Kapitel 127


Y/n:

Es sind genau acht Tage nach meinem schlimmsten Moment im Leben vergangen.

An diesem Tag ist mir alles widerfahren, was mir widerfahren konnte.
Ich habe Geheimnisse erfahren, die ich nicht hätte erfahren sollen, wurde von meiner Mutter angegriffen, wurde fast von Ibara umgebracht und vor der ganzen Schule bloßgestellt und ich habe mich wieder selbst verletzt.

An diesem Tag wollte ich sterben. Mehr als alles andere. Und doch war ich jetzt hier, habe meinen Flug nach San Francisco storniert und stand vor dem Schulhaus. Mein Leben hat in der letzten Woche so sehr verändert, dass ich es vor einigen Monaten nie geglaubt hätte.

Katsuki hat mich dazu gebracht nicht in die USA zu fliegen und ich durfte sicherheitshalber die letzten Tage bei ihm schlafen. Seine Eltern haben mich sehr liebevoll willkommen geheißen und ich habe sie gleich lieben gelernt. Während Ibara für die nächsten vier Wochen von der Schule auf Grund ihrer Taten suspendiert wurde, durfte ich für den Rest der Woche zuhause bleiben. Ich hatte keine Ahnung, was meine Mutter trieb, da sie sich kein einziges Mal bei mir gemeldet hat, obwohl sie von der ganzen Geschichte mit Ibara bereits informiert wurde. Aber ich nahm es als gutes Zeichen auf, dass sie untertauchte und hoffte nur, dass sie nicht ihren Mordversuch an Mr. Shiozaki durchziehen würde. Was mit meinem Vater war, wusste ich nicht, aber ich habe beschlossen meiner Mutter einem Zeitraum von zwei Monaten zu geben, um die ganze Sache mit der falschen Anschuldigung zu regeln.

Fuck, du denkst schon wieder zu viel nach. Ich atmete tief ein und aus und mein Körper blieb wie angewurzelt vor dem Schulhaus stehen. Auf einmal wurde mein Kopf von so vielen Erinnerungen überschwemmt und die Luft fühlte sich plötzlich stickig an.

Ich hasste immer noch Tokio.
Es hat mein ganzes Leben umgekrempelt und alles auf den Kopf geworfen. Und doch, nach all den schlimmen Dingen, die mir widerfahren sind, stand ich jetzt hier mit einer Person, mit der es sich lohnte, sogar sie Ewigkeit in dieser beschissenen Stadt zu verbringen.

Als ich Katsuki's warme Hand auf meinem Rücken spürte, schaute ich ihm in die Augen und erkannte, dass er meine Nervosität sofort bemerkt hat.
"Hey, es wird alles gut. Du bist sicher."

"Ich weiß." Alles gut. Du bist sicher, Ibara und deine Mutter sind nicht da und Katsuki ist bei dir. Es wird alles gut.

Ich lächelte ihn halbherzig an und strich mir eine verwirrte Strähne von meinem Gesicht zurück. "Ich weiß nur, dass das Gespräch sehr unangenehm sein wird. Sie haben mir nicht gesagt, was sie von mir wollen."

"Du musst nicht mit dem Direktor reden, wenn du es nicht willst. Wahrscheinlich will er nur genauere Sachen über die Vorfall wissen und das war's."

Ich schluckte schwer und nickte. "Du hast Recht, es ist nichts besonderes. Nur ein normales Gespräch."

In selben Moment ging ich los und ignorierte meine aufsteigende Panik. Wieso musste ich noch mehr Details über diesen scheiß Vorfall erzählen? Ich habe ihnen bereits so viel von Ibara's Taten erzählt und für alles gab es auch Beweise, was wollten sie also noch?
Mein Herz began schneller gegen meine Brust zu schlagen und immer wieder muss ich mich daran erinnern weiter ein und aus zu atmen.

Mir wurde immer wärmer, bis wir endlich vor dem Raum von dem Direktor unserer Schule ankammen. Meine Beine blieben wie angwurzelt vor der Tür stehen und ich zögerte kurz zu klopfen.
Es war, wie als würde sich mein ganzer Körper dagegen wiedersetzen.

"Ich kann auch mitkommen.", schlug Katsuki vor, doch ich schüttelte meinen Kopf. 

