Kap. 21
Levi
Mein Blickfeld fixierte sich einzig und allein auf den feinen grauen Staub, der sich zart über den kalten Boden verteilte. Nach Jahren. Nach all den ganzen langen Jahren, hörte ich endlich wieder ihre Stimme. So hell wie ein Hammerschlag. Es war, als ob sie mir ihren endgültigen Abschied mitteilen wollte. Meine innerliche Flucht schien nun beendet. Ich konnte mich nicht weiter in Vergessen einhüllen. Die Stimme meiner Mutter verstummte plötzlich, und eine andere Stimme schrie mir ins Ohr. Kehlig lachte sie meine Unfähigkeit aus. Das Gefühl in meinen Gliedern schwand immer mehr. In meinem Inneren breitete sich ein Chor aus Stimmen aus.
Doch welche gehörte zu mir? Welche gehörte mir allein? Ein letztes Mal lächelte mich meine Mutter warm an, ehe ihre Silhouette vor meinem inneren Auge in tausend kleine Teile zersprang. Ihre Lippen formten noch Wörter, ehe auch dieser Teil von ihr zersprang und sich im Nichts auflöste.
„Ich wünsche mir, dass du glücklich bist.“
Amaya
Mein Atem ging nur stoßweise. Meine Glieder begannen von der starken Anspannung zu schmerzen. Immer noch stand Levi regungslos vor dem Inhalt der Urne. Sein Gesicht lag im Schatten, doch seine Aura hatte sich eindeutig verändert. Sie war förmlich spürbar, fast greifbar. Im Augenwinkel konnte ich wage erkennen, wie Mikoto sich vom Boden abstützte und zur offenen Tür blickte.
Ich hingegen wagte es gar nicht, mich zubewegen. Langsam, fast wie eine Marionette, legte Levi den Kopf nach hinten und fing plötzlich an bitter zu lachen. Seine Augen wanderten kurz in meine Richtung. In ihnen lag ein grau-roter Schimmer. Die Intensität seines Blickes ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es war, als würde der Teufel höchstpersönlich vor mir stehen und mich ansehen. Ich schluckte schwer.
Nach kurzem Zögern rannte Mikoto so schnell sie konnte aus der Tür. Jedenfalls sah es für mich auf den ersten Blick so aus. Ich blinzelte und schrak aus meiner Versteinerung, als ich Mikoto’s schmerzerfüllten Aufschrei vernahm. Ich drehte meinen Kopf zur Tür und sah, wie Mikoto rücklings auf den Boden gedrückt wurde. Levi hatte sich zwischen ihre Beine positioniert und hielt ihren Kopf an den Haaren hoch. Wieder konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Erneut blieb er im Schatten verborgen. Ich zuckte zusammen, als er mit voller Wucht ihren Hinterkopf auf den Boden knallte. Nochmals schrie Mikoto auf und ihre Gegenwehr löste sich abrupt. Benommen blieb sie einfach liegen und schaute trübe durch den Raum.
»Oii!« Ich hielt die Luft an, als Levi’s Stimme durch den Raum hallte. Noch tiefer als sonst. Bedrohlich. Tödliches schwang in seinem Ton mit. »Amaya!« Sein Blick wich nicht eine Sekunde von Mikoto. »Pass auf diese Hure auf! Sollte sie versuchen sich zu bewegen«, mit einem Schwung warf er mir sein Klappmesser entgegen. Kurz vor mir rutschte es rotierend über den Boden, »dann bring sie zum Schweigen!« Überfordert sah ich das Messer an, dann wieder Levi.
Was .... was redete er da? Warum warf er mir das Messer zu? War ihm nicht bewusst, dass ich es wahrscheinlich wieder gegen ihn einsetzen könnte? Auch wenn meine Gedanken mir dies sagten. Mein Instinkt mir dazu riet … doch mein Körper bewegte sich nicht … ich war nicht in der Lage meine Gedanken auszuführen.
Hatte ich wirklich komplett meinen Überlebenswillen verloren? Levi beachtete mich nicht weiter und erhob sich. Mikoto war zwar nicht bewusstlos, aber es war deutlich zu erkennen, dass der heftige Schlag an ihrem Hinterkopf etwas angerichtet hatte. Vielleicht eine Art Lähmung?
