54. Ideales Schönheitsbild
Pretty hurts
We shine the light on whatever's worst
Perfection is a disease of a nation
Pretty hurts, pretty hurts
Pretty hurts
We shine the light on whatever's worst
Tryna fix something
But you can't fix what you can't see
It's the soul that needs a surgery
-Beyoncé "Pretty Hurts"
Die nächsten Wochen trainierten wir nicht, aber das hinderte mich nicht daran Alan fast täglich zu besuchen. Durch mehrere Partien Monopoly kam ich seiner Familie näher, und er selbst sah von Tag zu Tag gesünder aus. Trotzdem sah ich die Sehnsucht in seinen Augen, wenn er aus dem Fenster der Villa sah. Er war wieder eingesperrt und das war für ihn zweifellos schrecklich, doch seit dem Tod seines Vaters hatte sich etwas in ihm verändert.
Einmal hatte ich ihn gefragt, warum er sich allem so kampflos hingab und er hatte geantwortet: „So lange habe ich nur daran gedacht von hier zu verschwinden. So lange habe ich meinem Vater den Rücken zugekehrt und das wofür? Für die Illusion der Freiheit? Ich will nicht mehr für so etwas banales wie Freiheit kämpfen, denn statt zu kämpfen hätte ich meinem Vater weniger Probleme machen sollen."
Dieser unbändige Wunsch nach Freiheit in ihm schien zerbrochen und obwohl es mir das Herz brach das in ihm zu sehen, war ich doch froh, dass er sein Leben nicht weiter aufs Spiel setzte. Ein egoistischer Gedanke, aber ich konnte einfach nicht anders.
Schließlich beschloss ich allein weiter zu trainieren, ohne es ihm zu sagen, damit ich ihm eines Tages, wenigstens diese eine kleine Freude machen konnte.
An Valentinstag teilten uns Paul und Anni mit, dass sie sich getrennt hatten, auf die Frage hin, was sie an Valentinstag vorhatten. JJ, der allgemein nicht wirklich mitbekommen hatte, was in den letzten Wochen passiert war, verschluckte sich fast an seinem Wasser. Auch ich war etwas überrascht und etwas beleidigt, als sie sagten, dass sie sich vor mehreren Tagen getrennt hatten. Doch ich musste auch zugeben, dass sie ausgeglichener wirkten.
Dafür bildete sich ein anderes Problem. Mary und Sina machten einen sehr ernsten und großen Streit durch, von dem ebenfalls keiner von uns etwas mitbekommen hatte. War ich eine schlechte Freundin? Andrerseits waren die beiden meistens sehr darauf bedacht für sich zu bleiben.
Als Mary uns nach der Schule, weinend vor dem Gebäude einholte, waren wir überrascht. Während sie begann zu erzählen, was passiert war, gesellte sich Lola, deren Haare jetzt leuchtend gelb waren, unauffällig zu uns.
„Hör mal Lola, ich mache gerade eine schwere Trennung durch und ich bin wirklich nicht an festen Beziehungen interessiert-"
„Halt die Luft an Paul, ich bin nicht wegen dir hier." Sie zog lächelnd einen Brief aus ihrer Tasche mit dem aufgedruckten Gesicht des Drummers von Twenty one pilots, Josh Dun und reichte ihn mit einem zwinkernd JJ. „Fröhlichen Valentinstag.", flötete sie, die Augen JJ fixierend und ging dann weg.
JJ lief knallrot an und starrte auf den Brief in seiner Hand.
Er war nie besonders interessiert an Mädchen gewesen. Oder Jungs. Oder irgendwas, was nicht in einem Reagenzglas rumschwamm. Ich hatte heimlich immer erwartet, dass er uns irgendwann ein Wesen, dass er selbst hergestellt hatte, als seine Frau/Mann vorstellen würde.
Doch jetzt, als ich ihn so sah, mit weit aufgerissenen haselnussbraunen Augen und hektischen roten Flecken im Gesicht, merkte ich, dass er kein Alien, sondern immer noch irgendwo ein Junge war.
