37. 𝐴𝑏𝑠𝑐ℎ𝑙𝑢𝑠𝑠𝑏𝑎𝑙𝑙

Januar...

Naomi saß auf glühenden Kohlen. Zumindest rutschte sie unruhig auf dem Stuhl herum und sehnte sich nach dem erlösenden Glockenschlag. Sie hatte bereits alle Aufgaben fertig und das Papier vor sich zusammen gefaltet. Leider durfte sie noch nicht gehen. Der Professor hatte ihr geraten alles nochmal durchzulesen und auf Fehler zu überprüfen. Das hatte sie jetzt dreimal gemacht. Ihr fiel einfach nichts mehr auf.

Auch Hannes war schon fertig und lächelte aufmunternd zu ihr herüber. Diana kaute immer noch auf ihrem Kuli herum und verzog das Gesicht. Nur noch ein paar Minuten, dann musste sie abgeben. Hoffentlich bestand sie.

Natürlich hoffte Naomi selbst auch zu bestehen. Sie machte das jetzt zum dritten Mal. Wenn es jetzt nicht klappte, würde es wahrscheinlich niemals klappen. Doch Alec glaubte an sie.
Er hatte ihr noch kräftig beim Lernen geholfen.

Leider wollte er selbst die Prüfung nicht ablegen. Es war bedauerlich bei seinem Talent. Doch Alec hatte das Studium nur als Tarnung angefangen. Naja, nicht nur deswegen. Er wollte lernen Beweise zu sammeln, um der HKS Group Druck zu machen. Doch wirklich interessiert hatte er sich für den Studiengang des Journalismus nie. Naomi hoffte, dass er irgendwann etwas finden würde, dass ihm dauerhaft Spaß brachte. Damit meinte sie natürlich keine illegalen Sachen.

Endlich ertönte die erlösende Glocke und sie sprang auf. Ganz zur Überraschung ihrer beiden Freunde. Sie schenkten ihr nur fragende Blicke, als sie die Unterlagen als erstes dem Professor überreichte und dann eilig hinaus ging. Sie wollte nur raus. Ganz egal, ob bestanden oder nicht. Ihr Kopf brauchte frische Luft.

Kaum war sie aus dem Gebäude, atmete sie tief ein und aus. Es war immer noch kalt und der Himmel war ein einziges Wolkenmeer.
Naomi vermisste die Sonne allmählich.
Das war auch nicht das einzige, was sie vermisste.

Bevor Diana und Hannes sie einholen konnten, sprach sie jemand von der Seite an.
Naomi drehte den Kopf und sofort verzog sie das Gesicht. Der Typ hatte ihr gerade noch gefehlt.
Doch Fred wirkte immer noch wie ein kleines getretenes Schoßhündchen. Naomi wurde nicht schlau aus ihm. Anscheinend hatte er Alecs Geheimnis noch nicht verraten. Doch worauf wartete er? Was war überhaupt sein Plan?

„Hast du einen Moment?"
„Ich glaube nicht", antwortete sie steif und wollte an ihm vorbei gehen. Fred folgte ihr leider.
„Es tut mir leid, Naomi!", entschuldigte er sich. Er klang aufrichtig, aber sie hatte beschlossen ihm vorerst nicht mehr zu vertrauen.

„Fred, lass gut sein. Ich kenne zwar deine Motive nicht, aber vertrauen tu ich dir schon lange nicht mehr."
„Aber einem Dieb kannst du vertrauen?", fragte er bissig und es war wohl mehr eine Feststellung als eine Frage. Damit wollte er sie testen und ihr womöglich Alecs Geheimnis verraten, aber er kam zu spät. Naomi wusste es schon.

„Er ist weitaus ehrenhafter und ehrlicher als du."
„Okay, ich habe einige Fehler gemacht. Doch vertrau ihm nicht zu sehr, Naomi. Er ist nicht der Typ Mensch, der verlässlich wäre. Früher oder später wird er verschwinden und dann bist du alleine. Wer beschützt dich dann?"
„Alec würde mich nicht einfach so verlassen."
Fred lachte höhnisch.
„Er ist ein gesuchter Mann. Weder die Bullen noch die HKS Group werden euch je in Ruhe lassen."