Vollkommen ruhig und langsam schritt Levi aus dem Keller und ich konnte ganz schwach hören, wie er die Treppen hinauf ging.
Nein ....
Ich musste etwas unternehmen ....
Ich wollte nicht noch einmal einen Menschen sterben sehen ....
Ich selbst wollte auch nicht sterben ....
Ich schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Wankend kam ich auf meine Füße, und ging zu Mikoto herüber. Vorsichtig hob ich ihren Oberkörper an.
»Kannst … kannst du mich hören? Mikoto?!« Ihre Augen wanderten in meine Richtung. Zunächst blinzelte sie irritiert, bis sie plötzlich scharf die Luft einsog und sich hastig nach vorne beugte. Gerade so als sei sie aus einer Schlafparalyse erwacht.
Sofort wirbelte sie hektisch herum, stieß mich zur Seite und lief wacklig zum Klappmesser. Mit einem triumphierenden Grinsen hielt sie die Klinge hoch. Zeitgleich drehten sich unsere Köpfe zur Tür. Levi war zurückgekommen und stand ausdruckslos am Türrahmen. In seiner linken Hand befand sich ein Seil. Wieder schluckte ich schwer und wich zurück, als er den Raum betrat. Er würdigte mich keines Blickes. Mikoto stieß einen verzweifelten Wutschrei aus und stürmte, mit der Klinge voran, auf Levi zu. Panisch schlug ich die Hände vor dem Mund und erstickte den Ausruf seines Namens.
Warum war ich so geschockt von Mikoto’s Handeln? Ich sollte ihr doch eigentlich helfen … oder nicht …?
Warum entfloh mir sein Name fast verzweifelt?
Blut tropfte zu Boden. Zögerlich sah ich auf und sah wie Mikoto die Klinge in Levi’s rechten Oberarm versenkte. Sofort rann Blut an seinen Fingerspitzen hinab. Doch sein Ausdruck blieb unverändert. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, und seine Augen wanderten zu Mikoto herunter. »Bist du jetzt fertig?«, knurrte er unbeeindruckt. Mikoto zuckte zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Mit einem wutentbrannten Gesicht zog sie die Klinge aus seinem Arm und holte erneut aus.
Meine Beine bewegten sich von selbst …
Atemlos rannte ich auf Mikoto zu und riss sie zu Boden, dabei entglitt ihr das Messer.
Mit geschockten Augen starrte sie mich an. Hektisch versuchte ich Luft zubekommen und sah zu Levi herüber. Dieses Mal war sein Blick auf mich gerichtet.
Monoton hob er das Messer auf und betrachtete die Klinge. »Interessant …«, murmelte er und lächelte finster.
»Du … du dreckiges Miststück! Ich wusste es!«, schrie Mikoto hysterisch. »Du steckst mit ihm unter einer Decke!«
Langsam drehte ich meinen Kopf zu Mikoto. »N-Nein …«, flüsterte ich heiser.
Mikoto schnaubte auf. »Verarsch mich nicht! Warum grinst du dann, du Schlampe?!«, fiel sie mir aufgebracht ins Wort.
Ich zuckte zusammen. Erst jetzt realisierte ich, dass sie recht hatte. Warum …? Warum lächelte ich …?!
Ich spürte zwei Hände auf meinen Schultern. Abrupt wandte ich mich um. Levi saß hinter mir in der Hocke und schlang seine Arme um mich. »So schön …«, flüsterte er mir tief ins Ohr und ich spürte, wie er mir den Griff des Klappmessers in die Hand legte. »Du machst mich wieder total scharf, Amaya. Wie es aussieht, bist du äußerst lernbereit, meine Liebe.«
Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »N-nein …! Das … ich …«
»Es ist in Ordnung. Du musst dich nicht rechtfertigen. Nicht vor mir. Ich verstehe das«, unterbrach er mich und erhob sich. Seine Augen verengten sich. »Sie geht mir auch auf die Nerven! Außerdem will ich ihr einen schmerzvollen Tod bescheren«, fuhr Levi fort, während er an mir vorbeischritt und Mikoto mit voller Wucht ins Gesicht trat. Ihr Körper fiel augenblicklich zur Seite und Levi begann ihre Handgelenke zu fesseln.
