Zwölf

Ich sehe kaum, wo ich hin laufe. Irgendwann bleibe ich kurz stehen, löse meine Füße aus den Highheels und nehme diese mit dem letzten bisschen Würde, das ich noch besitze, in die Hand, bevor ich barfuß weiter laufe. Auf dem Weg werfen mir ein paar Leute verwirrte Blicke zu, darunter Dan, aber er hütet sich, mir zu nahe zu kommen oder zu folgen. Ich renne durch den Garten in den Pavillon, passiere die riesigen Leinwände, die von innen erleuchtet werden und natürlich ausgerechnet in diesem Moment ein Bild von Ana und mir bei einem unserer letzten Cheerleading-Matches zeigen müssen. Wir lächeln und ich bin mir ehrlich nicht sicher, ob es ein echtes oder falsches Lächeln ist, das da mein Gesicht erhellt. Meine blonden Haare werden auf meinem Kopf von einer rot-bronze-glitzernden Schleife gehalten, dieselbe Farbe, die auch in Glitzersprenkeln mein Gesicht bedecken. Ana und ich sehen aus wie Schwestern.

Wie eine Salzsäule bleibe ich plötzlich doch stehen. Mein Herz krampft sich so fest zusammen, dass ich keine Luft mehr bekomme. Ich fasse es nicht. Es ging mir vorhin so gut. Alles war in Ordnung. Bevor Melania kam. Ich presse mir die Handflächen gegen die Augen, weiß, dass mein komplettes Make-Up verschmiert. Dieser Abend ist ein Desaster. Mal wieder. Ich gehe nie wieder auf eine Party. Wütend reiße ich den Katzenschwanz von meinem Rock. Zum Glück stehen die meisten Gäste vorne bei der Tanzfläche. Hier hinten ist das Licht nicht so hell und die Nacht schließlich schon angebrochen, sodass mich kaum einer auf den ersten Blick erkennen wird. Und einen zweiten Blick bin ich sowieso nicht wert.

Ich lasse mich auf den Boden sinken und lehne mich mit dem Rücken an die linke Leinwand. So kann ich die Bilder betrachten, die als Diashow über die rechte Leinwand wandern. Es ist kalt hier draußen, aber die Kälte dringt gar nicht zu mir durch. Wenn in diesem Moment eine Raubkatze aus dem Gebüsch springen würde, ich würde nicht mal zusammen zucken.

Dan hatte Recht. Es sind tausend Bilder von mir dabei. Ich erinnere mich nicht mal, so oft fotografiert worden zu sein. Kameras jagten mir damals Angst ein. Weitere Tränen rinnen mir über die Wangen. Ich weiß nicht, wie ich zu Khan in den Wagen steigen soll, sobald wir aufbrechen. Wie soll ich ihm ins Gesicht sehen und... Ein Bild von mir, als ich nach einem Salto lande. Ich grinse, meine Augen konzentriert aufgerissen. Ich sehe so glücklich aus, dass mir ein Schluchzen entweicht. Erneut presse ich die Hände gegen meine Hände, will das nicht mehr sehen. Melanias Worte laufen in Endlosschleife durch meinen Kopf. Was ich gesagt habe, stimmt, es interessiert mich nicht, was sie von mir denken. Das einzige, was mich interessiert, ist Khan...

Ich wusste auch vorher, dass ich Ana damals verletzt habe, es aber noch mal so gesagt zu bekommen, das tut weh. Wie viele schlechte Gefühle gibt es? Ich bin mir sicher, ich fühle sie gerade alle. Gleichzeitig. Ohne Ende. Es tut so weh.

Neben mir raschelt es, es hört sich an, als ob sich jemand neben mich setzt. Ich halte die Luft an, löse meine Hände aber nicht von meinem Gesicht. Mit einhundert-prozentiger Wahrscheinlichkeit ist es Khan. Sein Aftershave, das natürlich nach Zimt und... Minze riecht, dringt mir in die Nase. Ich schaffe es einfach nicht, ihn anzusehen. Sein gleichmäßiges Atmen ertönt neben meinem Ohr. Leise, ruhig. Beruhigend. Ich spähe zwischen meinen Fingern hindurch zur Leinwand. Der Cheerleading-Squad auf einem Gruppenbild. Ich stehe auf den Schultern eines Jungen – hieß er Aaron?

