Kapitel 135
Y/n:
Ich hörte wie Kyoka Wein in ein Glass goss und kurz danach eine Zigarette anzündete, bevor sie sich zu mir auf den Balkon setzte.
Der Ausblick war einfach wunderschön.
Während sich mein Zuhause ein wenig Abseits vom Zentrum Tokio's befand, lebte meine beste Freundin im achten Stock eines Hochauses mittendrin und hatte jeden Tag durch ihren winzigen Balkon neben ihrem Zimmer eine atemberaubende Sicht über die riesigen Häuser und Straßen. Es fühlte sich an, als wären wir in New York, meiner Lieblingsstadt in der USA, weswegen ich es so gerne bei ihr mochte. Und das obwohl ihr Zimmer so aussah, als hätte eine Bandgroup von zehn Jungs darin gehaust.
Überall waren Plakate von jeder Musikband, mindestens drei Gitarren, Skateboards, ein Minikühlschrank, eine alte Ledercouch und daneben noch Kyoka's Königsphyton Daisy. Netter Name für ein Haustier, welches sicherlich liebend gerne ihr Herrchen verschlingen würde. Zumindest war das mein erster Gedanke, als ich sie gesehen habe. Eigentlich ist sie die friedlichste Schlange, die ich je gesehen habe und Kyoka's Instragram Profil ist voll von ihr.
Ich roch den Geruch von Tabak, als Kyoka eine Rauchwolke ausstieß und sich gegen das Gitter des Balkons lehnte.
Ihr Blick deutete klar darauf hin, dass sie nicht über Ibara's und ihre Beziehung reden wollte, jedoch wusste sie genauso sehr wie ich, dass wir darüber sprechen mussten. Sie starrte auf die Aussicht Tokio's und ich folgte ihrem Blick.
"Kyoka?", fragte ich sanft, doch sie antwortete nicht. Als ich sie anschaute, bemerkte ich wie eine einzelne Träne über ihre Wange rollte.
Ich schluckte. "Du weißt hoffentlich, dass ich nicht wütend auf dich bin, oder jemals auf dich wütend sein werde. Ich möchte, dass du immer offen mit mir reden kannst, ich würde dich nie für etwas verurteilen.", fuhr ich fort und hoffte ihr die Last damit nehmen zu können. Ich war mir nicht genau sicher, was zwischen ihr und Ibara passiert war, doch je mehr ich darüber nachdachte, desto skeptischer wurde ich.
Ich schaute sie geduldig an und wartete, bis sie sich traute etwas zu sagen.
Nach einigen Sekunden war es soweit.
"Vor etwa einem Jahr bin ich mit Ibara zusammengekommen."
Mein Magen zog sich zusammen, doch ich zeigte ihr nicht meine Überraschung.
Verdammt, ein Jahr.
Ich nickte leicht und wartete, bis sie fortfuhr.
Sie zögerte einen Moment und konnte weiterhin keinen Augenkontakt zu mir aufbauen. "Ich habe sie schon länger gekannt, aber nähergekommen bin ich ihr erst vor einem Jahr im Winter. Da gab es ein Winterkonzert, wo ich als Gitarristin gespielt habe. Ich habe dafür vier Monate lang mit meiner Band geprobt, jedoch war ich an dem Abend so nervös gewesen, dass ich meinen ganzen Teil komplett vermasselt habe. Es war ein Desaster." Ihre Lippen zitterten leicht und zum ersten Mal sah ich einen zutiefst verletzten Teil von ihr.
Ich drückte sie leicht an mich und lächelte ihr ermutigend zu.
"Danach ging es mir so schlecht, dass ich auf die Toilette gerannt bin und nur noch weinen konnte. Ich habe so viel Mühe und Aufwand für nichts reingesteckt und ich dachte in dem Moment, dass meine Welt untergeht. Ich weiß das klingt jetzt etwas dramatisch, aber du weißt wie ehrgeizig ich im Thema Musik bin." Sie grinste leicht, was ansteckend auf mich wirkte.
