besten wusste, dass dies völlig unmöglich war. Schließlich waren vor über zweihundert Jahren alle Luftelemente von Galatea hingerichtet worden und seitdem hatte sich auch keines mehr durch ein Portal hierher verwirrt. Doch Zola hatte sich noch nie geirrt. Wenn es sich hierbei um Magie handelte, dann musste sie unglaublich mächtig sein.

Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals hinunter. Das Volk würden vor Freude ausflippen, wenn es erfahren würden, dass wieder ein Luftelement existierte. Galatea wäre darüber sicherlich besonders nicht erfreut. Und ich? Ich erahnte bereits, wie mein Schicksal die Finger nach mir ausstreckte und mich einholte.

Missmutig ballte ich Fäusten. Wie gerne würde ich ihr die Hände um den Hals legen und sie auf der Stelle damit erwürgen. Sie war eine Gesegnete, trug das Licht in sich und die Wärme. Nicht wie ich, ein Verfluchter, dem der Schatten auf Schritt und Tritt folgte und die Welt um mich herum dunkel und finster gemacht. Kalt und hoffnungslos. Ich hasste sie dafür.

»Komm mit«, knurrte ich.

Sie riss den Blick vom Hafen. »Wohin?«

Ich versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Noch immer schien sie keine große Angst zu haben, weder vor mir noch vor der Tatsache, dass sie sich in einer völlig fremden Welt befand. Zumindest wurde dieses Gefühl immer noch durch ihr Erstaunen überschattet. Deutlich konnte ich sehen, dass die Zeit in Gefangenschaft ihre Spuren hinterlassen hatte. Ihre nackte Haut war schmutzverkrustet und fahl, die teils fettigen Haare völlig verfilzt und stumpf.

Ich ignorierte ihre Frage. Sah sie nur an. Spürte, wie das Blut durch meine Halsvene pumpte. Ich würde nicht mit ihr diskutieren. Egal wer sie war.

Sie löste die Finger von der Reling und ließ die Hände sinken. Ihr Blick huschte über das Deck zum Beiboot und erneut zum Hafen hinaus. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und nahm die Treppe. Sollte sie doch springen. Ich würde sie gewiss nicht davon abhalten.

Als ich die Schritte ihrer nackten Füße hinter mir vernahm, stellte ich fast schon enttäuscht fest, dass sie sich gegen den Sprung entschieden hatte und mir folgte. Innerlich seufzte ich. Sie wusste es nicht, würde es vielleicht nie erfahren, aber ich hatte ihr gerade die Möglichkeit eines Auswegs geboten. Doch nun hatte sie ihr eigenes Schicksal besiegelt. Dass es nicht fair war, sie nicht über die Konsequenzen aufzuklären, wusste ich, jedoch war es mir egal. Ich hatte diese Chance nie. Mir hatte man die Möglichkeit einer Wahl nie gelassen.

Das Schiff hatte nicht viele Einzelkabinen und nur dem Captain stand eine zu, während die anderen immer mal wieder bei verbotenen Glücksspielen gesetzt wurden. Das geschah natürlich heimlich, denn niemand wollte beim Vertragsbruch erwischt und hingerichtet werde. Und trotzdem wurde auf jedem Schiff heimlich gewürfelt und um ein paar Annehmlichkeiten gespielt.

Vor einer dieser Kajüten blieb ich schließlich stehen. »Hier kannst du schlafen.«

»Wir gehen nicht von Bord?«

»Nicht jetzt.«

»Wann dann?«

Ein Grollen drang aus meiner Kehle. Ich stieß die Tür mit dem Fuß auf und kam ihr so nahe, dass sie zurückwich und freiwillig eintrat.

»In ein paar Tagen. So lange wirst du dich gedulden müssen.« Ich griff nach der Türklinke, ließ dann die Hand aber sinken. »Du bist keine Gefangene, aber du tust uns allen einen Gefallenen, wenn du hier drin bleibst.«

Sie wollten noch etwas sagen, aber da hatte ich bereits den Rückweg angetreten.


***


»Das ist wirklich verrückt«, wiederholte Asil immer und immer wieder dieselben Worte und trieb mich damit langsam in den Wahnsinn. »Wie geht es dir mit Zolas Offenbarung?«

Ich setzte den Krug Bier an die Lippen und winkte mit der anderen Hand ab. »Wie soll es mir damit schon gehen?«

Asils Augenbrauen zogen sich zusammen, so wie sie es immer taten, wenn er über meine Reaktion verärgert war. Betont unauffällig ließ er den Blick durch den Schankraum der Taverne gleiten und erst als er sich sicher war, dass sich niemand für uns zu interessieren schien, lehnte er sich mir ein Stück entgegen und sah mich eindringlich an. »Komm schon«, zischte er. »Eine Luftgeborene?«

Nachdenklich stellte ich den Krug ab und starrte auf dessen Inhalt. Mir war klar, dass er mich nicht eher damit in Ruhe lassen würde, bis er eine zufriedenstellende Antwort von mir erhalten hatte, doch konnte ich ihm diese noch nicht geben, da ich selbst bisher zu keiner gelangt war. »Sagt Zola zumindest ...«

Amüsiert gluckste er. »Und wir wissen doch beide, dass Zola immer recht behält, nicht wahr?«

Ich schnaubte und verzog das Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. »Du weißt aber schon, dass es eine Ausnahme braucht, damit es zur Regel wird?«

»Du weißt so gut wie ich, dass diese Ausnahme bereits existiert. Oder hast du vergessen, dass sie den Prinzen vor Ewigkeiten hat entkommen lassen, als er halb Goldstadt abgefackelt hat und dass sie sich in ihm und seiner Macht getäuscht hat?«

Ich hob den Blick und sah Asil eindringlich an. Auch wenn ich seine These gerne widerlegt hätte, so wusste ich doch genau, dass sie stimmte. »Nein«, antwortete ich und grinste freudlos. »Nein, das habe ich nicht vergessen.«

Der Stuhl knarrte, als Asil sich zufrieden wieder zurücklehnte. »Also? Was machen wir jetzt? Ich meine, Miss Carswell wird nicht gerade vor Freude ausflippen, wenn sie erfährt, was wir mit ihr vorhaben, was ihr Schicksal ist, so wie wir sie behandelt haben.«

Angewidert verzog ich den Mund. »Sag das nicht so.«

»Schicksal?«

»Du nervst«, knurrte ich und leerte den Krug. Ohne auf Asil zu warten, stand ich auf und kehrte auf das Schiff zurück.

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