56. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩
Aus den geheimen Forschungsunterlagen von Ilargia
*Jace*
Die kommenden zwei Tage erholte sich Kathe immer weiter. Es machte ihn schier wahnsinnig, dass sie nicht im Bett blieb und stattdessen – neugierig wie sie war – alles über das Rudel erfahren wollte. Alles erfahren wollte, das mit ihm zusammenhing. Und Josi unterstützte das mit großer Freude.
„Und das ist unser Essensraum. Ein wenig kleiner, als der von Iluna. Und hier fehlt eindeutig die weibliche Hand." Nach langem drängen zeigte sie ihr heute das Haus. Jace war nicht einverstanden gewesen, doch das kümmerte beide nicht. „Du siehst, dass hier einiges an Arbeit auf mich wartet."
„Aber es ist schön hier. Wohnen die anderen Rudel auch alle unter einem Dach?"
„Das ist ganz unterschiedlich. Einige Rudel haben so große Gebiete, dass jeder sein eigenes Haus hat. Wie in einer kleinen Stadt. Andere fühlen sich der Natur sehr verbunden und wohnen in Zelten. Es gibt sogar ein Rudel, dass in Baumhäusern lebt."
„In Baumhäusern? Wie Robin Hood?"
„Wer?"
„Das reicht jetzt." Er löste sich aus dem Türrahmen. „Du solltest dich noch ein wenig ausruhen Kathe."
„Aber ich habe noch gar nichts von draußen gesehen!"
„Und das wirst du auch nicht." Sein Blick bohrte sich entschieden in Josi. „Das ist zu gefährlich."
„Er hat Recht. Es ist besser, wenn man dich nicht sieht."
„Ich dachte, ihr habt eure Grenzposten verstärkt?"
„Und dennoch sind sie irgendwie über die Grenze gekommen. Der Felspass ist sehr unübersichtlich. Das nutzen sie aus. Aber Claus weiß vermutlich, dass ihr hier seid. Der Gynophag auch. Wir müssen vorsichtig sein."
„Der Gyno-was?" Kathe sah von Josi zu ihm. Auch Josis Blick schoss zu ihm.
„Du hast es ihr nicht gesagt?"
„Es spielt keine Rolle. Er wird ihr nie wieder zu nahe kommen."
„Wer?", mischte sich Kathe ein. „Der Ausgestoßene, der mich ins Wasser geworfen hat?"
„Genau der. Und jetzt geht es zurück aufs Zimmer." Jace bedeutete ihr den Raum zu verlassen, doch sie rührte sich nicht.
„Was ist ein Gynofak?"
„Ein Gynophag liebt Mädchenfleisch." Eric stand grinsend in der Tür, den Blick auf Kathe fixiert. „Deiner soll gern ausgiebig mit ihnen spielen, bevor er sie verspeist."
„Noch einen Ton, und du darfst deine Zunge verspeisen!", knurrte Jace. Eric verzog sich grinsend, doch es war bereits zu spät.
„Er isst sie?" Kathe war blass geworden. „Wie in ‚Rotkäppchen'?"
„Das ist eine Lüge!", empörte sich Josi. „Er hat sie nicht gegessen! Das haben sich Jäger ausgedacht, um den Mord an ihm zu rechtfertigen und die Angst vor Werwölfen zu schüren!"
„WAS?" Josi holte schon Luft, um zu einer Erklärung anzusetzen, da hob Kathe die Hand: „Moment! Eins nach dem anderen. Wollte mich der Typ wirklich essen?"
Diesmal antwortete Josi nicht und sah betreten auf den Fußboden. Ja, es gab Monster unter ihnen. Genau wie unter den Menschen.
Jace erwiderte Kathes Blick und sie schluckte hart. „Okay. Das ist widerlich."
„Und es verstößt gegen den Kodex. Deshalb wurde er ausgestoßen. Ich habe es zu spät erkannt, weil ich mir die Narbe nicht genauer angesehen habe. Aber er wird dir nie wieder zu nahe kommen Kathlyn! Das verspreche ich dir!"
„Was hat seine Narbe damit zu tun?"
„Die Narbe gibt Aufschluss über ihr Vergehen. So wissen andere Wölfe, wofür sie ausgestoßen wurden.", erklärte Josi.
„Was bedeutet die Narbe am Hals, die der Ausgestoßene mit den roten Haaren hatte?"