„Na und?", schrie sie erzürnt. Langsam ging Fred ihr auf die Nerven.
„Es ist mein Leben und ich entscheide wie ich es lebe. Du hattest deine Chance, Fred, und du hast sie vergeigt. Ich kann dir nur empfehlen dir die richtigen Freunde auszusuchen, sonst wird es dir eines Tages schlecht ergehen."

Er starrte sie plötzlich verständnislos an.
„Ganz ehrlich, Fred, ich weiß nicht was du vorhast und warum du hinter Alec her bist, aber..."
„Jeder ist hinter ihm her", erklärte er, bevor sie weiter sprechen konnte. „Und jeder ist bereit eine Menge Geld für ihn zu bezahlen. Wenn er sich nicht freiwillig unterwirft, dann eben mit Gewalt."

„Unterwirft? Was soll das heißen?"
„Higa will ihn für sich haben. Wenn Alec sich weigert für ihn zu arbeiten oder ihn nicht in Ruhe lässt, wird Higa ihn dazu zwingen. Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie er das schafft. Er wird ihn mit deinem Leben erpressen, denn du bist wohl seine einzige Schwachstelle."
Naomi starrte fassungslos auf den blonden Jungen vor ihr, der sie nun aus zwei kalten blauen Augen ansah.
Das war schon lange nicht mehr der Fred, den sie einmal kannte.
Wann war er zu so einem Monster geworden?

Naomi knibbelte an ihren Fingern und überlegte sich fieberhaft eine passende Antwort. Nur leider fiel ihr nichts ein. Fred hatte recht. Sie war Alecs Schwachstelle. Das hatten er und Maurice ihr von Anfang an gesagt. Endlich hatte sie Alec so weit, dass er sich auf sie einließ. Er wollte sogar mit dem Stehlen aufhören. Doch wenn Higa ihn unter Druck setzen würde, sähe die ganze Sache anders aus. Würde Alec sich ihretwegen erpressen lassen?

„Hör auf mit dem Scheiß!"
Naomis Kopf drehte sich abrupt in die andere Richtung.
„Was machst du denn hier?", fragte sie Alec erstaunt, der ganz gelassen zu ihr herüber schlenderte.
„Wenn er dich nicht um den Finger wickeln kann, versucht er dich einzuschüchtern", erklärte er mit einem beruhigenden Lächeln. Es war ihm wohl eine Genugtuung den Arm um ihre Taille zu legen und ihr vor aller Augen einen Kuss zu geben. So als ob er sagen würde: Meins!

Wo war der tollpatschige und introvertierte Alec hin? Er hatte sich in einen attraktiven und offenen jungen Mann verwandelt.
„Oh...mein...Gott!", hörte Naomi die Stimme ihrer besten Freundin nicht weit von ihr. Also war Hannes auch nicht weit und der Rest ihres Kurses wohl auch nicht.
Ihr war schon klar, dass Alec das hauptsächlich wegen Fred tat, aber für so dreist hatte sie ihn nicht gehalten.

Er löste langsam seine Lippen von ihren, drehte den Kopf zu Fred und beäugte ihn mit einem scharfen Lächeln. Es war eine Warnung so ernst, dass jeder um sie herum es auch ohne Worte verstehen konnte. Dieser Ausdruck in seinen Augen sagte alles; kalt, einschüchternd und selbst das Lächeln konnte das nicht mildern.

Fred beschloss sich zurück zu ziehen.
Er würde hier vor all den Studenten keine Szene machen und sich mit Alec anlegen. Auch sein Geheimnis würde er nicht verraten. Man würde es ihm in diesem Moment eh nicht glauben.
Doch durfte man den Typ nicht unterschätzen. Bei nächster Gelegenheit würde er sich an Alec rächen, da war sich Naomi ziemlich sicher.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht überrumpeln."
Das Mädchen lag immer noch halb in Alecs Arm und starrte Fred hinterher, während ihr Kopf immer noch ganz benebelt von dem Kuss und war. Sie räusperte sich etwas verlegen, als sie Dianas staunendes Gesicht sah. Ja richtig, sie hatte ihren Freunden noch nicht gebeichtet, dass Alec nun ihr fester Freund war. Sie sah Diana an, dass sie tausend Fragen hatte. Hannes nicht minder.

