Vier

Am Abend nach der Schule betrete ich das Arbeitsamt, lasse mich dort beraten und bekomme einige Telefonnummern in die Hand gedrückt, bei denen ich mich für einen Babysitter- oder Nachhilfejob erkundigen kann. Die Angestellte dort hat mich nur mitleidig angelächelt und ich musste dem Drang widerstehen, auf die Frage, weshalb ich Geld verdienen möchte, mit einer Lüge zu antworten. Aber solche Fälle haben sie vermutlich jeden Tag bei sich sitzen.

Zuhause rufe ich gleich fünf Telefonnummern hintereinander an und bin überrascht, dass ich bei vier davon auf den Anrufbeantworter sprechen muss. Der Besitzer der fünften Nummer hebt ab und entpuppt sich als Frau, deren Stimme man anhören kann, dass sie lächelt. Ich finde sie sofort sympathisch.

„Hallo?" Etwas rauchig, aber hoch.

„Mein Name ist Stew Dexter. Ich will mich wegen dem Babysitten bei ihnen bewerben." An der anderen Seite der Leitung raschelt es, dann erklingt wieder ihre glockenhelle Stimme. Vielleicht hat sie einen britischen Akzent.

„Endlich. Wunderbar! Wir suchen schon seit Wochen nach jemandem. Wann kannst du anfangen?" Ich lache leise. Hätte ich gewusst, dass das so einfach geht, hätte ich mich bereits vor mehreren Wochen beworben.

„Wann es ihnen am besten passt. Ich habe Zeit." Sie fragt nicht nach meinem Alter, meinen Qualifikationen oder sonst was, vereinbart einfach einen Termin für diesen Freitagabend – glücklicherweise erst nach Darrens Spiel, dann verpasse ich zwar die Afterparty, aber Darren wird es mir verzeihen – und sagt mir, wie froh sie darüber ist, dass ich mich gemeldet habe. Und ich bin auch froh, dass ich mich bei ihr gemeldet habe. College, here I come.

Der nächste Tag startet wie der vorige, mit einem Unterschied in der fünften Stunde, dass meine Biolehrerin, die gestern krank war, heute erscheint und uns mit fliegenden Röcken in ihren Saal schleust, der vorher verschlossen war. Drinnen lasse ich meine Tasche neben mich auf einen freien Stuhl fallen und richte mich im Sitzen auf. Sie geht die Namensliste durch und ich erstarre zu Eis, als sie Khan aufruft, der im selben Moment etwa zehn Minuten zu spät in den Raum spaziert. Genau wie gestern. Scheint sein Ding zu sein. Oder er versucht sich ein bestimmtes Image aufzubauen.

„Tut mir leid", sagt er bloß kurz angebunden, was Mrs. Bonnefelder – die Frau meines Physiklehrers, die sein genaues Gegenteil ist – mit einem Augenrollen quittiert.

Wie selbstverständlich steuert Khan auf den freien Platz neben mir zu und ich nehme widerwillig meine Tasche weg. Mrs. Bonnefelder erklärt uns, wie wenig sie vom Zuspätkommern hält, während ich seelenruhig Wirbel auf meinen Block male. Als ich aus Versehen zu Khan schaue, liegt dessen Blick bereits auf mir.

„Hübsche Zeichnung", lacht er leise und ich lege den Stift weg.

„Danke", antworte ich nur und widme meine Aufmerksamkeit dem Biologie-Unterricht, der auch sofort beginnt. Ich hatte noch nie meine Probleme mit Menschen umzugehen, auch nicht mit denen, die versuchen, mich auf die Palme zu bringen. Manche nennen es Empathie, Mum nannte es mal schauspielerisches Talent und ich gebe dem ganzen keinen Namen, weil es einfach eine meiner Eigenschaften ist.

Den Rest der Stunde schweigt Khan, mustert mich nur immer mal wieder, wenn er denkt, ich bemerke es nicht. Während er sich kein einziges Mal meldet, schießt mein Arm bei jeder Frage in die Höhe. Anders als Chemie, gefällt mir Biologie wirklich. Als mir beim Pausenklingeln ein Stift vom Tisch fällt, beugen Khan und ich uns gleichzeitig nach unten und stoßen mit den Köpfen aneinander.

„Autsch", sage ich, während ihm ein, „immer langsam mit den jungen Pferden", entfährt. Ich verdrehe nur die Augen, nehme den Stift aus seiner Hand entgegen und ignoriere den Stromschlag, den er mir dabei verpasst. Vielen Dank auch.

„Heute keine Flipflops?", will er wissen, als er sich aufrichtet und seine Sachen zusammenpackt.

