Kapitel 44
»Die Frau, die ich liebe.«
Eine Gänsehaut rauscht über meinen Körper und lässt mich leicht erschaudern, als seine Worte erst auf meine Ohren treffen, um dann direkt, ohne Umwege, in mein Herz einzuschlagen und sich von dort aus eine wohlige Wärme, wie die eines heißen Kakaos nach einem winterlichen Spaziergang, in mir ausbreitet.
Meine Augen weiten sich, und die einsetzende Stille zwischen uns wird nur durch unser leises Atmen gefüllt.
Ich atme tief und leise ein, verziehe meine Lippen zu einem sanften Lächeln und halte seinen warmen Blick mit meinem fest, ehe ich vorsichtig nicke und kaum hörbar »Ich... liebe dich auch, Ben« wispere.
Meine Stimme bricht. Sie ist noch kratzig vom Schlaf und überfordert von den Gefühlen, die in mir auflodern.
Trotz allem ist die Komik unserer Tragödie kaum zu übersehen.
Wir sitzen im Haus meiner Eltern, in meinem alten Zimmer, in dem wir das letzte Mal als Teenager Zeit miteinander verbrachten – ineinander verknallt waren, aber uns für die Freundschaft statt Liebe zueinander entschieden haben.
Wir haben uns verloren, uns im Leben verirrt, um dann Jahre später wieder aufeinanderzutreffen – nun endlich zu unseren Gefühlen stehen, und dennoch können wir nicht ohne Weiteres zusammen sein.
Nicht, solange unser vergangenes Leben wie ein alles verzehrendes Monster in unserem Nacken sitzt und nur darauf wartet, seine Klauen in unsere Herzen zu schlagen.
Er schlingt seine Arme um mich und vergräbt sich mit seinem Gesicht an meiner Halsbeuge. Hält mich fest an sich gepresst, als würde er mich inhalieren wollen... wie gerne würde ich einfach nur mit ihm verschmelzen, eins mit seiner Wärme werden.
Ich spüre seinen Herzschlag an mir, spüre, wie unsere Herzen im selben Rhythmus schlagen.
Ich weiß nicht, wie lange wir uns regungslos aneinander festhalten, die Nähe des anderen aufsaugen, als seien wir fast verhungert.
Ich wünschte, die Zeit bliebe stehen, ich wünschte, die Welt um uns würde unsere Existenz vergessen und wir könnten genau jetzt in diesem Moment neu starten.
Nur Ben und ich.
Das Knarzen von alten Holzdielen reißt uns zurück in die Realität, und Steves unverkennbare Stimme schallt zu uns hinauf: »Yo, anziehen!«
Das amüsierte Lachen und Prusten von Lauren und meiner Mutter ertönt, während die Röte in mein Gesicht schleicht.
»Essen ist fertig!« trällert meine Mutter gut gelaunt hinterher, während Ben und ich uns langsam erheben.
Einen Moment bleiben wir voreinander stehen. Er streicht mir eine entflohene Strähne aus dem Gesicht, neigt sich zu mir und platziert seine warmen, weichen Lippen auf meine Stirn.
»Komm, lass uns später weiterreden – ich wette, du hast Hunger.« Kaum hat er das letzte Wort beendet, grummelt mein Magen zustimmend leise in die Dunkelheit des Zimmers, und Ben kann sich ein Auflachen nicht verkneifen.
Es riecht inzwischen überall köstlich nach gebratenem Kürbis und Gemüse, als wir die Stufen heruntergehen und in das warme Licht der Küche treten.
Lauren und Steve haben anscheinend schon eingedeckt und sitzen am hinteren Ende des Tisches tuschelnd beieinander.
Sie lacht leise, dreht eine braune Haarsträhne um ihre Finger und stößt Steve immer wieder mit ihrer Schulter an, wenn er ihr anscheinend etwas Witziges erzählt hat.
Ich beobachte sie kurz, ziehe neugierig eine Augenbraue hoch, und als Laurens Blick den meinen trifft, erröten ihre Wangen für einen Moment. So, so.
Ich nehme mir die Weinflasche, die provokant auf dem Küchentresen steht und danach bettelt, geöffnet zu werden – mit einem zustimmenden Nicken folge ich ihrer Bitte, öffne den Wein und stelle die Flasche sowie das gebratene Gemüse mit Reis auf den Tisch.
Während des Essens verfallen wir alle in genüssliches Schweigen, loben gelegentlich den Geschmack und nehmen den einen oder anderen Nachschlag.
»Ich weiß ja nicht, wie es euch geht...«, wirft Lauren nach ihrem letzten Bissen in die Runde und blickt zwischen Ben und mir hin und her, »...aber Steve und ich haben überlegt, gleich noch ins IDOL zu gehen. Das ist ein neuer Club am Marktplatz – so ein DJ aus Europa hat das alte Backsteingebäude neben dem Pub gekauft und einen echt coolen Laden draus gemacht.«
Sie sieht genauso begeistert aus wie damals, als sie mir vorgeschlagen hat, dass wir beide unbedingt mal Bungee-Jumpen gehen sollten, und einer begeisterten Lauren kann man kaum etwas abschlagen.
Ich versuche einen halbherzigen Einwand zu liefern, dass es noch Dinge gibt, über die Ben und ich dringend sprechen müssen, werde aber schnell von den dreien überstimmt, und auch meine Mutter ist der Überzeugung, dass alles Weitere auch morgen geklärt werden kann.
Lauren steht breit grinsend auf, hakt sich unter meinen Arm und zieht mich vom Tisch hoch.
»Komm, Vivi!« jauchzt sie aufgedreht und wirkt viel entspannter und gelöster als noch heute Vormittag.
