35. Eine ungerechte Welt


So you think you can stone me and spit in my eye?

So you think you can love me and leave me to die?

Oh, baby, can't do this to me, baby!

Just gotta get out, just gotta get right outta here!

-Queen „Bohemian Rhapsody"

Das letzte Wochenende der Ferien verbrachte ich traditionell mit meinen Freunden im Strandhaus von Mr. Jackson. Wir hatten dort, bevor ich ins Internat gekommen war, immer unser eigenes kleines Silvester gefeiert und dieses Jahr konnte ich endlich wieder dabei sein.

Mary, Anni und ich betraten das große Gebäude aus Holz, das abseits von der Stadt und dem beliebten Teil des Strandes lag.

Die Jungs kamen uns in Badeshorts entgegen. „Los beeilt euch, es ist Zeit für das Silvesterbad."

Grinsend zogen wir uns aus, bis wir nur noch in Bikinis dastanden und folgten den Jungs nach draußen in das kalte Meereswasser. In den letzten Tagen waren die Temperaturen stark gesunken, sodass sogar ich angefangen hatte beim Training mit Alan zu frieren, weshalb er es auf das Stehen im Wasser beschränkt hatte.

Wir tauchten alle gleichzeitig ein und staunten nicht schlecht, als wir eine sechste Person im Wasser bemerkten. Es war Sina, Marys Freundin.

Sie lächelte schüchtern in die Runde.

„Sina was machst du hier?", rief Mary überrascht aus.

„Ich habe sie eingeladen", sagte Paul lächelnd. „Schließlich ist sie ja jetzt ein Teil unserer Gang."

„Dann muss sie aber auch ordentlich eingeweiht werden!" Anni stürzte sich auf das arme Mädchen, um sie Unterwasser zu drücken.

„Nein, warte!", rief Mary und versuchte Sina aus Annis Griff zu befreien. Sie schaffte es und stellte sich schützend vor sie. „Tut mir leid Sina, die sind verrückt."

Überrascht bemerkte ich ihre roten Wangen und die weit aufgerissenen Augen. Es war der sonst so ruhigen, pragmatischen Mary offenbar sehr wichtig, was Sina von uns dachte.

Ich streckte dem verschreckten Mädchen die Hand hin. „Mein Name ist Angela", stellte ich mich vor.

Sina nahm meine Hand schüchtern entgegen. „Ich weiß, Mary redet viel von dir."

Wie aus einem Mund fragten Paul und Anni: „Und von mir?" Sie lehnten sich beide mit den Ellenbogen an meine Schultern und starrten Sina neugierig an.

„Von euch auch", antwortete sie lächelnd.

„Okay das dürfte dann wohl reichen", streng sah uns Mary nacheinander an und zog Sina aus dem Wasser zurück in die Villa.

„Wow, wusste gar nicht, dass die so einen krassen Beschützerinstinkt hat", JJ stand mit verschränkten Armen in seiner neonpinken Badehose und neongrünen Taucherbrille auf den Augen neben mir.

Ich schüttelte den Kopf. „JJ manchmal macht mich dein Kleidungsstil fertig."

Anni nickte zustimmend. „Ja, habe ich ihm auch schon gesagt. Und er sollte anfangen zu trainieren."

Stolz richtete JJ seinen von Sommersprossen übersäten, dünnen Körper auf und grinste. „Ich dachte, du willst meinen Bruder vögeln und nicht mich."

Ich prustete los, Anni viel der Kinnladen auf den Meeresgrund und Paul ging auf seinen Bruder los. Eine Rauferei entstand, bei der ich für einen Moment Angst hatte, dass JJ nicht überleben würde.

„Leute! Wir müssen noch zur Boje schwimmen. Also hört auf damit und bewegt euch", rief ich und versuchte die beiden auseinander zu bekommen.

JJs Taucherbrille hing ihm mittlerweile am Ohr und ich war mir sicher, dass Paul Bissspuren auf seinen Schultern hatte.

Ob Alan sich auch so mit seinen Geschwistern prügelte?

Sagt die eine Wand zur anderen Wand: „Wir treffen uns an der Ecke!"

Das war der heutige Witz gewesen, den er mir geschickt hatte. Ein heftiges Gefühl der Unzufriedenheit überkam mich, denn ich wollte, dass er bei mir war, sowie Sina bei Mary war.