„Das er ein Verräter ist und eigentlich den Tod verdient hätte." Jace wäre es lieber gewesen, wenn Kathe diese Dinge nicht wüsste. Doch nun war es nicht mehr zu ändern. Und sie war nicht dumm. Das hatte sie oft genug bewiesen.
„Seine Narbe hat mich ehrlich gesagt an Caleb erinnert.", sprach sie aus was Jace geahnt hatte.
„Sie soll auch dasselbe bedeuten."
„Aber Caleb ist nicht ausgestoßen?"
„Nein. Eine Paria-Narbe kann nur von einem Alpha zugefügt werden, der selbst den Kodex einhält. Zum einen stammt Calebs Narbe von Nero. Zum andern hält sich Claus nicht an den Kodex und kann niemanden ausschließen."
„Trotzdem haben sie ihn damit gezeichnet.", zischte Josi wütend. „Als wäre er ein Verräter."
„Und was hat es mit Rotkäppchen auf sich?", wollte Kathe nun wissen. „Ich dachte, das wäre nur ein Märchen."
„Nein. Euer ‚Rotkäppchen' ist die Verunglimpfung einer sehr romanischen Liebesgeschichte zwischen einem Menschenmädchen und einem Werwolf. Ihr richtiger Name wurde nicht überliefert. Man weiß nur noch, dass sie einen roten Kapuzenumhang trug, als sie angeblich verschwand."
Kathe lachte ungläubig auf. „Soll das heißen, sie hat wirklich gelebt?"
„Das hat sie. Sie war die Tochter eines reichen Kaufmannes. Und sie verliebte sich in einen Werwolf. Aber ihre Liebesgeschichte nahm kein gutes Ende. Als ihr Vater erfuhr, wer und was er war, schickte er sie zu ihrer Großmutter. Dann rief er die Venandi und ließ ihren Geliebten heimtückisch ermorden. Das Mädchen wurde direkt in ein Kloster gesperrt, in dem sie sich vor lauter Kummer das Leben nahm." Josi schüttelte missbilligend den Kopf. „Danach wurde allen jungen Mädchen erzählt, der böse Wolf hätte das arme Rotkäppchen gefressen. So sollte sichergestellt werden, dass sich die Geschichte nicht wiederholte. Und natürlich wurden die guten Jäger als Helden gefeiert – bis heute. Nur, dass der Jäger in der neuzeitlichen Geschichte das Rotkäppchen noch vor dem bösen Wolf retten kann."
„Ich verstehe." Kathe warf ihm einen undurchdringlichen Blick zu und verkniff sich nur mühsam ein grinsen.
„Ende der Gute-Nacht-Geschichte.", kommentierte er und bedeutete ihr abermals, den Raum zu verlassen. „Und jetzt geht es ins Bett."
„In der Geschichte die ich kenne liegt der Wolf im Bett, nicht das Rotkäppchen.", erwiderte Kathlyn amüsiert, spazierte aber dennoch an ihm vorbei.
„Mir gefällt die Jäger-Variante am besten, in der sich Rotkäppchen nackt zum Wolf ins Bett legt.", gab er zurück und Kathe blieb abrupt stehen und sah ihn entsetzt an.
„Das sollte die armen, züchtigen Mädchen wohl so sehr schockieren und abschrecken, dass sie sich nie zu dem bösen Wolf ins Bett wagen.", bestätigte Josi grinsend. „Ich werde mal schauen wo Caleb steckt. Ich muss mich nämlich noch über Eric beschweren. Bisher hat er mir nicht erlaubt, diesen Idioten abzusetzen. Bis dann!"
„Und solche Geschichten erzählt man kleinen Kindern.", murmelte Kathe und lief weiter.
„Wie fühlst du dich?", wechselte er das Thema und beobachtete jeden ihrer Schritte. Er konnte keine Anzeichen mehr für Fieber oder Kreislaufprobleme entdecken.
„Mir geht es gut. Deshalb verstehe ich ehrlich gesagt nicht, dass du mich ins Bett stecken willst."
„Ich wollte morgen zu Iluna zurück. Deshalb möchte ich, dass du dich noch etwas ausruhst." Abermals zuckte ihr Blick zu ihm, doch dann nickte sie. Sie konnten nicht ewig hier bleiben. Schon gar nicht in der Nähe Deorums. „Ich muss wissen, ob du dich für diese Reise bereit fühlst."
„Warum sollte ich mich nicht bereit fühlen?"
