- Kapitel 2 - Blinde Augen

Das alles war nun eine Woche her. Aber alles war ihr noch so präsent, dass es wirkte wie vor wenigen Stunden.

Einen Korb flechtend saß Esa auf ihrem Lieblingsplatz direkt am Rand des Dorfes. Als ein Windstoß ihre Kleider durchfuhr und ihr bis auf die Haut drang, konnte sie nicht widerstehen das Gesicht zu heben und tief einzuatmen. Sie mochte den Frühling. Sie liebte den Geruch von frischem Grün, von Blumen und vom Ende des Winters, den der Wind über die Hochebenen herantrug. Selbst das Plätschern des flachen Flusses im Hügeltal konnte sie in ruhigen Momenten hören.

Ihr Dorf lag auf mehreren Terrassen verstreut auf einem flachen Hügelanstieg, nahe an einem lichten Laubwald und umgeben von kleinen Feldern, die gerade ausreichten um die Bedürfnisse des Dorfes zu decken. Das wusste sie, weil es ihr gesagt wurde, wie sie so vieles nur wusste, weil man es ihr sagte. So sagten die Leute auch, der Himmel sei blau und das Gras grün, die Mauern der Häuser grau und die Dächer golden durch das Stroh. Esa glaubte ihnen, denn sie wusste es ja nicht besser. Aber für sie war der Himmel immer weit gewesen, das Gras war kühl und frisch, die Mauern der Häuser hart und rau und das Stroh der Dächer pikste an den Fingerspitzen. Das war das, was sie kannte, die Eigenschaften, von denen sie erzählen konnte und die sie nennen würde, wäre sie aufgefordert gewesen, ihre Welt zu beschreiben.

Insgesamt also ein Bild, das mit seiner Friedlichkeit über die furchtbaren Jahre dieses Dorfes hinwegtäuschte. Über die Asche und die verbrannte Erde, über den Tod und die Tage der Angst, die vor zehn Jahren alles verändert hatten.

Esa senkte den Kopf wieder und beinahe wirkte es, als schaue sie auf die Aussicht die sich ihr von diesem Platz über das Tal bot. Aber eigentlich versuchte sie nur ihre Gedanken zu ordnen und ließ den halbfertigen Korb zu Boden sinken. Es musste jetzt später Mittag sein, sie konnte die Sonne frontal auf ihrem Gesicht spüren, also stand sie bereits nicht mehr ganz im Süden.

„Woran denkst du? Doch nicht etwa an mich?", fragte Josepha sie grinsend und ließ sich unsanft neben ihr auf die Erde plumpsen. Esa schüttelte lächelnd den Kopf und stieß ihm mit dem Ellbogen in die Rippen. Er ächzte gespielt theatralisch.
„Natürlich nicht an dich, Dummkopf! Ich habe an die Zeremonie gedacht. Kaum zu glauben, dass es schon eine Woche her ist. Davor war ich so aufgeregt, ich konnte nicht schlafen und jetzt... vergeht ein Tag nach dem anderen." Josepha war ihr bester Freund seit sie denken konnte. Er war ein Jahr jünger und seit einer Woche genauso ihr Ehemann wie alle anderen Männer des Dorfes. Irgendwie merkwürdig... Aber immerhin würde sie jetzt nichts mehr trennen, jetzt konnten sie für immer Freunde bleiben.
„Pah, die Zeremonie.", meinte er plötzlich abfällig. "Das hätten wir nicht nötig, wenn die Männer des Dorfes gegen die Drachen gekämpft hätten anstatt sich feige zu verstecken und zuzusehen wie ihre Frauen-"

"Sei doch still!", seufzte Esa in sein Wort. Sie konnte es nicht mehr hören. "Wie oft haben wir schon darüber geredet was hätte sein können... Es ist so wie es ist! Damals sind nicht nur Frauen gestorben, sondern auch Männer. Tapfere Männer, die sich ins Feuer geworfen haben, in der Hoffnung sie könnten mit Äxten und Mistgabeln gegen Drachen kämpfen. Männer, die gehofft hatten ihre Frauen und Kinder zu beschützen vor dem glühenden Flammen der Bestien. Doch wofür? Ihre Gräber sind leer, weil ihre Leichen zu Asche zerfielen! Ihre Äxte und Mistgabeln sind geschmolzen wie Wachs auf einem heißen Stein.

