54. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩
*Kathlyn*
Mein Körper zitterte unkontrolliert, unaufhaltsam, war zu nichts anderem fähig. Kälte, nichts als Kälte. Ein Gefängnis aus Eis. Ich war zu schwach, mich zuzudecken. Zu schwach die Augen zu öffnen. Mein Körper gehorchte mir nicht. Er trieb auf einem Meer aus eisigem Wasser dahin. Es schaukelte mich sanft hin und her, lullte mich in trügerische Geborgenheit, bis mich die Dunkelheit erneut verschluckte.
Als ich das nächste Mal zu mir kam, fühlte ich mich kraftlos und schlapp. Als erstes registrierte ich, dass ich auf Jace' Bettseite lag, denn neben mir war das Fenster. Ich konnte mich kaum bewegen, so schwer lastete die Bettdecke auf mir. Und mir war heiß. Ich spürte wie sich Schweißtropfen zwischen meinen Brüsten sammelten. Mein Mund fühlte sich ausgetrocknet und pelzig an. Da entdeckte ich die Karaffe mit Wasser auf dem Nachtschrank.
Mühsam setzte ich mich auf und schlug etliche Decken und sogar Felle zurück, die über mir ausgebreitet waren. Doch meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Wasser. Erst als ich zwei Gläser geleert hatte wurde mir schlagartig bewusst, dass das nicht unser Schlafzimmer war. (Zum einen fehlte die Terrassentür, zum anderen war die Möblierung komplett anders und das Zimmer war viel kleiner. Da war auch kein Durchgang, sondern rechter Hand befand sich eine geschlossene Tür.)
Panik stieg in mir auf und ließ mich die Beine über den Bettrand schwingen. Augenblicklich wurde mir schwindlig. Mein Körper protestierte, wollte mich dazu zwingen mich wieder hinzulegen. Doch das kam nicht in Frage. Stattdessen schwankte ich zum Fenster. Dabei fiel mir auf, dass ich ein leichtes weißes Nachthemd trug. Feine Spitze zierte den V-Förmigen Ausschnitt, der ziemlich gewagt war, und auch den weiten Saum, der mir bis zu den Knien reichte. Ich kannte dieses Nachthemd nicht. Und auch als ich aus dem Fenster sah, kam mir nichts bekannt vor.
Überall war Wald, also befand ich mich noch immer im Territorium der Wölfe. Von dem Gebäude konnte ich nichts erkennen. Wenn ich die Höhe richtig einschätzte, musste ich mich mindestens im ersten Stock befinden. Nur wo? Und wo war Jace?
Die Ereignisse am See kamen mir wieder in den Sinn. Wie schwer verletzt Jace gewesen war. Und ich wollte mir nicht ausmalen, was der Ausgestoßene mit ihm gemacht hatte. Der Gedanke ließ mich frösteln. War ich bei Deorum?
Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, hörte ich Schritte vor der Tür. Die Panik in mir wuchs zu einem Dröhnen an. Meine Augen überflogen das Zimmer und kurzerhand drehte ich mich erneut dem Fenster zu, drehte den Griff und versuchte es zu öffnen. Es klemmte!
„Ich glaube, sie ist wach. Ich habe Geräusche gehört.", sagte eine fremde Stimme direkt vor der Tür und mein Herz setzte einen Moment aus. Natürlich standen Wachen vor der Tür, was hatte ich erwartet? Doch ich würde nicht abwarten, ob der Ausgestoßene, Nero oder Claus nach mir sehen wollten.
Mit aller mir verbliebenen Kraft zog ich am Fenster und fiel beinahe um, als es endlich aufsprang. Eisige Luft schlug mir entgegen, mein Körper protestierte erneut, doch das kümmerte mich für den Moment nicht. Ich hörte die Türklinke und kletterte mit dem Knie aufs Fensterbrett. Meine Finger klammerten sich an den Rahmen.
„Was zum ...", grollte eine tiefe Stimme, während ich mich hochzog und nun im Fenster stand. Ich blickte geradewegs auf den Waldboden, ein paar Meter unter mir. Weit würde ich nicht kommen, denn hier würde ich niemals unbeschadet herunterspringen.
Noch während ich den Rahmen losließ und entschlossen nach vorn kippte, spürte ich einen Arm um meine Taille. Ich wurde unbarmherzig zurück ins Zimmer gezogen. Schreiend, strampelnd und um mich schlagend versuchte ich mich gegen seinen Griff zu wehren, doch er hielt mich ungerührt fest und schloss entschieden das Fenster.