„Weil wir über mehrere Stunden unterwegs sein werden. Und dir tat schon alles weh, als wir nur zum See unterwegs waren." Er ignorierte den Wachtposten und hielt ihr die Tür zu seinem alten Zimmer auf.
„'Nur zum See'. Dass kannst du mir nicht ernsthaft vorhalten!" Hoch erhobenen Hauptes spazierte sie hinein, verschränkte die Arme und sah zu wie er die Tür schloss. „Ich war auf diesen Ausritt nicht vorbereitet gewesen Jace und du hast auch nicht erwähnt, wie lange wir unterwegs wären. Du hast mich einfach entführt!"
„Ich wollte dich überraschen." Er verkniff sich ein schmunzeln.
„Das ist dir gelungen. Wenigstens warnst du mich diesmal vor. Dann kann ich mich darauf einstellen."
„Eine Garde von Caleb wird uns begleiten. Deshalb werde ich ein normales Tempo einschlagen müssen, wodurch sich die Reise verlängert." Sie zuckte die Schultern, als würde es keine Rolle spielen. Doch er war sich nicht so sicher. „Du könntest dich trotzdem schwer verletzen, wenn du unterwegs herunterfällst, weil du noch nicht richtig gesund bist."
Diesmal verdrehte sie demonstrativ die Augen und er konnte dem Drang nicht widerstehen, sie an sich zu ziehen. „Es geht mir gut Jace! Wenn ich eine Pause brauche, kann ich das auch einfach sagen."
„Das will ich hoffen! Wenn du verletzt bist, kann ich dich nämlich nicht zu deinen Eltern bringen."
„Zu meinen Eltern?" Erstaunt sah sie zu ihm auf. Dann verschloss sich ihr Gesicht und wurde ernst. „Was ist passiert?"
„Nichts.", entgegnete er verwirrt. Er hatte mit einer anderen Reaktion gerechnet.
„Und wieso hast du deine Meinung dann geändert?" Kathe rückte misstrauisch von ihm ab.
„Ich habe gesagt, dass du die Stadt nicht betreten wirst, solange wir nicht wissen was nach Fristende passiert. Inzwischen kennen wir die Folgen und können das Risiko einschätzen. Calebs Garde und einige Männer aus Iluna werden uns Rückendeckung geben."
„Dann kehren wir morgen nicht zuerst in die Wolfshöhle zurück ..."
„Sondern nach Ilargia. Wir werden ankommen, kurz bevor dein Vater nach Hause kommt. Ich werde dich in dein Zimmer bringen und dort auf dich warten. Du wirst deine Eltern wissen lassen, dass du noch lebst. Du wirst nicht erwähnen, dass ich anwesend bin. Du wirst nicht erwähnen, wer ich bin. Nichts über Beth und Martin. Nichts über die Wolfshöhle oder das Rudel, hast du verstanden? Du wirst –" Weiter kam er nicht, da Kathe ihn stürmisch umarmte.
„Danke!", murmelte sie und drückte ihr Gesicht glücklich gegen seine Brust. Er legte seine Arme um sie und hoffte, dass er diese Entscheidung nicht noch bereuen würde.
Die Rückreise verlief wie gehofft ohne Zwischenfälle. Zweimal legten sie eine Pause ein, weil er bemerkte, dass Kathes Griff lockerer wurde. Es verlangte ihr einiges ab, sich so lange auf ihm zu halten. Noch dazu bei dieser Kälte und in Anziehsachen, die nicht ihre eigenen waren. Doch sie beklagte sich nicht. Er sah die Hoffnung in ihren Augen. Die Vorfreude. Und so sehr er sie verstand, so sehr störte es ihn auch.
Schließlich und endlich erreichten sie den Waldrand vor Ilargia. Kein erneuter Angriff von Ausgestoßenen, keine Verfolger. Einzig die Wölfe von Iluna erwarteten sie bereits – unter ihnen auch Alec und Colin.
Jace ließ Kathe herunter, die dankbar ihre steifen Glieder streckte, und verschwand hinter ein paar Bäumen, um seine Gestalt zu ändern und sich anzuziehen. Gleichzeitig brauchte er den Abstand, um sich auf die kommenden Stunden einzustellen. Kathes glückliches Strahlen war da keine Hilfe.
„Sie wird schon wieder mit Heim kommen." Alec klopfte ihm beschwichtigend auf die Schultern. „Ansonsten wissen wir doch, wo sie wohnt."