„Der Typ geht mir gehörig auf die Nerven", grummelte Alec. Trotzdem konnte Naomi einen gewissen Ausdruck der Zufriedenheit bei ihm erkennen. Er hatte Fred Kontra gegeben.
„Du solltest ihn besser im Auge behalten", warnte Naomi in Erinnerung an Freds Worte.
„Deshalb bin ich ja hier. Maurice hat mich gewarnt. Nun macht er an der HKS Uni genauso seinem Abschluss wie du. Es war klar, dass er dich nicht für immer ignorieren würde. Erst recht wenn er hofft einen Keil zwischen uns zu treiben."

Das würde er nicht schaffen. Naomi hatte so hart um Alec gekämpft, so leicht würde sie ihn nicht wieder aufgeben.
„Sei bitte dennoch vorsichtig."
Er schmunzelte und nickte einverstanden.
Dabei ging sie ihm mit ihrer Fürsorge bestimmt  jetzt schon auf die Nerven. Darum machte Naomi auch keinen Aufstand und wiederholte sich nicht. Einmal sagen musste reichen.

„Entschuldige uns einen Moment, Alec", meinte Diana nur knapp und zog ihre Freundin hastig von ihm weg. Sie gingen ein paar Meter, bis die Jungs sie nicht mehr hören konnten.
Dann blieb Diana unter der dicken Eiche stehen und sah ihrer besten Freundin tief in die Augen.
„Seit wann?", fragte sie nur knapp.
Naomi grinste eingeschüchtert.
„Seit kurzem. Doch ich mag ihn schon länger."
„Ich hab's ja gewusst", meinte Diana von sich selbst überzeugt.

„Ja, du hattest recht. Ich wollte es nur leugnen, weil ich nicht gedacht hätte, dass Alec meine Gefühle auch erwidert."
Plötzlich wurde Diana wieder ernst.
„Hast du deshalb bei dem Ausflug geweint?"
Naomi nickte verhalten. Ja sie hatte wegen Alec geweint, weil er sie damals so verletzt hatte. Doch nun sah alles anders aus. Alec sah Hoffnung und deshalb ging er auch mit ihr aus.

Sie schaute zu den beiden Jungs hinüber, die sich über irgendetwas unterhielten. Ob Hannes ihn auch ausfragte? So dicke waren die beiden eigentlich nicht, aber zumindest verstanden sie sich.
„Und?"
„Was und?"
Naomi hatte Dianas Frage überhört.
„Gehst du mit ihm zum Ball?"
Wenn ein Junge ein Mädchen zum Abschlussball ausführte, meinte er es in der Regel ernst mit ihr. Deshalb fragte Diana danach. Doch Alec war nicht der Typ für Smoking und tanzen. Aus diesem Grund schüttelte Naomi den Kopf.

„Wie schade. Warum denn nicht?"
„Ist nicht so sein Ding", erklärte Naomi schulterzuckend, als ob es ihr gleichgültig wäre. Insgeheim wollte sie so gerne mit Alec als Begleiter zum Ball gehen.

Obwohl die Prüfungen noch liefen und Naomi noch ganz andere Sorgen zu bewältigen hatte, fieberte sie dem Ball entgegen und verbrachte die letzten Wochen damit sich intensiv darauf vorzubereiten. Natürlich vergaß sie ihre Noten dabei nicht. Abends saß sie noch lange an ihrem Schreibtisch und lernte, bis Charlie sie ins Bett schickte.

Sie war zu Weihnachten wieder bei ihm eingezogen, da es Alec deutlich besser ging. Leider blieb die Sorge um ihn, weil Naomi nicht wusste, ob er wieder mit dem Stehlen anfing. Er hatte ihr nur versprochen bis Ende letzten Jahres nicht zu stehlen. Was machte der Junge die ganze Zeit? Und was war mit den Informationen, die er aus dem Polizeirevier gestohlen hatte? Hatte Maurice vielleicht schon einen Hinweis entdeckt? Nein, dann hätte Alec es ihr gesagt.

Sie konnte nicht darüber nachdenken. Endlich war es so weit. Sie würde ihren letzten Abschlussball feiern und danach von der Uni verschwinden. Sie würde ihre Freunde zurücklassen und nach vorne schauen. Den Job bei der Zeitung hatte sie gekündigt, weil sie einfach keine Zeit dafür hatte. Sie würde nach dem Studium einen richtigen Job suchen.

Am Abend des Balls brauchte sie ganze drei Stunden, um sich fertig zu machen. Etwas Bauchschmerzen hatte sie schon. Fred würde an diesem Abend sicher auch kommen. Was wenn er ihr eine Szene machte?