"Irgendwann habe ich gehört, wie sich die Tür öffnete und jemand reinkam - Ibara. Sie hatte bemerkt, dass es mir nicht gut ging und hat mich daraufhin getröstet. Irgendwie hat sie es geschafft, dass ich in meinem allerschlimmsten Moment doch lachen konnte. Ich glaube, das war der Grund, wieso ich mich schon da in sie verliebt hatte."
"Irgendwie hat sie es geschafft, dass ich in meinem allerschlimmsten Moment doch lachen konnte."
Genauso wie Katsuki es bei mir geschafft hatte. Nur wegen ihm bin ich heute die Person, die aus mir geworden ist.
Kyoka's weitete leicht ihre Augen, als sie an die Erinnerungen zurückdachte.
"In den darauffolgenden Wochen haben wir uns immer wieder getroffen und irgendwie ist da etwas zwischen uns entstanden. Ich habe mich noch nie so sehr verstanden wie bei ihr gefühlt.
Immer wenn ich an sie dachte, musste ich lächeln und dann wenn ich sie gesehen habe, wurde mir irgendwann klar, dass ich in sie verliebt war und auf Frauen stand. Sie war meine erste große Liebe."
Wir beide atmeten im gleichen Moment tief ein und aus. Kyoka zog wieder an ihrer Zigarette und hielt den Rauch lange in ihren Lungen, bevor sie ihn wieder ausstieß. Sie schaute mich für einen kurzen Moment an, bevor sie mir diese auch anbot.
Eigentlich wollte ich nicht mehr rauchen, jedoch beschloss ich es für sie trotzdem zu tun und ihr Gesellschaft dabei zu leisten. Ich nahm sie ihr ab und zog ebenfalls daran. Der Nikotinschub sorgte innerhalb von Sekunden dafür, dass ich mich etwas entspannen konnte.
"Rede weiter, ich höre dir zu."
Sie zögerte für einen kurzen Moment, bevor sie weitersprach: "Nach drei Monaten sind wir dann zusammengekommen. Es war eine wunderschöne Beziehung. Natürlich gab es manchmal Streitigkeiten, aber nie welche, die unlösbar für uns waren.
Bis du kamst."
Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie ihren Blick zu mir wandte. "Als du auf unsere Schule gewechselt bist, hatte sie sich komplett verändert. Davor war sie bereits etwas gereizt gewesen, aber dann fühlte es sich an, als wäre die Ibara, die ich kannte, komplett ausgewechselt. Sie hat angefangen Gras zu nehmen, dann wurde sie noch aggressiver, kälter und darauf hat sie dich noch gemobbt. Sie hat sich von mir komplett distanziert und mich einfach von sich gestoßen. Ich habe nicht verstanden, was los war und habe ich erst vor einigen Wochen die Wahrheit erfahren, dass deine Mutter mit ihrem Vater, dem Bürgermeister zusammengekommen war und sie das so sehr belastet hat, weil somit ihre Mutter betrogen wurde und sich ihre Eltern getrennt haben. Sie hat mir erklärt, dass sie diese ganze Schuld auf dich geschoben hat und hat ihr Verhalten damit entschuldigt, doch das ist keine Rechtfertigung. Als ich im Sommer erfahren habe, dass sie dir die Haare abgeschnitten hat und dich davor schon so schlimm behandelt hatte, habe ich endgültig mit ihr Schluss gemacht. Ich konnte sie einfach nicht mehr ansehen und du warst meine Freundin."
Mein Herz schlug wie wild gegen meine Brust. "Wieso hast du mir das nicht schon früher gesagt?"
"Wieso sollte ich? Du hättest sicherlich ohne Grund ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich mich im Endeffekt wegen ihrem grausames Verhalten gegenüber dir von ihr getrennt habe. Aber das war nicht das Ende. Daraufhin wurde sie wahrscheinlich noch wütender und wollte sich dann an dich rächen. Ich meine, das war doch krank, sie hatte dich fast umgebracht! Und dann hat sie sich noch getraut mich ständig nach einer zweiten Chance zu bitten, das ist doch verrückt!" Sie zog wütend ihre Augenbrauen zusammen und zeigte einen Vogel.
"Sie hat einfach versucht dich umzubringen und denkt, dass ich ihr eine zweite..", ich ließ sie nicht ausreden, weil ich bemerkt habe, dass sie kurz davor war, komplett zu eskalieren.