Wir können froh sein, dass einige Männer sich versteckt haben und das Dorf wieder aufgebaut haben. Sonst würden wir nicht hier sein, Josepha! Keiner wäre mehr hier. Du nicht, ich nicht... keiner. Verhungert, verloren in den Wäldern, vielleicht sogar gefressen.

Also fang bitte nicht wieder mit dem Thema an. Ich bin es müde." Symbolisch gähnte Esa ausgibig und streckte sich einmal. Von Josepha Seite kam nur betretenes Schweigen. Sein Blick war mürrisch und vor jungenhaftem Trotz erfüllt, während er auf seine Hände starrte. Sie würde seine Worte nicht hören wollen, was er gerade dachte. "Also mir hat die Zeremonie gefallen. Und ich bin bereit meine Pflichten zu erfüllen, damit es dem Dorf wieder besser geht! Das solltest du auch sein.", fügte Esa auf sein Schweigen hinzu, aber erntete erneut keine Antwort. Warum war er denn nicht auch froh für sie, dass sie nun endlich verheiratet war? Es gab doch jeden Grund zur Freude! Sie würde den Frauen und Männern bei der Arbeit helfen, wo sie nur konnte, ihre Kinder würden das Dorf wieder zu neuem Leben erwecken und die Freude zurückbringen, die vielen seit den Ereignissen verloren gegangen war. Wahrlich eine neue Ära, die Rückkehr einer guten Zeit.

"Pflichten... ", murmelte Josepha mürrend vor sich hin, als wäre das Wort ein fremder Gegenstand dessen Geschmack er nicht mochte. Esas bernsteinfarbene Augen verdrehten sich und sie kicherte.

"Du nimmst das alles, wie immer, zu ernst. Ich gehe jetzt hinunter zum Fluss und wasche ein paar Kleider, wenn du magst, kannst du mitkommen. Dann reden wir da weiter.", bot sie an und erhob sich, ihre Kleider glatt streichend. Der unfertige Korb landete mit den anderen Zweigen in einer größeren Kiste, die sie anhob.

"Nein, ich... muss noch mit den Schweinen helfen. Die Säue haben gerade Ferkel bekommen und machen ordentlich Arbeit. Besser du fragst deine Mutter, ob sie dich begleitet." Esa legte nachdenklich den Kopf schief. Josepha und seine Mutter kümmerten sich um die Schweine, die dem Dorf gehörten. Eine wichtige Aufgabe, hatte Esas Vater mal gesagt. Sie scherten die Versorgung der Leute genauso wie die Leute auf den Feldern. Aber jetzt gerade klang es wie eine Ausrede. War er etwa eingeschnappt?

"Ach nein, es wird sowieso nicht lange dauern. Du kannst ihr ja sagen wo ich bin, wenn sie fragt. Bis später!", entgegnete Esa und ging, um die Sachen wegzubringen. Ihre Mutter wollte sie nun wirklich nicht dabei haben. Sie behandelte sich immer wie eine zerbrechliche Vase, als wäre sie hilflos und unfähig für sich zu sorgen. Und egal wie oft Esa ihr beteurte das sie gut klar kam und auch nicht kaputt ging wenn sie mal über einen Stein stolperte, ihre Mutter behütete sie wie einen Schatz. Nervig... Und unglaublich übertrieben, fand Esa. Sie musste sich manchmal zwingen nicht den Mund zu verziehen, wenn sie sie gerade wieder verhätschelte und ihr nicht mal zutraute allein zum Dorfplatz zu gehen.

"Bis später...", kam eine reichlich verspätete Antwort von Josepha zurück, als sie beinahe schon außer Hörweite war.

Treppen, großer Stein mit Moos zur rechten, kleiner Absatz, dann an dem knotigen Baum vorbei nach links und dann einfach nur noch geradeaus. Nicht so schwer. Den Weg nachhause, so war sie sich sicher, würde sie immer finden.

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