Kapitel 71

Zwei Tage später trat ich mir vor dem Schultor die Beine in den Bauch um meinen Entschluss in die Tat umzusetzen. Nämlich den, Niall die Nachricht seines bekloppten Vaters zukommen zu lassen, koste es was es wolle - in diesem Falle, meine Würde. Ich rechnete fest damit, dass Niall mich auslachte oder komische Sprüche von sich gab, sobald ich mit der Sprache rausrückte. Aber er kam nicht. Auch als die meisten Schüler bereits an mir vorbei gelaufen waren, unter ihnen Corine, tauchte Niall nicht auf. Ich wartete bis der Gong ertönte. Keine Spur von ihm. Ausgerechnet heute. Irgendwie typisch. "Auf wen hast du draußen gewartet?", wollte Corine direkt wissen, als ich mich auf den Platz neben sie gleiten ließ. Ich zuckte mit den Schultern. Sie wusste es sowieso schon, ihrem Grinsen nach zu urteilen. Die Schulstunden zogen sich qualvoll in die Länge, in der Mittagspause saßen wir wieder bei Daizy, weil die Tussen unseren Tisch besetzten, allerdings beehrte Niall uns auch da nicht mit seiner Anwesenheit und die letzten Stunden am Nachmittag verliefen genauso. Ich zweifelte daran, dass ich die Schule je wieder verlassen würde, so lange dauerte der Unterricht. Den Zettel mit der Nachricht seines Dads hatte ich in der Hosentasche, die Worte auf meiner Hand waren zum Glück dran geblieben, obwohl ich geduscht hatte. Eigentlich war ich perfekt darauf vorbereitet, mein Image zu zerstören. Wo steckte der Idiot bloß? "Bis morgen", sagte ich, niedergeschlagen, zu Corine. Während sie rechts lief, bog ich links ab und grübelte, was das Zeug hielt.

Einmal im Leben hatte ich ihn gebraucht, nur einmal im Leben. Es ging hier buchstäblich um Leben und Tod und er erlaubte es sich, einfach zu Hause zu bleiben? Frechheit. Mein Weg führte mich an dem Park vorbei, den ich in Gedanken 'Park des Unheils', getauft hatte. Jedes Mal, wenn ich dort gewesen war, hatte etwas schreckliches stattgefunden. Zuerst fanden wir die Leiche eines Mistkerls, danach wurde Grant verhaftet. Außerdem verband ich mit dem Park nichts weiter als Bitterkeit, weil ich damals noch geglaubt hatte, Kim wäre wirklich mein Freund. Tja. Ich beobachtete ein paar Enten, die aus einem kleine Teich stiegen und zu der Bank liefen, auf der ich letztens mit GGG gesessen hatte. Tatsächlich warf jemand Brotkrumen zu den Enten und bei genauerem Betrachten, erkannte ich auch, wer dieser jemand war. Frechheit. Eine echte Frechheit. Er hatte geschwänzt. Mensch Niall! Leben und Tod, schon vergessen? Wutschnaubend machte ich kehrt und lief durch das Parktor auf ihn zu. Ich scherte mich nicht darum, dass dies der Park des Unheils war. Als ich bei ihm ankam, schnaubte ich und hielt ihm den Zettel vor die Nase. So nah, dass er unmittelbar gezwungen wurde, zu mir aufzusehen. Seine Augen waren gerötet, goldener als sonst. Seine Haare verwuschelt. Gefühle blitzten mir entgegen. Prompt verrauchte meine Wut. Er hatte geweint. So sah man doch aus, wenn man gerade geweint hatte oder? Ich trat einen Schritt zurück und wollte mit einem: "Tut mir..leid", wieder abhauen - Nachricht hin oder her, ein weinender Niall schien sowas wie ein zehntes Weltwunder zu sein -, doch er packte mich am Hangelenk, sodass ich stehen blieb.

"Halt", sagte er, als hätte ich noch irgendeine Wahl. Sein Griff war fest und bestimmend. Er nahm seine andere Hand zur Hilfe, legte beide an meine Taille, ehe er mich neben sich auf die Bank setzte. Super, der Kerl hatte einen Fetisch für meine Taille entwickelt. "Du kannst mir nicht einfach einen Zettel entgegen werfen und abhauen." Genau genommen, konnte ich das sehr wohl. Ich hatte es schließlich gerade vor gehabt. Seine Hände lagen immer noch auf meiner Taille. Innerlich flehte ich ihn an, sie wegzunehmen. Was seine Berührung in mir auslöste, machte mich wahnsinnig. Ich hasste mich für dieses Kribbeln im Bauch und für mein Herz, das darauf hoffte, durch diese Berührung wieder vollkommen zu werden. Ich hasste mich für meine Gänsehaut und für die Härchen, die sich verräterisch leicht aufstellten - nicht, wegen der eisigen Kälte. Bitte. Das musste doch zu stoppen sein! "Lies ihn dir einfach durch", seufzte ich resigniert. Dann fiel mir etwas ein. "Ach, und hier geht es weiter." Ich reckte meine Hand in die Luft. Er begann, es sich durchzulesen. Ich musterte ihn dabei. Was hatte ihn zum Weinen gebracht? Kaum vorstellbar, dass es so etwas überhaupt gab. Niall hatte auf mich unnahbar gewirkt. Ich hatte gedacht, nichts würde ihn aus der Fassung bringen - auch wenn es noch so schrecklich war. Wie sehr ich mich getäuscht hatte. Die roten Ränder um seine Augen und die lilafarbenen Augenringe zeugten vom Gegenteil.

Ich empfand Mitleid, was totaler Blödsinn war. Niall brauchte kein Mitleid. Er wollte es bestimmt nicht mal. Aber ich konnte es nicht ändern. Er tat mir leid, weil ihm etwas wiedrfahren war, das es geschafft hatte, Gefühle aus ihm herauszukitzeln. Deswegen, versuchte ich mir einzureden, und nicht aus einem weiteren anderen Grund. Irgendwann legte er den Zettel neben sich, egal, ob er dadurch hinfortwehte oder nicht, und langte nach meinem Handgelenk. Er drehte meine Hand, die stark zitterte, so, dass er erkennen konnte, was darauf stand. Mit jeder Sekunde presste er die Lippen fester auf einander. Als er fertig gelesen hatte, entzog ich ihm meine Hand langsam. Er schloss die Augen, sagte nichts. Es stand mir auch nicht zu, ihn danach zu fragen. Es stand mir grundsätzlich nicht zu, ihn nach irgendwas persönlichem zu fragen. Weil es seine Sache war. Aus meinen hatte er sich immerhin auch rauszuhalten - selbst, wenn er das nicht tat. Dennoch verspürte ich den Drang, ihn zu fragen, ob er seinem Dad glaubte. Ob er glaubte, dass es ihm leid tat, dass das, was er sagte, stimmte. Ich wollte herausfinden, weshalb Niall geweint hatte. Warum er nicht zur Schule erschienen war. Wie es ihm damit ging. Und zum Teufel noch mal, wieso er niemandem gesagt hatte, dass der tote Mann sein Vater gewesen war. Sie hatten verzweifelt nach Verwandten gesucht. Und er hatte sich nicht gemeldet. Womöglich standen sie sich nicht sonderlich nahe, aber Niall schien doch ein Herz zu besitzen. All das wollte ich ihn fragen, doch ich tat es nicht. Stattdessen sah ich ihn nur an. So wie er es vor einer Woche getan hatte, als ich mit den Nerven am Ende gewesen war.

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