Nach ein paar Sekunden schüttelte er den Kopf und steckte den Brief in seinen Laborkittel. „Tut mir leid, Mary. Ich wollte nicht von dir ablenken.", sagte er mit piepsiger Stimme und räusperte sich.
Ich versuchte zusammen mit Paul und Anni ein Lachen zu unterdrücken. Mary lächelte auf ihre typische sanfte Mary Art und sagte: „Alles gut JJ, wenn du den Brief jetzt lesen willst, dann ist das in Ordnung."
„Nein, wisst ihr was, ich habe eine bessere Idee.", mischte Paul sich ein.
„Ach ja, du kannst dein Gehirn benutzen, nachdem ich es dir rausgeblasen habe?" Anni grinste und sah Alan plötzlich beunruhigend ähnlich.
Solche Kommentare mussten wir uns schon den ganzen Nachmittag anhören. Aus ihrer Trennung war zwar keine Gruppenspaltung geworden, stattdessen aber, und das war viel schlimmer, ein verbaler Wettbewerb, wer von ihnen tatsächlich besser im Bett war. Nicht dass es diese Wettbewerbe nicht schon früher gegeben hatte, doch jetzt flochten sie Details ihrer Bettgeschichten ein, die weder ich noch JJ und Mary wissen wollten, ihren angewiderten Gesichtern nach zu schließen.
Paul ließ sich allerdings nicht beirren. „Wie wäre es, wenn ihr heute Abend alle zu mir und JJ kommt und dann besprechen wir alles zusammen." Er lächelte in die Runde. „Wie damals." Ein besonders langer Blick an Anni gerichtet. „Als Freunde."
„Aber nur, wenn ihr endlich mit diesen widerlichenKommentaren aufhört.", ruinierte ich den Moment und Mary und JJ nickte bekräftigend.Wie warmer Honig breitete sich die Freude und Liebe in mir aus, die ichempfand, bei dem Anblick meiner kleinen Gruppe.
Am Abend wurden wir alle von dem Chauffeur der Zwillinge abgeholt und zur Villa gefahren. Dort angekommen wurden wir von Edward in den Gemeinschaftsraum geführt.
Ich liebte diesen Raum, denn mit einem Flügel, zwei Gitarren, einem Radio mit Boxen und einem gut bestückten Bücherregal, war es genau mein Wohlfühlgebiet. Natürlich gab es auch einen Tischkicker, einen Billardtisch, einen Kamin, der aber aus war und einen riesigen Flachbildfernseher mit einer Auflösung, so gut, dass einem die Augen wehtaten.
Hier schliefen wir immer, wenn wir bei den Jungs übernachteten, denn der Raum war riesig, einer der größten, den die Villa zu bieten hatte.
Auf einem großen Tisch vor dem flauschigen Sofa standen schon Unmengen an Snacks, hergerichtet von der Köchin, die sich schon seit immer versuchte uns zu mästen.
Annie, Mary und ich bedienten uns an den Snacks, während, die Jungs zusammen mit Edward Matratzen holen gingen. Ich schob mir hungrig ein Käse-Schinken-Sandwich in den Mund, als Mr. Jackson den Raum betrat. Er ließ seine grün-braunen Augen durch den Raum schweifen, bis er mich entdeckte und grinsend die Arme ausbreitete. Schnell sprang ich auf und sprang ihm um den Hals. „Onkel Lucas.", rief ich glücklich.
Der Vater der Zwillinge war noch sehr jung gewesen, als sie auf die Welt gekommen waren, ebenso wie Sara, weshalb ihre Beziehung vermutlich nicht sehr weit gekommen war.
Ich hatte ihn immer als Onkel Lucas gekannt, der mir immer großzügige Geschenke gemacht hatte und meiner Mutter sogar Geld hatte geben, nicht leihen, sondern tatsächlich geben wollen, damit sie mich nicht weggeben musste. Meine Mom hatte das großzügige Angebot zwar nicht annehmen können, trotzdem war ich ihm schrecklich dankbar dafür.