„Das ist schon das zweite Mal, dass du einen Fenstersprung mir vorziehen würdest.", hörte ich ihn sagen und hielt schlagartig inne. Vorsichtig stellte er mich zurück auf die Füße, doch sein Arm hielt mich weiterhin fest.
Ein Beben durchzuckte meinen Körper und Tränen begannen zu fließen. Ich wirbelte herum und fiel Jace schluchzend in die Arme, hüllte mich in seine Körperwärme und atmete tief seinen Duft ein. Er drückte mich an sich und hielt mich fest, bis ich mich gefangen hatte. (Ich klärte ihn natürlich nicht darüber auf, dass es eigentlich das dritte Mal gewesen war, dass ich über einen Fenster-/Balkonsprung nachgedacht hatte.)
Ich spürte, wie er mir einen Kuss auf den Scheitel drückte. „Wir sind bei Vastus. Es ist alles in Ordnung Kathlyn."
„Aber die Ausgestoßenen? Sie haben dich verletzt." Wie vom Blitz getroffen ließ ich ihn los und brachte Abstand zwischen uns. Mein Blick glitt über seinen Torso, doch ich schien keine Wunden aufgerissen zu haben. Zumindest konnte ich kein Blut entdecken und falls ich ihm wehgetan hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Nur die Spuren meiner Fingernägel, mit denen ich mich zur Wehr gesetzt hatte, waren deutlich auf seinem Arm zu sehen.
„Es waren nur ein paar Kratzer. Da warst du eben deutlich bissiger." Jace tat die Wunden auf seinem Arm mit einem Lächeln ab und griff zum Bett.
„Deine ganze Kleidung war voller Blut. Das waren sicher nicht nur Kratzer!", entgegnete ich leise, während er eine Decke aufschüttelte und sie mir behutsam um die Schultern legte. Dabei traf sich unser Blick.
„Es war nicht mein Blut." Obwohl ich darüber erleichtert war, bescherten mir seine Worte eine Gänsehaut. Doch etwas in seinem Blick bat mich, keine weiteren Fragen zu stellen.
„Kathe!", quietschte eine Stimme glücklich und ließ uns beide zur Tür herumfahren. „Endlich bist du wach! Und du hast wieder Farbe im Gesicht."
Josi hielt inne und begutachtete mich und Jace, bevor ihr Blick an seinem zerkratzen Arm hängen blieb. Eine Augenbraue ging deutlich in die Höhe.
„Warum ist sie so rot, Jace?" Schlagartig spürte ich, wie meine Wangen glühten. Jace musterte mich und mir wurde noch heißer.
„Sie hat Fieber." Er deutete auf das Bett. „Am besten du legst dich wieder hin."
„Du willst ihr doch nur im Bett Gesellschaft leisten." Caleb lehnte im Türrahmen und lächelte mir zu. „Schön dich zu sehen, Kleines."
„Sie muss unbedingt etwas essen und trinken!", wandte sich Josi an ihn. Er nickte und sprach mit jemanden, den ich nicht sehen konnte. Jace hatte die Bettdecke zurückgeschlagen und sah mich abwartend an. Mir wurde all das gerade ein wenig zu viel.
„Das ist alles ganz lieb von euch, aber ich möchte zuallererst duschen." Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was alles in meinen Haaren herumkrabbelte oder wie ich roch.
„Nicht allein!", protestierte Josi sofort. Der Blick, den Jace mir nun zuwarf, ging mir durch Mark und Bein. Plötzlich fühlten sich meine Knie noch wackliger an als vorhin. Doch bevor er den Mund öffnen konnte, hatte Josi ihn beiseitegeschoben. „Ich begleite dich. Wir wollen ja nicht, dass Jace noch woanders Kratzer bekommt."
Ich biss mir verlegen auf die Lippe und auch Jace erwiderte nichts, als sie mich an ihm vorbei bugsierte. Neben dem Bett befand sich eine weitere Tür, die ins Badezimmer führte. Kaum waren wir allein, ließ ich seufzend die Decke fallen und warf einen Blick in den Spiegel. Ich sah furchtbar aus. Blass, mit glühenden Wangen, wirren Haaren und glasigen Augen. Ich hörte, wie Josi die Dusche anstellte. Es war ein kleines Bad, ohne Wanne. Ausgestattet mit dem nötigsten.
„Jace hat mir nichts getan. Ich wollte aus dem Fenster springen, als er zur Tür hereinkam. Er hat mich wieder reingezogen und dabei habe ich ihm den Arm zerkratzt.", erklärte ich ein wenig verschämt. Ihre Augenbrauen wanderten diesmal beide in die Höhe.
„Wieso wolltest du aus dem Fenster springen?"