Wir schwammen zusammen los bis zur Boje und wieder zurück. Als wir wieder am Strand ankamen, waren meine Freunde halb erfroren und ich zitterte leicht.

„Darum habe ich dich schon immer beneidet", gestand JJ, der praktisch ein klappender Knochenhaufen im Handtuch war.

Ich lachte. „Komm her, ich halte dich warm", sanft zog ihn an mich und umwickelte uns beide noch mit meinem Handtuch, dann umarmte ich ihn und wir setzten uns auf ein Riesenkissen im Wohnzimmer der Villa.

„Besser?"

Er lehnte sich an mich. „Besser."

Mary und Sina hatten sich bereits trockene Sachen angezogen und saßen eng aneinander gekuschelt auf dem Sofa.

Paul setzte sich in einen Sessel und beäugte heimlich Anni, die sich auf eines der großen Kissen setzte. Er hatte JJs Kommentar von vorhin wohl noch nicht vergessen.

„Er kommt manchmal in mein Labor und redet ewig lang über sie. Meistens erwähnt er noch deinen oder Marys Namen, damit ich keinen Verdacht schöpfe. So ein Idiot, ich kennen ihn seit der ersten Sekunde meines Lebens und er denkt immer noch, er kann etwas vor mir verheimlichen", flüsterte JJ mir zu.

Ich grinste. „Es ist schon fast niedlich, wie naiv die beiden sind."

Paul stand auf, ging zum Kamin und machte ein Feuer, dann flüsterte er Anni etwas zu und zusammen verschwanden sie in der Küche.

Überrascht richteten JJ und ich uns auf. „Was die wohl da drin machen?", fragte JJ und ich zuckte mit den Schultern. „Finden wir es doch raus."

Wir waren kaum aufgestanden, als Mary sagte: „Denkt nicht mal daran. Das ist deren Sache und ihr habt kein Recht euch in ihr Beziehungsleben einzumischen."

Schuldbewusst sahen JJ und ich uns an. Sie hatte ja recht. Leider.

„Ich gehe mich umziehen", verkündete JJ schließlich und ich schloss mich ihm an.

Er ging in sein Zimmer und ich in eines der Gästezimmer, das ich mir mit Anni teilen sollte. Fertig umgezogen trafen wir uns wieder an der Treppe und gingen ins Wohnzimmer. Dort verteilten Anni und Paul gerade Tassen, gefüllt mit heißer Schokolade und Schlagsahne. Wir setzten uns dazu. Inzwischen hatten alle ihre Pyjamas oder gemütliche Haussachen an. In einem Kreis sitzend unterhielten wir uns. Erst fragten wir Mary und Sina aus.

Laut ihnen waren sie schon ein halbes Jahr zusammen und Mary hatte Angst gehabt, wie wir das aufnehmen würden, woraufhin Anni meinte: „Ist doch scheißegal, ich verstehe sowieso nicht, was es da nicht zu akzeptieren gibt. Ihr könnt lieben, wen ihr wollt und solange ihr glücklich seid, hat keiner das Recht euch im Weg zu stehen."

Sina lächelte sie warm an. „Das ist wahr, nur leider sieht das nicht jeder so." Wir alle nickten. Die Prügelei an Silvester würde keiner von uns so schnell vergessen.

Sina sah Mary unsicher an, die ihr aufmunternd zunickte. Ein trauriger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Meine Eltern haben es nicht so gut aufgenommen. Sie haben lange Zeit behauptet, es sei eine Phase und das ich da rauswachsen würde. Inzwischen haben sie wohl eingesehen, dass das nicht der Fall ist. Seit ich mit Mary zusammen bin haben sie angefangen mich zu ignorieren. Sie denken, es ist falsch, dass meine Denkweise verdreht ist und dass ich geistig krank bin", sie hielt kurz inne und blinzelte heftig. Dann holte sie zittrig Luft. „Vor ein paar Monaten kam meine Mutter abends in mein Zimmer und setzte sich an mein Bett. Sie hat mich unter Tränen angefleht zur Vernunft zu kommen. Sie sagte, entweder ich zog am Tag meines achtzehnten Geburtstages aus oder ich heiratete einen Mann so früh wie möglich." Eine Träne lief ihr über die Wange, die Mary ihr sanft wegstrich.