Naomi steckte sich die Ohrringe an und legte sich die Kette mit dem roten Anhänger um. Dann drehte sie ihre struppigen und widerspenstigen Haare auf. Doch ganz offen lassen wollte sie diese nicht. Also steckte sie die Locken hoch und ließ nur ein paar einzelne Strähnen ins Gesicht fallen.

Das Kleid war schon auffällig genug, also entschied sich Naomi nur für ein leichtes Make-Up.
Als sie in den Spiegel schaute und sich auf ihren hohen Absätzen drehte, empfand sie sich sogar als recht hübsch. Sie überlegte noch sich Einlagen in den BH zu stecken.

„So wie ich das sehe, ist alles so wie es sein sollte"

Sie erinnerte sich an Alecs Worte. Er mochte sie so wie sie war. Sie hatte es nicht mehr nötig sich für jemanden zu verstellen. Sie hatte Alec für sich gewonnen und darauf war sie unheimlich stolz.

Charlie klopfte an die Zimmertür und steckte seinen runden Kopf hinein. Er lächelte und bewunderte seine Tochter staunend.
„Meine Güte, nun siehst du aus wie deine Mutter", stellte er fest.
„Wirklich?"
Er nickte.
„Du bist so hübsch, Naomi. Lass dir von niemanden was anderes erzählen."
Sie nickte fleißig. Sie fühlte sich auf einmal so groß. Nicht mehr wie das kleine unauffällige Mädchen.

Sie hatte jetzt einen Freund. Oje, das musste sie irgendwann Charlie beichten. Sie musste ihm noch so viel erzählen.
Das würde sie nach den Prüfungen machen, nahm sie sich ganz fest vor.

Charlie fuhr sie mit dem kleinen Auto zum Ball, damit sie so aufgetakelt nicht mit dem Bus fahren musste. Der Ball fand nicht an der Uni Stadt, sondern in einem extern gemieteten Haus, das extra für solche Veranstaltungen vermietet wurde. Natürlich klebte auch hier ein fetter Stempel der HKS Group an der Fassade.
Naomi konnte das nicht mehr sehen. Sie war so wütend auf diese Leute.

Sie verabschiedete sich von Charlie und versprach sich nicht sinnlos dem Alkohol zu verschreiben. Sie sollte Spaß haben.
Mit klopfendem Herzen stieg sie wie Cinderella die Stufen hinauf und kam gleich in den hell beleuchteten Saal. Musik und bunte Lichter strömten auf sie ein. Die Tanzfläche war schon ziemlich voll und am Rande standen viele Stehtische und auch ein paar Bänke als Sitzgelegenheiten.

Dort tummelten sich die Trinker, die weder tanzten noch flirteten. Sie blieben meist unter sich - wie die Nerds - und bestellten ein Bier nach dem anderen.

Auf den Bänken kuschelten die Paare und Naomi musste unweigerlich an Alec denken. Naja, er war halt ein Dieb und wäre auf dieser Veranstaltung nur fehl am Platz.
Ein paar Minuten streifte Naomi langsam herum, nahm sich ein Cocktailglas und schlürfte im Gehen davon, bis sie endlich ihre Freunde entdeckte. Sie standen an einem der hohen Tische und entdeckten sie im selben Moment. Diana winkte sie zu sich.

Naomi bewunderte das dunkle, lange Kleid. Ja das passte zu Diana. Es stand total im Gegensatz zu ihren sonst so schrillen und modischen Kleidern. Sie wirkte echt elegant. Ihre blonden Haare vielen ihr in sanften Wellen über die Schulter und eine silberne Kette glänzte auf ihrem Dekolleté.

Auch Hannes sah echt schnieke aus. Sein schwarzer Anzug machte ihn ganz seriös und rein optisch stellten die Beiden ein perfektes Paar dar. Naomi beneidete sie ein bisschen.
„Hallo Nao!", grüßte Hannes freundlich.
„Wow! Du siehst so hübsch aus", meinte Diana und sah an ihr herunter.
„Das Kleid war doch die richtige Wahl."
Naomi nickte verlegen. Gleichzeitig war sie stolz. Sie würde diesen Abend in vollen Zügen genießen. Immerhin hatte sie sich so lange darauf gefreut.