„Ich dachte, ich wäre bei Deorum.", entgegnete ich kleinlaut. Plötzlich kam ich mir unglaublich dumm vor. Doch Josi lachte nur, ließ sich auf den Toilettendeckel fallen und streckte die Beine aus.
„Das hätte ich an deiner Stelle vermutlich auch gedacht.", beschwichtigte sie mich. Ich verschwand hinter der Duschabtrennung und streifte das Nachthemd und die Unterhose ab. „Wir waren zu Tode erschrocken, als Jace mit dir hier ankam. Du warst eiskalt und er ist vor Hitze fast umgekommen. Aber bis zu Iluna wäre es noch weiter gewesen. Das hättet ihr beide nicht durchgehalten."
„Was ist eigentlich passiert? Ich weiß nur noch, dass dieser Typ mich in den See geworfen hat." Vorsichtig trat ich unter den Wasserstrahl und ließ das warme Wasser über meinen Körper rinnen. Es tat unglaublich gut.
„Dieser Feigling! Nur deshalb konnte er entkommen. Wir haben noch versucht ihn zu finden, aber natürlich hatte er die Grenze zu Deorum längst überquert."
„Die anderen Ausgestoßenen sind tot?" Komischerweise empfand ich nichts bei diesem Gedanken.
„Ja." Josi klang auch nicht, als würde sie es bedauern. „Jace hat dich aus dem See geholt und anschließend hierhergebracht. Es hat ewig gedauert, bis du wieder deine normale Temperatur hattest."
Ich runzelte irritiert die Stirn. „Wie lange war ich denn bewusstlos?"
„Zwei Tage."
„WAS?" Beinahe wäre ich ausgerutscht.
„Ist alles in Ordnung?", rief Jace alarmiert durch die Tür. Hoffentlich kam er nicht rein!
„Natürlich. Ich verrate Kathe nur ein paar deiner Geheimnisse."
„Sehr witzig."
„Mach dich lieber nützlich und sag Caleb, dass sie ein frisches Nachthemd und frische Unterwäsche braucht, anstatt zu lauschen. Er soll etwas von mir nehmen." Draußen brummte es mürrisch. Ich kippte mir Shampoo auf die Haare und begann es einzumassieren.
„Kennst du denn ein paar seiner Geheimnisse?", konnte ich mir die Frage nicht verkneifen.
„Allerdings.", gab sie amüsiert zurück. Obwohl ich wusste, wie gut die beiden befreundet waren und dass Josi natürlich wesentlich mehr über ihn wusste als ich, spürte ich einen kleinen Stich in der Brust. Es war bescheuert, dass wusste ich selbst.
Ich spülte das Shampoo aus, wusch mich ein zweites Mal und stellte die Dusche ab. Langsam kam mein Körper an seine Grenzen. Josi hielt mir ein Duschtuch hin und ich wickelte mich ein. Anschließend trat ich auf den flauschigen Läufer, der im Bad lag. Ich war plötzlich unglaublich müde.
„Hast du eigentlich gewusst, dass ihr in Jace' altem Zimmer seid?" Sie schien bemerkt zu haben, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Und ich war ihr dankbar, dass sie mir entgegenkam. „Caleb hat nichts verändert. Niemand durfte dieses Zimmer betreten, seit Jace gegangen ist. Aber verrate es ihm nicht."
Sie nahm ein kleineres Handtuch und begann mir die Haare abzutrocknen. Diese Geste erinnerte mich an meine Mutter, die jetzt wahrscheinlich genau dasselbe getan hätte. Und ihre Worte erinnerten mich daran, dass auch wir beide einige Geheimnisse teilten.
„Er hat mir den See gezeigt, an dem sich seine Eltern kennengelernt haben. Und er hat mir seine Geschichte erzählt.", verriet ich ihr und sie hielt beim Haare trocknen inne. Gerade holte sie Luft, da klopfte es an der Tür.
„Ich lege die Sachen aufs Bett.", hörte ich Jace sagen. „Auf dem Nachtschrank steht etwas zu essen. Hol mich bitte, wenn sie fertig ist."
„Ich kann dich hören.", murrte ich und Josi kicherte.
„Dann beeil dich. Das Essen ist warm."
Josi öffnete die Tür und spähte hinaus. Dann winkte sie mir zu. Wir waren allein. Seufzend ging ich zum Bett und griff nach den frischen Sachen. Diesmal war das Nachthemd zartrosa, mit spitzenbesetzten Spaghettiträgern und Brustbereich. Der Stoff schmiegte sich fast ein wenig zu eng an meinen Körper und betonte jede Kurve.