„Und? Was ist dann passiert? Bist du schon achtzehn?", fragte Anni.

Sina nickte. „An Silvester war mein Geburtstag. Ich lebe jetzt bei Mary, ihre Eltern waren sehr zuvorkommend."

Mary nickte zustimmend.

Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass es eine Art Privileg war Eltern zu haben, die ihre Kinder akzeptierten und ihnen das beste wünschten. Sollte das nicht selbstverständlich sein? An Sinas Stelle hätte Mary stehen können und Tausende andere Personen standen tatsächlich dort, wo Sina stand oder schlimmer. Ihre Liebe wurde als schlecht angesehen und verboten nur weil es engstirnige Menschen voller Hass gab.

Betroffenes Schweigen breitete sich aus und Galle stieg in mir hoch. Ich konnte es nicht fassen, nicht verstehen.

JJ legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. „Es nützt nichts sich darüber aufzuregen, dass es Idioten auf dieser Welt gibt. Sei du einfach froh, dass dein Blick nicht getrübt ist von Hass und Angst und dass du weitersehen kannst, als deine Nasenspitze."

Ich nickte und beobachtete, wie Mary Sina immer wieder sanft über die Schulter strich.

Sie bemerkte meinen Blick und lächelte mir zu. „Weißt du, an dem Tag, als ich mich geoutet habe wollte ich keine Geheimnisse vor euch haben und ich verfluche mich selbst dafür, dass ich es euch nicht früher gesagt habe. Ich wusste eigentlich von Anfang an, dass ihr euch nicht darum kümmert, was ich bin", sie zwinkerte mir verschwörerisch zu.

Ihre Worte trafen mich genau an der richtigen Stelle. Sie hat unglaublichen Mut gezeigt und das würde ich auch. „Du hast recht", ich blickte in die Runde, alle erwiderten erwartungsvoll meinen Blick. Ich atmete tief ein ... und hielt inne. Ich konnte ihnen mein kleines Geheimnis nur mit Alans Erlaubnis verraten.

Ich stand auf mit den Worten: „Bin gleich wieder da", und verzog mich schnell in den Flur, wo ich Alan anrief.

„Wer ist da?", hörte ich ihn genervt fragen. Er klang erschöpft.

„Ich bin es Angela."

„Ich kenne keine Angela."

Ich verdrehte die Augen. „Dann eben Arina. Ich bin es Arina."

„Hm...Ja da klingelt was bei mir. Was gibt's?"

„Ich muss dich etwas Wichtiges fragen."

„Dann mach schnell. Ich bin müde."

Nervös strich ich mir durch die Haare. „Bitte werde nicht sauer."

„Bin ich schon, also sag jetzt oder ich lege auf."

Ja, ich hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. In letzter Zeit war er überhaupt, noch reizbarer als sonst und seine Stimmungsschwankungen hatten deutlich zugenommen. „Ich will meinen Freunden sagen, was ich...du, was wir sind."

„Tu, was du nicht lassen kannst."

Ich hörte Rascheln im Hintergrund. „Echt? Du hast kein Problem damit?" Das Rascheln wurde lauter. „Was machst du da eigentlich?"

„Mich ausziehen. Bereit für den Telefonsex Arina?", sagte er trocken.

Hitze schoss mir ins Gesicht. „Alan!"

Er seufzte und das Rascheln hörte auf. „Ich kann dich nicht daran hindern, sag es von mir aus der ganzen Insel, aber ich warne dich, wird einer deiner Freunde auftauchen, um meiner Familie zu schaden, dann ist er tot."

Ich schluckte schwer. Das Würgen, dann dieses Messer, dieses Geräusch, als es in ihren Brustkorb eindrang, das Blut, Ilirians hasserfüllter Blick. Ein sich immer wiederholender Albtraum. „O-Okay", flüsterte ich.

„Gut." Stille. „Hör mal, das klang fies, deine Freunde sind höchstwahrscheinlich keine ogri. Sie werden meistens ihr ganzes Leben lang für die Jagd auf Feen trainiert und du hättest es gemerkt, wenn einer von deinen Freunden so eine Schulung durchgemacht hätte. Sei bitte einfach nur vorsichtig."

„Okay", antwortete ich wieder. „Dann gute Nacht."

„Gute Nacht Arina." 

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