„Ich bevorzuge meine Highheels", sage ich lieblich lächelnd. Und das stimmt. Dank ihnen, heute anderen als gestern, damit ich nicht noch mal falle, überrage ich zumindest einen kleinen Teil der Schülerschaft. Nicht Khan, wie ich feststellen muss, als wir gleich darauf neben einander den Raum verlassen. Dank meinen Highheels sind wir genau auf einer Höhe. An der Tür bietet er mir den Vortritt an.

„Ladys first", schmunzelt er. Ich schüttle nur den Kopf und eile dann an ihm vorbei, um schnellstens in die Cafeteria und zu den anderen zu gelangen. Zum Glück verheddere ich mich dabei diesmal nicht in meinen Absätzen und lege einen ordentlichen Abgang hin. Am liebsten würde ich mich umdrehen und schauen, ob er mir hinterher blickt.

Dort angekommen geselle ich mich sofort zu Mariah und den anderen. Sie sind bereits in ein Gespräch über bodenlange Röcke vertieft. Darren ist nicht hier, allerdings diskutiert Ashton lautstark mit.

„Diese Röcke versperren doch die ganze Sicht", sagt er gerade und als Antwort darauf verpasst ihm Andrea einen Hieb in die Rippen. Ich ziehe mir einen Stuhl heran und ignoriere den Drang, das Kinn auf die Lehne zu legen. Heute ist ein seltsamer Tag.

„Ich finde das hängt vom Anlass ab", mischt sich Mariah ein, mustert mich kurz mit hochgezogenen Augenbrauen, wendet sich dann aber an Anne, die das Gespräch vermutlich in Gange gesetzt hat. Offenbar schaue ich etwas betröppelt drein.

„Und wie der Rock aussieht", füge ich hinzu, setze ein falsches Lächeln auf, damit niemand auf die Idee kommt, mich nach meiner schlechten Laune zu fragen.

„Sagt das Mädchen, das gestern in Flipflops rum gelaufen ist", erklingt hinter mir eine Stimme und ich fahre erschrocken herum. Khan. Meine Flipflops sind ziemlich stylisch und bisher habe ich nur Komplimente für sie eingefangen. Warum sagt er sowas? Kann er nicht einfach wie ich so tun, als wäre unser Zusammenstoß nie passiert?

Glücklicherweise beachtet Khan mich nicht weiter, was ich mit einem leisen Seufzen quittiere und fragt Ashton nach einer Art Arbeitsauftrag, den sie gemeinsam für Kunst machen sollen. Ich höre mit einem Ohr diesem und dem anderen Gespräch zu und fühle mich leicht ausgegrenzt, als ein Tablett neben mir abgestellt wird und Darren sich zwischen Ashton und mich quetscht.

„Du machst dich ganz schön breit hier, wie du mir den Platz neben meinem Mädchen wegnimmst", unterbricht er Ashtons Gespräch. Kurz kabbeln die beiden sich wieder, dann geben sie sich einen Faustschlag zur Begrüßung, ehe sich Darren zu mir umdreht.

„Hast du keinen Hunger? Du kannst gerne was von mir haben." Er gibt mir einen Kuss auf den Mund, den ich nur zu gern erwidere und beißt dann genüsslich in seinen Burger. Ich zucke die Achseln und starre auf die Stelle, an der normalerweise ein Tablett stehen würde.

„Ich bin noch satt von meinem Frühstück", lüge ich, spüre wie mein Magen ein klein wenig rebelliert. Kurz zuckt mein linkes Auge, ich tue so, als hätte ich einen Fusel hinein bekommen und reibe es mir. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Khans Blick zwischen Darren und mir hin und her wandert. Um die Aufmerksamkeit von meinem Magen oder Darren und mir wegzulenken, erzähle ich Darren von meinem Erfolg bei der Nebenjobsuche.

„Freitagabend?", fragt er. Ich zucke wieder die Achseln und lächle ihn aufmunternd an.

„Diese eine Party wirst du ohne mich überleben müssen."

„Hat wer was von Party gesagt?", fällt Ashton mir ins Wort. Khan steht noch immer neben ihm und scheint auf eine Antwort von ihm zu warten.

„Du weißt davon, Ash", seufzt Andrea und sieht so aus, als würde sie sich am liebsten selbst schlagen.

„Manchmal bist du echt verpeilt", kommentiere ich. Darren lacht leise.

„Solange nur er verpeilt ist", murmelt mein Freund und ich verstehe nicht ganz, worauf er hinaus will, hake aber nicht nach, weil es zur nächsten Stunde klingelt. Als ich aufstehe, wird mir kurz schwarz vor Augen und ich schüttle den Kopf um das Schwindelgefühl zu verdrängen. Dann harkt sich Mariah bei mir unter und wir wandern gemeinsam zu unserem nächsten Kurs.