„Mir wird die Uni schon ein bisschen fehlen. Am meisten werdet ihr mir fehlen", bedauerte die Freundin und sah wehmütig zwischen Hannes und Naomi hin und her.
„Wir sind doch nicht aus der Welt, Nana", sagte Naomi beruhigend.
„Trotzdem, jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Das ist was anderes als täglich mit euch die Schulbank zu drücken."

Naomi empfand ihr Leben schon als ernst genug. Doch das sagte sie den Beiden nicht. Sie hatten ja keine Ahnung was alles passiert war. Sie war von einem Hochhaus gefallen, war mit einem Dieb zusammen und war mit diesem gemeinsam ins Polizeirevier eingebrochen. Das konnte sie einfach niemandem erzählen.
Sie nippte an dem kühlen Cocktail und sah auf die vielen Leute. Würde sie heute überhaupt tanzen?

Aus einer Ecke kamen komische Geräusche.
„Was ist da los?", fragte Hannes verwirrt.
Die jungen Leute tuschelten und gingen auseinander. Naomi biss ins Glas und schaute Richtung Eingang.
Sie sah wie Simon der Mund offen stehen blieb und Finn seine Kamera beinahe fallen ließ. Jessica und Samantha fielen fast die Augen aus dem Kopf und noch bevor Naomi sich weiter darüber wundern konnte, erkannte sie den Grund dafür.

Glänzende Lederschuhe, ein schwarzer Anzug, silberne Manschetten und perfekt frisierte schwarze Haare. Das war nicht der Mann, den sie kannte. Das war ein ganz anderer.
Mit offenem Mund starrte sie auf den attraktiven und eleganten Alec, der zielstrebig auf sie zukam. Naomis Augen wurden immer größer und sie glaubte das zu träumen, während alle anderen ihn tuschelnd beäugten.

„Hi!", sagte er grinsend und hob nur kurz die Hand in Richtung Diana und Hannes.
Dann wanderten seine grauen Augen an Naomi herunter und kurz darauf schenkte er ihr einen Blick, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Seine Augen wurden dunkler und sein Grinsen erklärte seine verbotenen Gedanken. Naomi fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben richtig begehrenswert.

Außerdem freute sie sich unheimlich ihn zu sehen. Nur überwog noch die Überraschung der Freude.
Ganz langsam fingen ihre Augen an zu strahlen und nachdem sie der halbe Saal anstarrte, fiel sie Alec freudig um den Hals.
„Du bist hier!"



~



Natürlich war er hier. Er wusste genau, wie sehr sie sich das gewünscht hatte. Nur hatte sie ihn nicht bedrängen wollen und hatte ihn deshalb nicht gebeten mitzukommen. Doch nach allem, was sie für ihn erdulden musste, hatte sie sich diese Überraschung verdient. Allein ihr strahlendes Gesicht zu sehen, machte Alec glücklich. Es war absolut richtig herzukommen. Doch war Naomi nicht der einzige Grund.

Maurice hatte die Daten aus Higas Akte ausgewertet. Nun stand fest, dass die Polizei definitiv etwas versteckte. Es standen zwar keine Gründe in der Akte, aber zumindest war sich Alec ganz sicher, dass dieser Mistkerl Naomis Mutter mit Absicht angefahren hatte. Man hatte dunkle Reifenspuren auf dem Asphalt gefunden, was bedeutete, dass er kurz vor dem Zusammenstoß seinen Wagen beschleunigt hatte.

Naomi war in Gefahr. Higa hatte es auf sie abgesehen, weil er davon ausging, dass sie die Wahrheit kannte. Darum wollte Alec sie nicht alleine lassen. Wer weiß, was diesem kranken Stück Dreck als nächstes einfiel.

Doch ließ er sich seine Sorge nicht anmerken und schlang seine langen Arme um das Mädchen. Sie war sein Mädchen. Endlich gab es da jemanden, dem er vertrauen konnte.

„Also willst du wirklich dorthin gehen? Was ist, wenn das eine Falle ist?", hatte Maurice ihn besorgt gefragt, als er sich den Anzug angezogen hatte.
„Ja, ich werde wegen ihr dorthin gehen. Besser gesagt für sie. Und wenn es eine Falle ist, werde ich sie entschärfen."
„Sei vorsichtig, Junge. Ich bin mir sicher, dass Higas Leute euch beobachten."