„Ich suche verzweifelt nach Scherzen, die ich reißen könnte, damit du mich ansiehst, lächelst, reagierst oder irgendwas sagst, aber mir will keiner einfallen, der nicht irgendwie daneben wäre." Khan streckt die Beine aus. Seine Stimme ist leise, doch ich nehme sie kaum wahr. So sollte das nicht laufen. Vielleicht hätte ich ihm irgendwann offen von meiner Vergangenheit erzählt. Aber doch nicht...so! Ich reibe mir über die Stirn. Meine Stimme fühlt sich rau an, als ich den Mund öffne.

„Kennst du...", ich räuspere mich, schüttle den Kopf.

„Kennst du diese Momente, wenn du dich wie ein Zuschauer in deinem eigenen Leben fühlst? Du stehst da, du öffnest den Mund, sprichst, und du schließt ihn wieder, du bewegst dich, dann gibst du jemandem eine schallende Ohrfeige und spürst es nicht mal. Du hörst dich reden und du hörst genau, was du sagst. Gleichzeitig nimmst du es nicht mal richtig wahr. Als ob du nicht du wärst, sondern jemand anders, der in dir drinnen gefangen ist." Gegen Ende wird meine Stimme leiser. Khan schweigt, offenbar wartet er, ob ich dem noch etwas hinzufügen will. Was ich tue.

„Vermutlich denkst du dir jetzt: whoa, Stew, das nennt man Gefühle. Und while, yes, manchmal handelt man instinktiv oder ohne viel darüber nachzudenken, aber das vorhin, das war nicht ich? Vielleicht war ich es, aber es war eine Version von mir selbst, die ich nicht kenne und die ich auch nicht kennenlernen will... Gott, ich fühle mich so dumm." Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, als das Blut zurück in meinen Körper rauscht, als das Adrenalin verschwindet, als meine Hand anfängt zu brennen, mein Verstand aufklart. Die Kälte dringt mir in jede Pore, sofort fange ich an leicht zu zittern. Doch anders als sonst, ist es kein unangenehmes Zittern. Es ist ein Zittern, das mich daran erinnert, dass ich lebe, dass ich Schmerzen und Gefühle empfinden kann, dass ich verdammt noch mal menschlich bin. Ich reibe mir die verlaufene Schminke vom Gesicht.

„Erstens, Stew, bist du nicht dumm." Er nimmt meine Hände von meinem Gesicht und hält sie fest, während ich die Lippen zusammen presse und weiterhin konzentriert auf die Leinwand starre – auch wenn ich durch die jetzt wieder laufenden Tränen kaum etwas erkennen kann.

„Zweitens: mach dir keine Gedanken über meine Gedanken. Ich weiß genau, was du meinst. Mein Vater stirbt. Du warst dabei, als ich den total Schaden hatte. Ich kann die Sachen, die ich ihm oder meiner Mum oder den Menschen in meiner Umgebung, in letzter Zeit an den Kopf werde, kaum nachvollziehen, noch erinnere ich mich wirklich daran. Ich sehe nur den Schmerz in ihren Augen und merke dann, dass ich mich wie ein Arschloch verhalte." Kurz erstarre ich. Dann schüttle ich den Kopf und dränge die Tränen zurück.

„Tut mir leid", sage ich schließlich. Wieder dreht sich alles um mich, dabei wird Khan seinen Vater verlieren. Er hat Kummer und ihm geht es schlecht-

„Wofür entschuldigst du dich?" Er seufzt.

„Stew." Seine Stimme gleicht einem Schnurren, gleichzeitig einer stummen Bitte.

„Ich... Du und dein Dad... Und ich sitze hier und flenne", ich bekomme Schluckauf und schnaube leise. Typisch. Dachte ich vorher, der Abend habe seinen Tiefpunkt längst erreicht, so habe ich mich wohl geirrt. Jetzt hat er ihn erreicht.

„Du brauchst dich für gar nichts entschuldigen. Wenn Gma mir eines beigebracht hat, dann, dass jeder leidet. Dass jeder leiden darf. Scheiß drauf. Mein Dad wird sterben und ich bin am Boden zerstört. Deswegen musst du deine Schmerzen nicht in dich rein fressen."

„Du klingst wie Mikael", flüstere ich.

„Auch wenn uns Grandma Dexter nie was Gutes beigebracht hat." Stattdessen sagte sie schließlich immer das Gegenteil von dem, was Khan mir versucht einzutrichtern. Für Grandma Dexter sind Gefühle doch bloß Einbildung und irrelevant.

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