Kaum habe ich mich versehen, da ist es auch schon Freitagnachmittag, die Schule ist vorbei und Darren und der Rest seiner Mannschaft bereiten sich auf ihr Spiel vor. Mariah und ich sitzen bereits auf der Tribüne neben Feld draußen und sehen dabei zu, wie um uns herum immer mehr Menschen Platz nehmen. Obwohl es bereits dunkel wird und der Abend in ein Lila getunkt ist, kann man dank der Scheinwerfer und der Strahler sehr viel erkennen.

Ashton, Andrea und Anne kommen erst zur Party – die drei stehen nicht sonderlich auf Football und werden auch nicht von ihrem Freund oder der besten Freundin mit hierher geschleppt so wie Mariah und ich. Rina hingegen wird auch nicht zur Party erscheinen. Sie ist die ruhige unter uns und verzichtet lieber auf jeglichen Alkohol – und auf soziale Situationen wie einem Footballspiel.

„Wie lange dauert das denn noch?", will Mariah wissen, isst von ihrem Popcorn und stößt mich dann in die Seite. Ihr Finger deutet in Richtung Coach. Dort steht Khan, wieder in diesem Sweatshirt der anderen Footballmannschaft und spricht mit einem älteren Mann, der die Farben unserer Schule trägt. Ich sehe den Mann nur von hinten, erkenne aber nicht, zu wem der Rücken gehört – habe ihn noch nie hier gesehen – es wirkt, als hätten wir einen neuen Footballtrainer.

„Gegen wen spielt Darren heute noch mal?", frage ich und lege den Kopf schief. Natürlich! Heute spielen sie gegen die Dragon Wolfs. Blau-weiß. Sie spielen gegen blau-weiß. Ob Khan das weiß? Warum trägt er ihre Farben, wenn er doch jetzt auf unsere Schule geht? Footballfanatiker wie Darren würden ihn dafür vermutlich steinigen, wenn sie nicht so konzentriert auf ihre Aufwärmübungen wären.

„Vielleicht war er vorher auf der Dragon High", mutmaßt Mariah.

„Wäre komisch, wenn nicht", gebe ich ihr Recht. Die Dragon High ist keine zwei Stunden von unserer Schule entfernt, also genau auf der anderen Seite des Dorfes, in dem ich wohne, ein hübscher Neubau mit Schülern, die noch nie wegen einem Skandal in der Tageszeitung standen(anders als unsere Mitschüler) – ich war zwei Monate dort, bevor ich hierher wechselte, weil Mum und Dad dachten, es wäre eine schönere Schule. Letzten Endes entschied ich mich, milde gesagt, gegen die Dragon High und für unsere Schule.

„Ist das nicht Verrat? Wenn er an unserer Schule ist, bei einem Footballspiel aber für die gegnerische Mannschaft fiebert?" Mariah knüllt ihre Popcorntüte zusammen. Ich lasse diese Frage unbeantwortet, weil ich es selbst nicht weiß.

„Gut sieht er ja schon aus", sagt sie dann leise und knibbelt unauffällig an ihren rosa-lackierten Nägeln herum. Ich verschlucke mich an meinem Wasser, von dem ich eben einen Schluck nehmen wollte. Glücklicherweise sind die Plätze vor uns noch leer, sonst hätte die Situation ein echt peinliches Ende genommen.

„Wäre ich ein Mädchen wie Anne, dann würde ich ihn mir heute Abend schnappen", gesteht Mariah leise und ich lache, weil ich nicht weiß, wie ich sonst reagieren soll. Natürlich sieht Khan gut aus. Doch das Mariah tatsächlich so weit gehen würde, erschreckt mich. Sie kennt ihn ja gar nicht. Normalerweise würde sie auch nur bei seinem Erscheinen zurück schrecken, weil sie mit Jungs einfach nicht umgehen kann. Ich habe schon öfters versucht, sie auf einem Doppeldate zu verkuppeln – erfolglos. Als hätte er unser Gespräch gehört, wandern Khans Augen in unsere Richtung. Ich werde rot, kann es nicht mal verhindern.

„Was ist das nur mit dem Erröten in letzter Zeit..." Mariah schnalzt mit der Zunge und steht auf, um sich einen Hotdog oder irgendetwas Essbares zu holen. Als ich zurück zu Khan schaue, kann ich nur noch den Trainer dort stehen sehen, der sich müde durch die Haare fährt. So im Profil kommt er mir irgendwie bekannt vor, ich weiß nur nicht, wieso.

Es ist nicht Mariah, die sich kurz darauf wieder neben mich setzt, sondern Khan. Da ich ihn habe kommen sehen, bin ich nicht mal überrascht. In seinen Augen schimmert es, er feixt. Ohje.

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