"Kyoka."
"Was?!" Sie starrte mich wütend an, doch ihre Augen waren glasig und in ihren Pupillen spiegelte sich eine deutliche Verzweiflung ab.
Ich erwiderte ruhig ihren Blick und fragte langsam, aber fest: "Liebst du sie?"
Sie wirkte verwirrt über diese plötzliche Frage, bevor sie antwortete: "Wie kannst du nur denken, dass ich sie liebe?! Ich hasse sie!"
"Ich weiß, dass du sie immernoch liebst. Sonst würdest du nicht so über diese Situation reagieren."
"Woher entnimmst du dir das Recht so etwas über mich zu wissen?", wollte sie in einem scharfen Ton wissen, doch ich behielt meine Fassung.
"Weil das mit meiner Mutter genauso war. Ich habe immer behauptet, dass ich sie hasse, aber das Einzige, was ich hasste, war der Fakt, dass ich sie immernoch liebte und nicht damit aufhören konnte. Ich hasste meine Liebe zu ihr und das tust du mit Ibara auch, denn genauso habe ich mich auch verhalten." Meine Worte brachten das Fass zum Überlaufen. Kyoka starrte mich für eine Sekunde lang unfassbar schockiert an, ehe die ersten Tränen über ihre Wange liefen und dann unzählige weitere folgten.
Ich riss sie sofort in eine Umarmung und drückte die fest an mich.
"Scheiße.", schluchzte sie mit zitternder Stimme. "Ich habe es wirklich versucht Y/n. Wirklich. Ich habe sie blockiert, kein Wort mit ihr gewechselt, sie nicht mal in der Schule angesehen, aber jedes Mal, wenn ich Abends im Bett liege, muss ich immernoch an sie denken. Jedes verdammte Mal. Ich stelle mir immer wieder vor, dass sie sich irgendwann verändert, dass all das nicht passiert ist und dass sie eine gute Person ist. Aber das ist sie nicht. Und ich hasse mich dafür, dass ich sie nicht dafür hassen kann." Ihre Stimme brach ab und sie vergrub ihr Gesicht in meiner Schulter.
Kyoka tat mir von ganzen Herzen leid. Wie lange musste sie schon diese Last mir sich tragen und hat darunter gelitten? Wie lange hat sie schon darüber nachgedacht, es mir zu erzählen, hat sich aber dann doch umentschieden?
"Und dann, als wir erfahren haben, dass Momo mit Shoto was hat, ist mir der Kragen geplatzt. Während ich nie wieder auch nur daran gedacht habe ihr zu vergeben, weil sie dir das angetan hatte, macht diese Schlampe mit deinem Ex rum! Ich könnte sie erwürgen!"
"Kyoka, hör auf! Hör mir zu!" Ich hielt sie an ihren Schultern, sodass sie mich anschauen musste und sagte in einem festen Ton: "Ich bin weder auf dich, noch auf sie wütend. Du sollst nicht dein Leben wegen mir umkrempeln! Ich möchte das nicht! Wenn du sie liebst und sie dich liebt, dann geht es nur um euch zwei und das gilt genauso für Momo und Shoto. Sie hat das bestimmt nicht getan, um mir was damit auszuwischen und da bin ich mir sicher! Ich will, dass du glücklich wirst, egal, was du dafür tust! Und ich habe Ibara vergeben, weil sie ihre Taten bereut hat, wieso tust du das auch nicht? Vielleicht will sie sich ändern und eine bessere Person werden, aber wenn du ihr nicht einmal eine Möglichkeit gibst, dass sie dir das zeigt, dann wirst du dich doch weiterhin mit diesen Gedanken in den Schlaf quälen. Aber ich möchte nie, dass du dich schlecht wegen mir fühlst. Nie! Denn du bist meine beste Freundin und du hast das beste der Welt verdient." Eine Träne rollte über meine Wange und Kyoka's Pupillen weiteten sich.
"Du bist einfach die beste, Y/n.", stieß sie schwer aus und riss mich in ihre Arme.
Ich erwiederte ihre Umarmung.