„Sehr witzig.", gab er zurück, bevor er seine Litanei an Themen herunterbetete, die Kathe nicht anzusprechen, zu erwähnen oder zu beantworten hatte.
„Du bleibst im Haus! Niemand sonst darf dich sehen!", schloss er ab und war dankbar, dass sie nicht wieder die Augen verdrehte. Stattdessen wippte sie ungeduldig mit dem Fuß.
„Ich weiß Jace. Du hast es gestern Abend ein paar Mal erwähnt. Und heute Morgen auch. Bitte, können wir jetzt los?"
Alec biss sich auf die Lippe und grinste, alle anderen verkniffen sich ein Schmunzeln. Jace spürte, dass er es nicht länger hinauszögern konnte. Nicht, wenn er nicht wollte, dass sie allein nach Ilargia spazierte. Also nickte er lediglich.
Sie kamen nicht ungesehen zu ihrem Haus. Doch da Kathe eine Kapuze trug und ihr Gesicht verbarg blieb sie unerkannt. Man rechnete ohnehin nicht mit ihr.
Jace sprang an der Fassade hoch und öffnete ihr Fenster, wie er es schon einmal getan hatte. Dann kletterte er ins Haus und zog Kathe hinein, die von Colin hochgehoben wurde. Der verschwand um eine Ecke und behielt die Straße im Auge, während Jace das Fenster schloss.
„So bist du also damals in mein Zimmer gekommen. Und ich habe beinahe einen Herzinfarkt gekriegt!" Neugierig sah sie sich in ihrem alten Zimmer um, wobei ihr Blick immer wieder zur Tür glitt.
„Erst wenn beide da sind!", erinnerte er sie streng und sie seufzte und ließ sich aufs Bett fallen.
„Sie haben nichts verändert.", stellte sie fest, bevor sie wieder aufsprang und zu ihrem Kleiderschrank ging. „Macht es dir etwas aus, wenn ich mich umziehe? Meine Sachen passen wenigstens."
„Mach nur." Jace verschränkte grinsend die Arme und lehnte sich ans Fenster.
„Sehr witzig! Dreh dich gefälligst um!"
Er verkniff sich den Kommentar, dass er schon alles gesehen hatte, und gehorchte. Er musste sie ja nicht darauf hinweisen, dass die Fensterscheibe ihr Zimmer spiegelte. Er brauchte sich nur in den richtigen Winkel stellen.
„Was glaubst du, wie sie reagieren werden?" Kathe streifte ihr Oberteil ab und kramte einen weißen BH aus einer Schublade.
„Sie werden überrascht sein. Schließlich halten sie dich für tot." Interessiert beobachtete er, wie sie ihm den Rücken zudrehte und den BH austauschte. Dann warf sie ihm einen prüfenden Blick zu, bevor sie ihre Hose auszog. Sein Mund wurde trocken und er zwang sich aus dem Fenster zu sehen. Als er kurz darauf erneut ihre Spiegelung betrachtete, trug sie ein passendes weißes Höschen.
„Wie lange bleiben wir?"
Nicht sehr lange, wenn du so weitermachst mein Mondstrahl., dachte er und räusperte sich. „Er kommt. Du solltest dich beeilen." Zumindest wüsste er, was er ihr heute Abend definitiv ausziehen würde.
„Danke für die Warnung.", erwiderte sie und kurz fragte er sich, ob er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte. Dann wurde unten die Haustür aufgeschlossen und sie hörten gedämpfte Stimmen aus der Diele.
Kathe öffnete leise die Zimmertür und er zwang sich, sich auf ihre Eltern zu konzentrieren. Sätze drangen an sein Ohr, verstörende Worte, die er nicht so recht begreifen konnte. Und bevor sie einen Sinn ergaben, war Kathe aus ihrem Zimmer verschwunden.
Er fing sie auf der Treppe ab. Bevor sie sich versah, hatte er ihr seine Hand auf den Mund gepresst und sie zurückgezogen. Ihre Eltern waren in der Küche, nur wenige Stufen entfernt, doch sie hörten Kathes Protest nicht. Dafür waren sie zu sehr in ihre Unterhaltung vertieft.
Und Kathe hörte auf sich zu wehren, als ihre Mutter schrill wiederholte: „Was soll das heißen, Beth ist tot?"
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Ich weiß, böser Cut...
Wer kennt die oben erwähnte Rotkäppchen-Variante eigentlich noch? (Nope, nicht ausgedacht!!!) Und wie findet ihr meine Interpretation?
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