Nicht nur in dieser Hinsicht hatte er sich immer um mich und auch um Mary und Annie gekümmert. Er hatte uns auf die besten Ausflüge mitgenommen, quer über die ganze Welt, hatte uns zu unseren Geburtstagen immer ein oder mehrere Geschenke gegeben. Doch nicht nur das. Er war immer sehr daran interessiert gewesen, was wir mit unserer Zukunft anfangen wollten. Für ihn war es am wichtigsten die Jugend in ihren Träumen zu unterstützen.
Dank ihm hatte ich zahlreiche Praktika zum Thema Musik absolvieren können, er hatte sich über verschiedene Universitäten informiert, die mir zusagen konnten und Kontakte über die ganze Welt geknüpft, falls er seine Beziehungen spielen lassen musste. Nie hatte ich ihn sagen hören, dass etwas nicht möglich oder unrealistisch war.
Als JJ mit sieben Jahren davon geredet hatte, dass er einmal eine neue Galaxie bereisen würde, wie seine liebsten Helden in den Marvel-Comics, hatte Mr. Jackson ihm solange kleine Maschinen gekauft, die er zusammen und wieder auseinander bauen konnte, bis diese Phase vorbei war und die nächste startete, die er ebenfalls unterstützte.
Auch hinter Pauls Wunsch Musiker zu werden, hatte er immer treu gestanden und Paul in unterschiedliche Teile der Welt geflogen, wo er vorspielen konnte. Doch nie hatte er sich eingemischt, wenn die Jungs es nicht wollten, nie war er aufdringlich gewesen immer genau darauf bedacht uns nicht die Entscheidungsfreiheit zu nehmen. Es war nicht schwer zu verstehen, warum alle die ihn trafen ihn lieben mussten.
Nur über die Gesichter der Zwillinge huschte manchmal ein Schatten, wenn der Name ihres Vatters viel. Das viele Geld machte sich nicht von selbst und so sehr Mr. Jackson auch versuchte für seine Kinder da zu sein, war er oft sehr beschäftigt und überall auf der Welt unterwegs. Statt wie ein Vater zu sein, empfanden die Jungs ihn ebenfalls als lustigen Onkel, der sie allerdings nie wirklich erzogen hatte.
Was ihrer Liebe allerdings keinen Abbruch tat, dachte ich als ich mich von ihm löste und er seine Söhne in den Arm nahm, die im Türrahmen aufgetaucht waren. Die Matratzen ließen sie achtlos neben Edward liegen, der sich mit strenger Miene leicht verbeugte. „Willkommen zu Hause Mr. Jackson."
Dieser beachtete ihn nicht wirklich und konzentrierte sich auf seine Kinder, die ihm beide gleichzeitig zu erzählen versuchten, was sich in den letzten Monaten alles ereignet hatte.
Es war witzig zu beobachten, wie die beiden Jungs, die fast schon so hochgewachsen waren wie ihr Vater, versuchten seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wie zwei kleine Kinder.
„Okay, das reicht jetzt.", sagte Lucas schließlich und legte beiden die Hände auf den Kopf, woraufhin sie sofort verstummten und ihn aus denselben großen Augen anstarrten. Eine der wenigen Erziehungsmethoden, die er entwickelt hatte, um sie ruhigzustellen, da sie vor allem in jungen Jahren sehr wild gewesen waren. Damals hatte er zwei Tüten Gummibärchen in die Hände genommen und immer, wenn er ihnen die Hände auf den Kopf gelegt hatte, hatten sie gewusst, dass sie gleich etwas Süßes bekommen würden, wenn sie ruhig waren.
Ich lächelte, denn es funktionierte immer noch, selbst ohne Süßigkeiten.
„Wir werden gleich über alles reden, was ihr mir zu sagen habt, aber erst begrüße ich meine beiden anderen Mädchen."
Anni und Mary standen schon neben mir und strahlten über ihr ganzes Gesicht, als er sie nacheinander in den Arm nahm. Inzwischen war sein eleganter Anzug, ganz zerknittert von den vielen Umarmungen. Doch obwohl er ein gutaussehender und stilbewusster Mann war, interessierte es ihn erschreckend wenig, was mit seinen Klamotten oder etwas anderem in seinem Besitz passierte.
