F i v e | The phonecall

I need you right now.≪

Was war nur heute los? Hatte sich das Universum gegen sie verschworen?

In ihrem Zimmer ließ Giselle sich auf ihr Bett fallen, ohne vorher den Haufen dreckiger Klamotten herunter zu nehmen. Sie schloss die Augen und gab sich ihren Tränen hin. Am Liebsten würde sie einfach jetzt sofort einschlafen, den heutigen Tag vergessen und morgen ganz normal weitermachen. Ihr Kopf schwirrte von verwirrten und wütenden Gedanken. 

Angestrengt versuchte sie, alles Denken auszuschalten. Giselle wollte nicht über ihre Mutter, ihre Freunde und ihre Tante nachdenken. Sie war gerade zu fertig, um überhaupt zu denken. Sie würde sich vielleicht morgen Gedanken darüber machen.

Giselle drehte sich auf die Seite und wollte einfach nur noch schlafen und weinen. Gerade verfiel sie in einen wohligen Dämmerzustand und spürte, wie ihr die Gedanken langsam entglitten, als ihr Miststück von einem Handy klingelte. 

Wütend riss sie die Augen auf und starrte direkt auf ihr Handy, das in dem Gewühl aus dreckigen Socken schwach leuchtete. Leise fluchend packte sie das Gerät und hielt es hoch, um zu lesen, wer es wagte, sie anzurufen.

Ihre vom Weinen müden Augen verengten sich und sie warf das Handy mit voller Wucht zurück in den Klamottenhaufen. Wie konnte er es wagen, sie anzurufen? Sie überlegte, aufzulegen, doch da begann auch schon seine nervige Stimme auf den Anrufbeantworter zu labern. 

"Hi, Gise!" 

Selber Hi, du mieser, verlogener, arroganter... 

"Ich brauch dich gerade. Ich weiß, zwischen uns könnte es besser laufen-" Giselle schnaubte- "aber ich brauche deine Hilfe! Ich muss unbedingt mit dir sprechen. Also, wie wäre es, wenn du das nächste Mal, wenn ich anrufe, nicht so tust, als wärst du nicht da, sondern auch rangehst?" 

Ertappt biss sich Giselle auf die Unterlippe. Woher-? 

"Du bist noch immer ziemlich durchschaubar, Gise. Also, ich versuchs dann später noch mal." Ein Tuten ertönte, der Mistkerl hatte aufgelegt.

Giselle verschränkte die Arme vor der Brust und pustete sich eine ihrer Haarsträhnen aus dem Gesicht. War sie wirklich so durchschaubar? Ihre Mutter beschrieb sie immer als unberechenbar und schwierig, womit sie eigentlich recht hatte. War Alexander einfach nur beschränkt oder kannte er sie womöglich besser als jeder andere? Ein absurder Gedanke, den das Mädchen sofort verwarf. Niemand kannte sie so gut wie Ryan, Jack oder Isy.

Wo waren sie? Wieder klingelte das Handy und dieses Mal ging Giselle widerwillig ran. 

"Hmpf", machte sie zum Zeichen, dass sie da war. Sie würde ihm eine Minute geben. Vielleicht auch nur eine halbe. 

"Na hallo!", sagte Alec und sie wusste, dass er strahlte. "Hatte ich mal wieder recht mit meiner Diagnose?" 

Giselle runzelte die Stirn. "Diagnose?" 

"Die Diagnose lautet: Du hast die Ich-Hasse-Alexander-Pocken. Du zeigst bereits die ersten Symptome- Starke Abneigung, Beleidigungen, Ignorieren der Anrufe. Bald dürften die ersten Anfälle und die hässlichen Ausschläge auftauchen." 

"Hmm, sehen wir uns mal dich an. Oh ja, du hast ganz bestimmt die Mieses-Arschloch-Pest. Führt zu schlechtem Verhalten und Verlust der Manieren. Eigentlich stirbt auch noch das Hirn zum Teil ab, aber davon bleibst du ja verschont. Wo nichts ist, kann ja auch nichts absterben", giftete Giselle zurück. Es tat gut, Trauer und Wut an ihm auszulassen. 

In Gedanken zählte sie die Sekunden. Zur Hälfte hatte sie die Minute voll. Alexander gluckste, was nicht die Reaktion war, die Giselle erhofft hatte. Konnte er nicht einmal verletzt reagieren, wenn sie ihn beleidigte? So machte das doch gar keinen Spaß. 