Steve zieht seine dichten Augenbrauen zu einem spöttischen Gesichtsausdruck hoch. »Vivi?« lacht er und kassiert von mir einen düsteren Blick. »Wage es ja nicht, Stevie!«
Lauren und ich stapfen kichernd die Treppe zu meinem Zimmer hoch und schließen die Tür hinter uns.
Ganz selbstverständlich öffnet sie meinen Kleiderschrank, in dem tatsächlich noch meine Klamotten von damals in Wäschesäcken hängen. Der Duft von Raumspray und frischem Lavendel verteilt sich, und Lauren öffnet nach und nach die Reißverschlüsse.
»Hier müssen doch noch die einen oder anderen Partyklamotten von dir hängen – vielleicht passt uns ja noch was!« grinst sie mich frech an und zieht triumphierend eine Tasche mit mehreren Kleidern hervor.
Ich fange an zu lachen und nehme nach und nach die Kleider von ihren Bügeln und begutachte die alten Stücke. Sie könnten fast wieder modern sein.
Lauren kramt sich weiter durch den Schrank, während sich mein altes Lieblingskleid zwischen meine Finger schleicht.
Der indigofarbene Stoff gleitet sanft durch meine Finger.
Es ist ein locker geschnittenes, kurzes Plissee-Kleid, das nur von zwei dünnen Trägern auf meinen Schultern gehalten wird.
Ich habe dieses Kleid geliebt, da es sich wunderschön um meine Oberschenkel beim Tanzen schwingen lässt und meine Haarfarbe zum Leuchten bringt – und da es so locker geschnitten ist, passe ich auch zehn Jahre später noch hinein.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Alter noch einmal feiern gehe«, gestehe ich Lauren, als ich das Kleid über meinen Kopf ziehe und überlege, ob ich nicht doch lieber zu Hause bleiben sollte, da mir einfällt, wie kalt es inzwischen geworden ist.
Lauren hat sich für ein rotes Etuikleid entschieden, das ich selbst nur einmal getragen habe. Mit ihrem kurzen Bob sieht sie darin zwar fast zu seriös aus, aber seien wir ehrlich – wir müssen auch nicht mehr mit den jungen Mädels mithalten, die über den Dancefloor hüpfen.
»Was hast du die letzten Jahre getrieben, Vivi?« fragt sie mich mit belustigter Miene. »Ich habe nie aufgehört, feiern zu gehen. Nur das Recovering dauert länger.« Lauren verzieht theatralisch die Miene, bückt sich und kramt meine alten Schuhe aus dem Schrank.
»Ich denke mal, unsere Füße werden uns diese eine Nacht verzeihen. Zur Not müssen Steve und Ben uns eben tragen.«
Sie wirft mir meine goldenen High Heels mit viel zu dünnem Absatz entgegen und entscheidet sich selbst für die Schwarzen mit Riemchen.
»Ich... naja, ich hatte nicht mehr wirklich das Verlangen, unter Menschen zu gehen, als ich wieder in New York war«, murmele ich, während ich meine Haare versuche zu bändigen.
Make-up habe ich nicht dabei, und auch Lauren wirkt eher so, als würden wir auf dieses Extra verzichten.
»WAS?« Dramatisch hält sie in ihrer Bewegung inne.»In NYC? The Place to be – da, wo die Party tobt... hast du keine Party gemacht?«
»Schon. Also gelegentlich....Aber nicht so häufig – und irgendwann dann gar nicht mehr. Ich bin zufrieden mit meinem Job und meiner Freizeit. Und wenn man dann plötzlich mit Ma'am angesprochen wird, dann ist es eh vorbei.«
Ich lache etwas unbeholfen, bevor ich mein Handy in eine kleine schwarze Handtasche stopfe und Lauren auffordernd anschaue.
»Auf geht's, oder?«
Wir schreiten ein wenig überdreht wie Prinzessinnen die Stufen hinunter, extra ein wenig langsamer, um der Show genug Raum zu geben.
Steve und Ben kommen zeitgleich aus dem Wohnzimmer. Steve bleibt abrupt stehen, und sein Blick klebt sich sofort an Laurens endlose Beine und das enge, rote Kleid, das sich an ihren Körper schmiegt.
Ben kommt etwas zu spät zum Stehen und wird nur durch Steves massive Schulter gestoppt.
Sein Blick huscht nur für einen Moment zu Lauren, ehe er mich entdeckt, und ein breites Strahlen legt sich auf sein Gesicht, während sein Mund ein stummes »Wow« formt.
»Äh. Yo... nett. Ich glaub, da könn Ben und ich nich mithalten«, raunt Steve und macht Lauren einen Schritt Platz, damit sie die letzte Stufe der Treppe nehmen kann.
Ben reicht mir meinen Mantel und hilft mir, ihn anzuziehen. Als er fertig ist, legt er seine Hände auf meine Schultern und lehnt seinen Kopf an meinen, so nahe, dass ich seinen Atem an meiner Schläfe spüren kann und nur ich die leisen Worte höre, die er mir zuflüstert.
»Vielleicht sollten wir hier bleiben und in deinem Zimmer eine Privatparty feiern?«
Ich werde rot und kann ein schmunzeln nicht unterdrücken als es in meinem Bauch beginnt zu flattern.
Vielleicht bin ich der Idee nicht ganz abgeneigt.
***
» Mir ist aufgefallen, dass die Jungs und Mädels noch gar nicht aus waren. Und eventuell holen wir das mal schnell nach, bevor es ans Eingemachte geht.
» Ich hoffe ihr habt alle die ersten zwei Wochen des neuen Jahres überstanden.
♥️
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