„Wo sind eigentlich meine Sachen?" Ich könnte mir meinen Pullover draufziehen. Dann käme ich mir wenigstens etwas Angezogener vor. Josi ging zum Kleiderschrank, nahm etwas heraus und warf es mir zu.
„Es tut mir leid. Natürlich hat er dir rausgesucht, was ihm auch an mir gefallen würde. Er glaubt wohl, Jace damit einen Gefallen zu tun." Die Befürchtung hatte ich auch. Kopfschüttelnd faltete ich das große T-Shirt auseinander und zog es mir über. Es reichte mir bis zu den Oberschenkeln, sodass das Nachthemd darunter ganz gut war.
Mein Blick glitt zum Bett, dass ein wenig kleiner war als das in der Festung. Der Rahmen war ebenfalls aus Holz, nur hatte dieses hier ein durchgängiges Kopfteil. Und dieses Kopfteil hatte überall Kratzer, Dellen und war an einer Stelle sogar angebrochen. Wollte ich wissen, wie so etwas zustande kam?
„Los komm, solange deine Suppe noch warm ist." Josi schüttelte mein Kissen auf und positionierte es an dem ramponierten Kopfteil. Ich schüttelte meine Gedanken ab, setzte mich gehorsam ins Bett und ließ mich zudecken. Anschließend bekam ich meinen Teller Suppe und bemerkte, dass ich tatsächlich Hunger hatte.
„Iss langsam. Dein Körper muss sich erst wieder daran gewöhnen." Sie ließ sich neben mir aufs Bett sinken und sah mir eine Weile zu. Die Suppe schmeckte köstlich.
„Ihr ward also am See?", grinste sie dann. Die Neugierde stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Ja. Ich glaube, er vertraut mir langsam ein bisschen mehr."
„Du ahnst nicht, wie sehr ich mich darüber freue. Nach unserem letzten Gespräch hatte ich schon nicht mehr daran geglaubt."
Mir fiel wieder ein, dass wir bei unserem letzten Gespräch aneinandergeraten waren als sie erfuhr, dass ich ihr altes Zimmer wollte. Sollte ich ihr die Gründe dafür verraten? Aber ich wusste nicht, ob Jace damit einverstanden wäre.
„Hat er dir auch von seinen Eltern erzählt?" Ich nickte. Ihre Miene hellte sich noch weiter auf. „Vielleicht verstehst du ihn jetzt auch ein wenig besser. Er hatte es nicht leicht. Schon als Kind nicht. Deshalb finde ich es umso bemerkenswerter, wie er sich entwickelt hat."
„Ja, da hast du recht." Ich stellte den leeren Teller auf den Nachtschrank. Ich war pappsatt und müde. „Ich bin froh, dass er nicht so ist, wie sein Onkel ihn haben wollte."
„Am Anfang hatte ich bedenken als er Alpha wurde, weißt du. Ich war mir nicht sicher, ob ihm die Verantwortung über Ilargia so guttun würde. Ob ihn das nicht wieder aufwühlen würde. Aber er hat trotzdem alles dafür getan, die Menschen dort zu beschützen. Er hat den Hass seines Onkels nicht übernommen. Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte. Doch ich denke, dass du bei seiner Entscheidung eine ganz entscheidende Rolle gespielt hast."
Ich starrte Josi an, während es in meinem Kopf unaufhörlich ratterte. Mir fiel ein wie Josi erwähnt hatte, dass eine Hauptaufgabe von Beth und Martin darin bestand Jace im Auge zu behalten, wenn er zu Besuch war. Oder wie er partout nicht wollte, dass die Menschen aus Ilargia wussten, wer er war.
Mir fiel wieder ein, wie Eric mich beschuldigt hatte eine Jägerin zu sein, oder mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wie er mich ‚Jägermädchen' genannt hatte und wie misstrauisch er war, weil ich aus Ilargia kam. Mir fiel der mysteriöse Vorfall vor 16 Jahren ein, der für eine Verschärfung der Gesetze gesorgt hatte. Wie Jace reagiert hatte, als es um diesen Vorfall ging. Und plötzlich ergaben die ganzen Puzzleteile ein furchtbares Bild.
Was für eine Panik wäre wohl ausgebrochen, wenn auch die Bürger Ilargias die Zusammenhänge erkannt hätten? Wenn sie wüssten, dass einige von ihnen die Mutter des jetzigen Alphas ermordet hatten?
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Liebe Leseeule_38, du hast es kommen sehen ... Hat noch jemand einen Zusammenhang vermutet?
Und ein Tipp, was das 'Rätsel' vom letzten Kapitel angeht. Das Wort - im Zusammenhang mit Kathe - lautet "unser". Kleines Wort, große Bedeutung ...
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