"Also, hast du nur angerufen, um dich beleidigen zu lassen?", fragte Giselle und kratzte sich gereizt am Hals. Es war unglaublich, sie konnte sich noch so enthusiastisch mit Mückenspray eindieseln, die Biester fanden immer eine Sekunde der Unachtsamkeit und eine Stelle zum Stechen. 

"Nein, das ist nur ein schöner Nebeneffekt. Ich wollte mit dir über meine Freunde sprechen."

Giselle hielt im Kratzen inne und starrte ungläubig auf ihr Handy. Alexander hatte immer noch das selbe lächerliche Profilbild von sich, wie er mit seiner Schwester Antonia poste. Sie streckten die Zungen raus und Antonia machte ihm Hasenohren.

Toni war schon immer viel sympathischer als ihr großer Bruder gewesen und mit ihrem Haar, das glänzte, als wäre es aus gesponnenem Gold, war sie um einiges attraktiver. Alexander mit seinem spröden, glanzlosen und langweilig blonden Haaren konnte da nicht mithalten. 

"Wieso, was ist mit ihnen? Haben sie dich satt? Glaub mir, das ist kein Wunder, nur eine natürliche Reaktion." Gleich war die Minute vorbei, dann war sie ihn los.
50, 51, 52, 53...

"Nein, sie haben mich nicht satt. Das ist irgendwie nur bei dir so, muss eine Art Defekt in deiner DNA sein."

57, 58, 59... Ihr Finger schwebte über dem Auflegen-Button.

"Meine Freunde sind verschwunden." 

60, 61, 62... Die Sekunden glitten dahin und Giselle bemerkte es kaum. Sie hatte nicht aufgelegt, sie starrte mit offenem Mund auf das Display. "Was meinst du? Sind sie abgehauen?" 

"Nein, ich sagte doch, dass sie mich nicht satt haben können. Sie sind wirklich verschwunden. Ihre Eltern erinnern sich nicht mal mehr an sie." 

Giselle sank das Herz in die Hose. Wie konnte das wahr sein? Konnte der Tag noch seltsamer werden?! 

"Bist du dir sicher? Vielleicht spielen sie dir einen Streich", versuchte Giselle ihn zu überzeugen. Er musste ja nicht wissen, dass auch ihre Freunde verschwunden waren und sich ihre Eltern nicht mehr an sie erinnerten. Das ging ihn gar nichts an. 

"Ich weiß, dass deine Freunde auch weg sind, Gise."

Giselle sparte sich die Frage, woher er das wusste. Er schien allmählich zu einer Art Alleswisser zu mutieren, was äußerst lästig war. 

"Ach ja, und wenn es so ist? Das hat ja wohl nichts mit dir und deinen Freunden zu tun", schnauzte Giselle ihn an, obwohl sie nicht an das glaubte, was sie sagte. Es musste eine Verbindung geben, das war nur logisch, aber sie weigerte sich, zuzugeben, dass es zu Alexander auch nur irgendeine Verbindung gab. 

"Ich kommentiere das jetzt nicht weiter, wir wissen beide, dass es da eine Verbindung geben muss", sagte Alexander in seiner beschissenen altklugen Art. "Und ich schlage vor, dass wir uns noch heute bei mir treffen, um darüber zu reden."

Giselle verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke und verbrachte höchst angestrengt die nächsten fünf Minuten damit, sich die Eingeweide aus dem Körper zu husten.

"In deinen Träumen, Alexander. Wir sehen uns- leider- morgen in der Schule. Falls du nicht vorher tragischer Weise von jemandem erschossen oder erdolcht wirst." Plötzlich fiel Giselle wieder etwas ein, das sie lieber für immer vergessen hätte.

"Das Foto", knurrte sie. "Ich werde dich morgen dafür umbringen, nur dass das klar ist." 

Alexander kicherte. "Natürlich, Schnuckelchen. Und währenddessen schaffst du Mathe ab und erfindest das fliegende Auto. Wir sehen uns morgen." 

Giselle öffnete den Mund zu einem Schwall aus Verwünschungen, doch der Bildschirm wurde schwarz und wieder ertönte das Tuten. Wütend warf Giselle ihr Handy wieder aufs Bett und sich hinterher. Mit verbitterten Gedanken und einer seltsamen Leere im Herzen schlief sie endlich ein. 

(1225 Wörter)

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top