"Ich werde darüber nachdenken ihr eine weitere Chance zu geben, versprochen.", sagte sie und lächelte leicht.
"Ich glaube wirklich, dass sie es verdient hat.", meinte ich und erwiderte ihr Lächeln.
Kyoka schaute mich für einen Moment lang schweigend an und schien über etwas nachzudenken. "Y/n, darf ich dich etwas fragen?"
"Natürlich." Jedoch bekam ich durch ihren unsicheren Gesichtsausdruck ein mulmiges Gefühl im Magen.
"Ich wollte dir diese Frage nicht stellen, weil ich dachte, dass du nicht darüber reden willst und das denke ich immernoch, aber ich muss es wissen. Ich.. ich hoffe wirklich, dass das, was Ibara einmal ausversehen rausgerutscht ist nicht stimmt und sie nur Gerüchte verbreiten wollte. Weil einmal hat sie mal was von dir erwähnt und.."
"Sag es jetzt.", drängte ich, hatte aber eine leichte Vermutung.
"Hast du dich selbst verletzt?"
Mein Herz blieb stehen.
Die Worte hingen zwischen uns wie eine Mauer, die zu zerbrechen drohte.
Ich musste an die schrecklichen Momente zurückdenken und sofort spürte ich meine verheilten Narben pulsieren. Ich schnappte nach Luft.
Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder ich leugnete es, oder..
"Ja."
Das einzige, was in der Stille zu hören war, waren die vorbeifahrenden Autos und deren Hupen. Kyoka's Mundlade klappte leicht nach unten, ehe sie schwer schluckte und sich ihr Adamsapfel deutlich mitbewegte.
"Y/n, ich.. scheiße wie konnte ich das nur nicht bemerkt haben?" Ihre Lippen bebten und in ihren Augen war nichts als Schock abgespiegelt.
"Weil ich es nicht wollte. Niemand wusste es, außer Katsuki. Und das nur durch Zufall."
"Aber.. du wusstest doch, dass du dich mir hättest anvertrauen können. Ich wäre immer für dich da gewesen."
Jetzt war ich es, die wegschauen musste.
"Ich weiß, aber ich konnte nicht darüber reden. Denn immer wenn ich es getan habe, war ich nicht in dieser Realität. Es war meine Realität. Wenn ich darüber geredet hätte, hätte ich zugelassen, dass sich diese Welten vermischen und hätte erst so richtig verstanden, was ich da getan habe. Natürlich wusste ich wie schlimm das war, aber ich wollte es nicht einsehen. Ich.. ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben."
"Ich glaube, dass ich es verstehe. Irgendwie.", erwiderte Kyoka und lächelte leicht. "Genauso war es, bevor ich mich geoutet habe. Am Anfang habe ich es niemandem erzählt, weil ich es selber kaum glauben konnte, bis ich es dann doch getan habe. Aber geht es dir jetzt gut?"
"Ja, Gott sei Dank! Natürlich gibt es immernoch schlechte Tage, aber ich weiß wie ich damit umgehen kann. Ich habe ja dich." Ich grinste, welches meine beste Freundin kurz darauf erwiderte, bevor wir uns nochmal umarmten.
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"Auf uns!", sagte sie nach einer Stunde, als wir unseren Weingläser nachfüllten und anstießen. "Die besten Geheimnishüter!", verkündigte ich lachend, ehe wir einige Schlücke davon nahmen.
Wir plauderten noch bis tief in die Nacht und erzählten uns gegenseitig alles, was wir noch nicht voneinander wussten.
Ich würde lügen wenn ich behaupten würde, dass wir nicht noch mindestens drei Mal einen Heulkrampf hatten oder uns zu Tode gelacht haben. Ich erzählte ihr von meinem Vater, von meiner Mutter und sie mir mehr von Ibara bis wirklich alles aufgedeckt war.
Und überraschenderweise fühlte es sich erstaunlich gut an. Während wir die wunderschöne Stadt betrachteten, bekam ich immer wieder das Gefühl, näher an mein unbekanntes Ziel angekommen zu sein.
Doch irgendetwas fehlte. Aber es ging dabei nicht nur um mich.
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