Generell war er nicht sehr materiell veranlagt, obwohl er reich war. Im Gegenteil, ich war überzeugt er würde auch auf der Straße leben können und alles was er bräuchte, wäre einfach menschliche Gesellschaft.
Er schaute uns alle nacheinander an. „Wie schön euch alle zusammenzusehen, in den letzten Jahren kam das viel zu selten vor." Sein Blick blieb an mir hängen. „Es tut mir leid, dass du so lange in diesem schrecklichen Internat leben musstest."
Ich winkte ab. „Schnee von gestern, jetzt bin ich ja wieder hier."
Er lächelte, wobei sich kleine Fältchen um seine Augen bildeten. „Also!" Er klatschte in die Hände und setzte sich an den Tisch. „Ich fange an zu essen und ihr erzählt mir, was die letzten Monate los war. JJ du hast das Wort."
Und so erzählte ihm JJ von einer neuen Art von ätzender Mixtur, die er entdeckt hatte. Paul erzählte von den neusten Gigs, von seiner Beziehung mit Anni und ihrer Trennung. Mr. Jackson kommentierte das bloß mit erhobenen Augenbrauen, ganz der Vater seines Sohnes.
Mary erzählte von Sina und von dem Streit. Angeblich ginge es darum, dass Sinas Eltern wollten, dass sie wieder bei ihnen einzog und Sina zog es in Betracht, was Mary sehr verletzte und auch wütend machte, da Sinas Eltern bisher nichts als unausstehlich dem jungen Pärchen gegenüber gewesen waren.
Lucas nickte, kaute sein belegtes Brötchen fertig und sagte dann: „Ich verstehe wie du dich fühlst. Meine Eltern haben die Beziehung zu Sara auch nicht gut gefunden und als sie schwanger wurde, wollten sie, dass sie die Zwillinge abtreibt. Klingt schrecklich ich weiß, aber du darfst nicht vergessen, dass Eltern auch nur Menschen sind und Fehler machen, die sie letztendlich bitter bereuen."
Mary zog die Augenbrauen zusammen. Es war sehr selten sie wütend zu erleben. „Sie haben nicht nur einen Fehler gemacht, sie haben ihre Tochter ausgestoßen und das nur wegen ihrer sexuellen Orientierung."
Lucas nickte und nahm Marys Hand in seine. „Und du hast alles Recht der Welt wütend zu sein und du musst auch nicht begeistert sein von der Entscheidung, die sie trifft, aber letztendlich sind das ihre Eltern. Sich von seiner Familie endgültig zu trennen ist schmerzvoll, egal wie tief sie einen verletzt und vielleicht muss sie das nochmal erleben, um endgültig von ihnen wegzukommen. Vielleicht aber, haben ihre Eltern diese Zeit gebraucht, um zu merken, wie sehr sie ihr Kind lieben, egal was passiert und das ist ihre Chance ihre Familie wiederzubekommen. Und wenn das der Fall ist, willst wirklich zwischen ihnen stehen?"
Marys Unterlippe bebte und sie sah weg. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie schwer diese Situation für sie sein musste.
„Mary, ich weiß du bist eine warmherzige und einfühlsame Person und genau das braucht Sina gerade. Manchmal ist es nicht fair, wie viel Verantwortung wir aufgebürdet bekommen, aber das ist es, was Lieben bedeutet."
Mary sah ihn aus großen Augen an und stand dann auf. „Ich muss sie anrufen.", sagte sie knapp.
Ich sah ihr etwas traurig nach. In letzter Zeit war sie fast nur noch mit Sina unterwegs und obwohl ich mich für sie freute, vermisste ich sie auch. Sie war die einzige Person, mit der ich über Shakirs Tod und was ich für Alan empfand hätte reden können. Auch wenn Anni meine beste Freundin war, sie war auch nicht sehr empathisch. Ich konnte ihr alles erzählen, aber Mary half mir darüber hinwegzukommen, was mir auf dem Herzen lag. Jetzt war allerdings sie dran in uns verständnisvolle Freunde zu haben und ich war froh für sie da sein zu können, auch wenn sie mir fehlte.
Als nächstes erzählte Anni von einer Modellagentur, die sie über Instagram angeschrieben hatte und davon, dass sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich zusagen sollte.
