Kapitel 79

Das alles ging recht unspektakulär von statten. Als die Uhr eine Minute vor eins anzeigte, wurden wir hinauf gejagt. Claudine flüsterte uns noch zu, wir könnten jederzeit hinunter klettern und aufgeben. Klar. Nun war ich bis ein Uhr morgens geblieben für diese dämliche Mutprobe und verschwand gleich wieder? Wo steckte da der Sinn? Sie wollte sowieso, dass wir es nicht schafften, zwölf Stunden in diesem Baumhaus zu wohnen. Na gut, ich gebe zu, die Kälte und der Hunger machten mir bereits arg zu schaffen und ich zog ernsthaft in Erwägung, Macy bei unsrer nächsten Begegnung nach einem Bauplan für Baumhausklos zu fragen, aber aufgeben... das kam mir nicht in die Tüte. Also saßen wir in diesem Baumhaus, ohne Licht, ohne Toilette, ohne Essen und Trinken, während unter uns die Party ihren Höhepunkt erreichte. Die Musik ließ das Baumhaus beben. Ich lehnte mich gegen eine Wand und schloss für einen Moment die Augen. Verflixt, wo hatte ich mich nur hineingeritten? Corine rutschte neben mich, wie ich bemerkte, als ich kurz die Augen wieder öffnete. Sie seufzte. "Ein Alptraum", lachte ich trocken. Matthew, der Mann der Stunde, nahm uns gegenüber Platz und endlich begriff ich sein Outfit.

"Du hast davon gewusst", sagte ich zu ihm. Er nickte. Sonst bewegte er sich nicht. Ich nahm mir das Recht, ihn genauer zu mustern. Allerdings mied ich auch seine Augen. Obwohl wir wahrscheinlich ewig Zeit hatten, besaß ich keinerlei Verlangen danach, seinen Seelenraum zu besuchen. In letzter Zeit hatte ich wenige Seelen gesehen und es tat mir gut. Seine Haare waren...rotbraun. Ich glaubte, dass sie rotbraun waren. Bei dem kläglichen Licht konnte man nie wissen. Er trug Skihosen und Stiefel, praktisch eine eingebaute Decke. Kluger Mann. "Woher wusstest du es?", fragte Corine. Selbst sie brabbelte mal nicht sofort drauf los. Das maß ich ihr hoch an. Im Gegensatz zu Matthew waren wir gekleidet wie ihm Frühling. Ich fror jetzt schon, dabei hatten wir gerade erst ein paar Minuten im Baumhaus verbracht. Das konnte was werden. "Von Kumpels, die letztes Jahr dran waren." Ich sah genauer hin. Er war vermutlich ein, zwei Jahre jünger wie wir, den Pausbäckchen nach zu urteilen. "Haben sie's überlebt?", hakte ich nach. Er nickte wieder. Ein Lichtpunkt in dieser trostlosen Situation.

Wie wollten wir uns die Stunden um die Ohren schlagen? Mit Nägel knabbern und Däumchen drehen? Ich stieß ein frustriertes Schnauben aus. Dann holte ich mein Handy aus der Hosentasche um GGG eine Nachricht zu schreiben. Tatsächlich hatte er richtig gelegen. Vor morgen würde er mich nicht mehr zu Gesicht bekommen - wenn überhaupt. Bislang bezweifelte ich stark, dass ich den Abend überleben würde. Aber mein Handy zeigte kein Netz an. Super. "Das Baumhaus ist zu weit oben", sagte Matthew. Gleich darauf zog er die Schultern ein, als erwartete er Prügel. Ich starrte verwirrt auf den Reißverschluss seiner Jacke. "Wegen dem Netz. Ich denke, du hast keins." Richtig gedacht. Diesmal nickte ich. "Gut kombiniert." "Was wollen wir tun?", lenkte Corine ein. "Du hast nicht zufällig an eine Taschenlampe, ein Dixie-Klo, drei Paar Handschuhe, Brettspiele, einen DvD-Player und tragbare Steckdosen gedacht, Matthew?" Sie hatte was vergessen. "Und eine tragbare Heizung, einen Minikühlschrank und Kissen und Decken?", ergänzte ich. Mein Magen knurrte demonstrativ. Matthew schüttelte zur Ausnahme mal den Kopf, dabei hätte ich ihn so gerne Nicken sehen. "Schade." Ich sank wieder zurück und schloss die Augen. Vielleicht konnte ich einfach zwölf Stunden durchschlafen, ohne von menschlichen Bedürfnissen geweckt zu werden.