Wie erstarrt schaute ich ihm dabei zu, und sein Messer glitt aus meiner Hand. Eine Weile sah Levi auf Mikoto herab. Wie sie da lag. Wehrlos. Dann glitt sein Blick wieder zu mir.
»Ihr kranken Arschlöcher!«, fauchte Mikoto hasserfüllt, jedoch drangen ihre weiteren Worte nicht mehr zu mir herüber. Meine Augen blieben wie paralysiert auf Levi gerichtet und ich nahm nur noch dumpf wahr, wie sie herumschrie.
Levi seufzte gereizt aus, beugte sich zu mir nach vorne, und nahm das Messer wieder an sich. »Ich mag es absolut nicht, wenn es so laut ist«, brummte er rau, und wandte sich wieder zu Mikoto. Nachdenklich fuhr er sich mit der Klingenspitze über die Wange. »Amaya, sag du mir, womit ich beginnen soll!«, forderte er tonlos.
Gelöst von meiner Starre, blinzelte ich. Aber kein Wort kam über meine Lippen. Levi senkte den Kopf nach vorne und lächelte Mikoto finster an. »Vielleicht sollte ich dir die Zunge rausschneiden. Dann wäre es hier endlich ruhig«, fuhr er ruhig, aber dennoch bedrohlich, fort. Seine Brauen gingen nach oben. »Aber, ich glaube, für den Anfang reicht das auch.«
Alles ging so schnell, dass ich erst einige Sekunden brauchte, um zu begreifen, was geschehen war. Levi beugte sich zu Mikoto herunter und schnitt, mit einem unheimlich ruhigen Gesichtsausdruck, die Fersen an Mikoto’s Fuß auf. Das Fleisch ging langsam auseinander, und Blut schoss augenblicklich aus den Wunden. Mikoto’s markerschütternder Schrei halte durch den Raum.
Levi verzog die Mundwinkel und beugte sich über sie hinweg. »Du bist immer noch zu laut!«, brummte er gereizt.
»D-Du … du elender Bastard!«, presste Mikoto zwischen den Zähnen hervor. »Wenn … wenn ich hier rauskomme, kannst du was erleben! Ich werde dich melden! Ich kenn’ dein Gesicht und -« Ihr Worte erstickten in einem erneuten Aufschrei, während Levi die Klingenspitze in ihr rechtes Auge drückte.
»Wie war das?«, hakte er amüsiert nach, ehe er erneut seufzte und die Klinge von ihr entfernte. »Du bist so entsetzlich laut. Das nervt mich!«, knurrte er und sah zu mir herüber.
Ich fühlte nichts. Keine Angst. Keine Panik. Keine Verzweiflung, Trauer oder Wut. Regungslos schaute ich ihm dabei zu, wie er erneut einen Menschen folterte.
»Oii! Amaya! Sie geht dir doch auch auf die Nerven, oder?«, fragte er rau nach und die Klinge wanderte Mikoto’s Körper entlang, doch unser Blickkontakt brach nicht ab. »Nur ein Wort von dir, meine Liebe, und sie ist ruhig. Also, sag mir, Amaya, geht sie dir auch so auf die Nerven?« Mikoto’s Schluchzen ertönte zwischen uns hinweg. Seine quecksilber grauen Augen schienen mich förmlich zu sich zu ziehen.
Wieder bewegte sich mein Körper von selbst, und ich kroch auf allen Vieren zu ihm und Mikoto herüber. Unsere Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Seine freie Hand strich meine Wange entlang. Sein blutverschmierter Daumen zeichnete meine Unterlippe nach.
»Sag mir, Amaya, was soll ich tun?«, flüsterte Levi tief und steckte das Messer völlig beiläufig in Mikoto’s Schulter. Als sei ihr Körper irgendein Arbeitsbrett. Seine blutgetränkten Hände umfassten mein Gesicht. »Du lächelst wieder, meine Liebe«, hauchte er und seine Worte vibrierten nur wenige Zentimeter von meinen Lippen. Sein Duft mischte sich mit dem von Blut. Mein Puls raste und ich schloss die Augen, als er seine Lippen auf die meinen legte.
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