Schließlich war ich an der Reihe und erzählte Lucas von Alan. Natürlich nicht alles, aber genug, dass er verstand, was ich für ihn empfand.
Lucas lehnte sich zurück und sah mich prüfend an. „Klingt für mich, als wäre er von dir gar nicht so unberührt, wie er dich glauben lässt."
Ich schnaubte. „Aber sicher."
„Diese Verlobung, nimmt sie überhaupt irgendjemand ernst?"
Ich dachte an Laylas böse Blicke. „Oh ja, seine Verlobte ist wie eine Furie."
Zustimmend nickten meine Freunde.
„Also, wenn du mich fragst, solltest du nicht aufgeben. Auch wenn die Situation kompliziert scheint, solltest du ihm sagen, was du empfindest."
„Aber was bringt es mir, außer einer zweiten peinlichen Abfuhr."
Lucas hielt inne und schien nachzudenken, als er sich an die anderen wandte. „Was haltet ihr von ihm?"
Paul zuckte mit den Schultern. „Nichts Besonderes."
JJs Augen strahlten. „Er ist richtig cool und stark."
Anni seufzte. „Und so verdammt heiß.", fügte sie hinzu.
„Tatsächlich? Habt ihr ein Bild?", fragte Lucas neugierig.
Ich verdrehte die Augen. „Nei-"
„Natürlich.", fiel Anni mir ins Wort.
„Wie bitte?", wollte ich ungläubig wissen.
„Was dachtest du denn? Du kennst mich doch." Anni zog ihr Handy aus der Hosentasche tippte etwas rum und hielt es uns dann hin.
Alle beugten sich über das überraschend gute Bild.
Es war Alan im Café, während er am Tisch saß und über irgendetwas lächelte. Den Kopf leicht zur Seite gedreht. Seine Augen funkelten vergnügt. Das Bild fing zwar nicht voll ein, wie er aussah, doch genug, um zu zeigen, dass er wahrscheinlich das schönste Wesen dieser Welt war. Seine schwarzen Locken fielen wild, doch nie unästhetisch in sein Gesicht, seine ausdrucksvollen Augenbrauen hoben sich leicht über die mit dunkeln, langen Wimpern bestickten Augen. Auch sein kräftiges Kinn und seine Wangen waren gut auf dem Bild zu sehen, sowie sein kräftiger Oberkörper. Ich musste staunen, obwohl ich ihn jeden Tag sah. Seine Schönheit war nichts woran man sich gewöhnen konnte.
Lucas blies geräuschvoll die Luft aus seinen Lungen. „Wow. Ich muss gestehen ich habe mich immer für gut aussendend gehalten, aber er hat dieses Wort gerade neu definiert." Er beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. „Sag schon, was genau hat er sich machen lassen und wer ist sein Chirurg?"
Ich lachte. „Niemand, so sieht er eben aus."
Er wandte sich mir zu, die Augen weit aufgerissen. „Ist das überhaupt möglich? Weißt du wie viele Leute für diese Lippen töten würden? Oder diese Nase, die Haut, einfach alles. Er ist das Idealbild."
Ich zuckte mit den Schultern. Ich verstand zwar was er meinte, aber die Zeit, in der ich in Alan nur ein hübsches Gesicht gesehen hatte, war vorbei. Es war faszinierend wie viel wir auf Schönheit gaben, dabei war Schönheit nur eine Sache des Moments, sie war so vergänglich, so eine kleine, unbedeutende Freude. Und maßlos überbewertet, denn letztendlich veränderte sie sich, sobald wir die Person kennenlernten.
Was jemanden wirklich schön machte, war nicht die Haut über dem wohlgeformten Schädel, sondern die Seele, die sie in den Augen besaß. Und es gab zahlreiche Sprüche, die eben das besagten, um das Selbstbewusstsein von Menschen wiederherzustellen, doch das zeigte nur, dass man sich Gedanken darüber machen sollte, wie man aussah.
Man sagte jeder ist irgendwo hübsch, doch letztendlich war es egal. Es war egal, so egal, denn es sagte nichts über jemanden aus, ob die Haut rein war oder nicht.