Nichts da. Ich fand keinen Schlaf, egal wie sehr ich mich auch anstrengte. Den anderen beiden ging es wohl genauso, denn sie unterhielten sich leise. Der Beat, der durch die dünnen Wände zu uns hinein drang, machte mich hellwach. Ich schaute auf meine Uhr. Keine halbe Stunde steckten wir in diesem Baumhaus fest und doch kam es mir vor wie eine Ewigkeit. "Wo warst du vorhin?", fragte ich Corine schließlich, als sie ihr Gespräch mit Matthew beendet hatte. Sie befingerte den Reißverschluss ihrer Jacke. Wenigstens konnte man ihre Jacke auch so nennen. Sie schien sehr dick und weich und warm und flauschig. Meine hingegen würde innerhalb der nächsten Stunde selbst erfrieren. Sie hatte schon ein Eigenleben entwickelt und flehte mich durchgehend an, sie zu wärmen. "Ich...war..eh", druckste sie rum. "Sag schon." Sonst kullerten die Worte doch auch nur so aus ihr heraus. "Aber sei mir nicht böse", murmelte sie. "Ich bin dir nur böse, wenn du nicht bald mit der Sprache rausrückst."

"Ich habe mich um Kim gekümmert", gestand sie. Sie hatte...was? "Er war sturzbetrunken und faselte wirres Zeug. Dann hat er sich andauernd einen neuen Becher geholt. Ich...wollte ihn einfach nicht sterben lassen. Im Fernsehen haben sie mal gesagt, man könnte an zu viel Alkohol umkommen. Deswegen bekam ich Angst und..." Sie stockte und zog die Beine an. Ihr war ebenso kalt wie mir. Wenn nicht sogar kälter. Sie zitterte unmerklich. Hätte ich nicht Schulter an Schulter neben ihr gesessen, wäre es mir bestimmt trotzdem nicht aufgefallen. "Und da bist du ihm zur Hilfe geeilt, ganz das hilfsbereite Mädchen, das du eben bist", schloss ich. Es klang spitz. "Tut mir leid", sagte ich. "Du bist in der Tat hilfsbereit. Das meinte ich nicht irgendwie..." Sie nickte. Matthew stand mit einem dumpfen Geräusch auf.

"Hört ihr das?", fragte er. Zum ersten Mal hörte man seine Stimme richtig. "Klar, wir hören, dass du doch reden kannst", feixte ich. Ich war nicht für die Natur gemacht. Das hatte ich ja bereits mit Niall festgestellt. Wenn mir kalt war, wurde ich zum Biest und daran konnte ich nichts ändern. "Nein, nein", stammelte Matthew. Corine hielt mir die Hand vor den Mund, weil ich im Inbegriff gewesen war, ihm einen weiteren sarkastischen Kommentar an den Kopf zu werfen. "Was denn?", wollte sie wissen. Matthew drehte sich zu uns um. In der Dunkelheit konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht genau erkennen, aber ich hatte das Gefühl, dass er lächelte. "Nichts", triumphierte er. Nichts? Ich horchte hin. Stimmt. Ich hörte nichts. Und was fand er daran nun so toll? Corine klatschte in die Hände, nachdem sie sie von meinem Mund genommen hatte. "Nichts!" Es erreichte mich mit einiger Verzögerung - wie immer. Wir hörten nichts, weil sie gegangen waren. Keine Musik, kein Gelächter, keine Betrunkenen mehr. Einfach nichts.

xxx

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top