Alec hatte seinem Partner versichert sich zu melden, wenn es Probleme geben würde. Er hoffte immer noch, dass nichts ungewöhnliches passieren würde. Bis dahin würde er einfach versuchen den Abend zu genießen. Er durfte Naomi nicht zeigen, dass er sich Sorgen machte. Das würde sie nur beunruhigen. Vielleicht passierte ja auch nichts und dann würde er ihr den Abend verderben, wenn er ihr jetzt die Wahrheit sagte.

Diana nahm ihr das fast leere Glas aus der Hand und nickte auffordernd in seine Richtung. Er verstand und schob Naomi von sich. Dann hielt er ihr seine Hand hin und forderte sie zum Tanzen auf.
Das Lächeln in ihrem Gesicht wurde noch breiter - falls das überhaupt möglich war.
Sie legte ihre Hand in seine und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche führen.

„Irgendwas sagt mir, dass du wahnsinnig gut tanzen kannst", grinste sie vergnügt.
„Ich weiß nicht. Was Standardtänze angeht bin ich nicht so sicher."
„Ach hab dich nicht so. Wenn du das sagst, bedeutet es für alle anderen, dass du gut bist."

Nun grinste er verspielt und zog sie näher an sich. Während er seinen Arm um ihre Taille warf und sich ihre Finger verhakten, sagte er neckend an ihr Ohr: „Ich muss dir mindestens einmal auf die Füße treten, sonst fliegt meine Tarnung auf."
Naomi gluckste amüsiert.

Der Tanz begann und beide hatten Spaß. Doch Alec trat ihr kein einziges Mal auf die Füße und seine Unsicherheit wich angesichts ihrer funkelnden Augen. Sie duftete nach Rosen und ihre Ohrringe reflektierten die bunten Lichter von der Decke. Beide waren alleine auf der Tanzfläche. Die anderen Leute gab es gar nicht mehr. Beide hatten ihre Wunden und konnten sich in diesem Moment gegenseitig auffangen.
Er würde es nicht so einfach zugeben, aber genau das hatte Alec sich immer gewünscht.




~




Nach dem langen Tanz waren beide durstig und wie es sich gehörte, holte Alec ihnen was zu trinken. Naomi blinzelte zu Diana und Hannes hinüber, die ebenfalls eng umschlungen auf der Tanzfläche standen. Naomi würde sie jetzt nicht stören. Sie war eh abgelenkt. Alles war wie ein Traum, wie ein kleines Wintermärchen.

Das Licht ging überall aus und alles blickte erschrocken nach oben. Dann gingen die normalen Kronleuchter an und Naomi wurde geblendet. Wo war das schöne Ambiente hin?
Ihre Augen suchten erneut nach ihren Freunden. Auch sie schienen ratlos zu sein.
Wo war eigentlich Alec? Naomi fand ihn nicht.

Auf einmal kamen mehrere Männer in dunklen Anzügen in die große Halle gelaufen. Sie stellten sich vor die Gäste und schoben alle von der Tanzfläche. Naomi bekam ein ganz mulmiges Gefühl. Das war absolut nicht normal. Im nächsten Augenblick betrat ein weiterer Mann die Halle und stampfte mit großen Schritten in die Mitte. Das war der Typ mit dem Narbengesicht. Naomi fröstelte und suchte verzweifelt nach Alec.

Der Mann mit den Narben schaute suchend in die Runde. Nach wem hielt er Ausschau? Etwa nach Alec? Hoffentlich hatte dieser sich gut versteckt.
Doch Sam entdeckte in dieser Sekunde Naomi und ging zielstrebig auf sie zu. Sie wollte zurück weichen, doch hinter ihr standen schon zwei der Anzugträger und versperrten ihr den Weg.

Das Narbengesicht packte ihr Handgelenk und zog sie wieder auf die jetzt leere Tanzfläche.
Im nächsten Moment unterbrach ein Klappern das unangenehme Tuscheln der Partygäste.
Der grimmige und gänzlich böse Mister Higa stolzierte langsam in die Halle. Seine Augen fokussierten sich direkt auf das Mädchen im roten Kleid. Was war hier los? Was sollte dieser Auftritt?

Aus dem Augenwinkel erhaschte sie eine Bewegung und schaute nach rechts. Fred stand mitten zwischen den Leuten und schenkte ihr einen Blick, den Naomi nicht zu deuten wusste. Halb reumütig, halb gekränkt, aber ganz sicher war sie nicht. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Wusste er, dass Alec hier war? Hatte er ihn verraten? Was hatte er nur vor?

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