Niemand wird durch die Körpergröße oder die Länge der Haare definiert.
Niemandes Wert wird über die Masse an Muskeln gemessen.
Niemandes Leben wird besser, wenn die Nase kleiner ist oder die Lippen voller.
Man sagte hübsche Menschen sollen es einfacher im Leben haben, doch das war nicht mehr als eine weitere oberflächliche Betrachtung von Außenstehenden. Ein freier Drink und eine bisschen mehr Aufmerksamkeit von Menschen machten das Leben nicht besser. Es änderte nichts an schweren Schicksaalschlägen, wie dem Tod von Geliebten, es schützte nicht vor Gefangenschaft, vor Hass, vor der Einsamkeit.
Leute würden töten, um seine Lippen zu haben? Das war einfach nur traurig, denn wenn ich etwas von Alan wollen würde, wären es nicht die Lippen, sondern die Worte, die sie verließen. Nicht die Locken, sondern, das intelligente Gehirn, dass sich unter ihnen verbarg. Nicht die Größe seiner Augen, sondern ihre Leidenschaft. Die Dinge, die wirklich zählten, die die wirklich wertvoll waren, die bleiben würden, wenn seine Haare ergrauten, seine Lippen trocken wurden und seine Augen erloschen.
„Er ist nicht nur ein Bild.", erwiderte ich also. „Und er ist auch nicht sein Körper. Er ist seine Art zu denken, er ist seine Gefühle und er ist seine Vergangenheit. Nichts davon werdet ihr jemals auf diesem lächerlichen Bild sehen können."
Alle vier sahen mich mit großen Augen an. Genauso wenig wie ich hatten sie wohl erwartet, dass ich so reagieren würde. Eine Hand legte sich von hinten auf meine Schulter.
„Sehe ich genauso.", sagte Mary bekräftigend.
„Ist ja gut." Anni nahm beleidigt ihr Handy zurück.
„Lösch es.", befahl ich. Alan wäre bestimmt nicht damit einverstanden, wenn sein Bild jedem in der Schule zugeschickt wurde.
Anni sah mich an mit der Absicht zu protestieren, ließ es dann aber und löschte gehorsam das Bild.
Ich lächelte. „Gut, dann reden wir jetzt doch mal über JJs Liebesbrief." Um von mir abzulenken natürlich.
JJ hatte nicht vorgehabt seinem Vater davon zu erzählen und lief knallrot an. Doch so sehr er sich auch weigerte, am Ende musste er von Lola erzählen und den Brief laut vorlesen. Er war nicht sehr widerstandsfähig.
Er faltete ihn auseinander und räusperte sich.
„Lieber JJ. Ich habe endlich eingesehen, dass dein Bruder mich niemals wollen wird und ich bin zu dem Entschluss gekommen ihn loszulassen. Ich habe mich so lange auf ihn fixiert, dass ich nicht gemerkt habe, wie viel Spaß ich mit dir im Chemiekurs hatte. Du bist sehr witzig und schlau und ein cooler Kumpel. Ich weiß ein Liebesbrief ist irgendwie dumm, vor allem an Valentinstag, aber hättest du Lust mal mit mir auszugehen? Ja, nein, vielleicht. Deine Lola."
„Das ist ja niedlich.", sagte Lucas und strich seinem Sohn durch die roten Haare. „Lola...Ist das nicht die Drummerin in deiner Band, Paul?"
Paul nickte.
„Die fand ich schon immer nett, du solltest es mit ihr versuchen."
JJ schluckte geräuschvoll, den Blick immer noch auf den Brief fixiert. „Aber ich habe so etwas noch nie gemacht.", sagte er mit piepsiger Stimme.
„Dann wird es höchste Zeit.", meinte Anni und Paul nickte zustimmend. Die beiden hatten angefangen zu daten, da waren sie in der Grundschule. Doch sie hatten recht.
„Ich finde auch du solltest dich trauen.", stimmte ich zu und Mary setzte sich neben ihn, um ihn zu umarmen. „Wir werden schon für dich da sein."
JJ nickte entschlossen. „In Ordnung."
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