"Alles gut, ich will das alleine regeln.", entgegnete ich und nahm endlich meinen Mut zusammen und klopfte an der Tür. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich langsame Schritte hörte.

Die dicke Holztür knarzte leise, als sie sich einen Spalt breit öffnete und der Direktor durch sie hindurch mich anschaute. Auf seinem Gesicht konnte man die Besorgtheit förmlich herauslesen.

"Oh hallo Y/n! Schön, dass du gekommen bist! Ist soweit alles in Ordnung bei dir?", erkundigte er sich und lächelte mich leicht an.

Irgendetwas stimmt nicht. Ich musterte ihn kurz und bemerkte sofort die tiefen Falten auf seiner Stirn. Irgendetwas schlimmes ist passiert. Mein Herz rutschte in meine Hose, als ich überfordert nickte und hoffte, dass ich mich irrte.

"Ja, alles gut."

Sein Griff verstärkte sich um die Tür und sie war gerade noch so weit geöffnet, dass ich nur sein Gesicht dadurch sehen konnte. In mir stauten sich einige Fragen auf und das mulmige Gefühl wurde immer größer. 

"Y/n, bevor ich dich für unser Gespräch reinbitte, muss ich noch etwas mit dir klären. Es gibt da nämlich etwas, was du wissen musst.", fing er an und ich biss mir auf die Zähne.

"Wir haben vor kurzem erst einen spontanen Anruf von deiner Mutter bekommen, die uns mitgeteilt hat, dass sie an diesem Gespräch teilhaben will. Davon abgesehen hat sie uns auch erzählt, dass Mr. Shiozaki sich bei ihr gemeldet hat und Ibara das alles leittäte und auch gerne dabei sein würde. Wir hatten leider keine Zeit mehr dich anzurufen, weswegen die drei jetzt hier sind. Wir müssen keinesfalls unser Gespräch unter deren Aufmerksamkeit führen, falls du es nicht möchtest."

Mein Herz blieb für eine Sekunde stehen und ich musste seine Worte zuerst verarbeiten. Mr. Shiozaki, Ibara, meine Mutter. Alle hier in einem Raum.
Ich war kurz davor einzusacken und blinzelte ihn nur an. Sofort stiegen mir wieder die ganzen Erinnerungen in meinen Kopf, wie ich fast an dem Tag gestorben wäre und.. Nein, denk nicht darüber nach.

"Y/n, wie er schon gesagt hat, du musst es nicht tun.", sagte Katsuki und legte eine Hand auf meine Schulter.

Meine Angst wurde immer größer und alles in mir sehnte sich danach einfach wegzulaufen. Ich war nicht bereit mit ihnen zu reden. Und trotzdem musste ich es irgendwann tun. Es war schlussendlich auch meine Mutter. Und Ibara.. Sie konnte mir hier nichts tun.

Ich drehte mich zu Katsuki, der mich besorgt anschaute. "Wenn nicht jetzt, dann nie."

Danach wandte ich mich zu dem Direktor, der mich mit einem geduldigen Gesichtsausdruck anstarrte. "Ja, das ist in Ordnung für mich.", antwortete ich gelassen, während innerlich ein Sturm in mir ausbrach.

"Bist du dir sicher?", hackte er nach und ich nickte.

Gleich darauf öffnete er ganz die Tür und ich trat ohne zu zögern ein. Meine Beine fühlten sich auf eine unnatürliche Weise schwer an, als ich die drei erblickte. Mr. Shiozaki, der mich voller Mitgefühl musterte, Ibara, die einfach nur auf den Boden starrte und meine Mutter. Sie starrte mich auf eine Weise an, die ich nicht in Worten beschreiben konnte. Besorgtheit und Trauer.

Ihre Pupillen weiteten sich im nächsten Moment und sie stand abrupt auf.
"Y/n.", stieß sie leise aus, doch blieb wie
angewurzelt stehen.

Man konnte ihr genau die Unsicherheit ansehen, was mich irritierte. Meine Mutter war nie unsicher. Sie hatte immer über alles das Sagen und sie jetzt so zu sehen.. Erst jetzt bemerkte ich ihre tiefen Augenringe und die leicht zerzausten Haare. Sie war komplett ermüdet und ich fragte mich, ob das wegen mir, oder dem Stress war, den ich ihr verursacht habe. 

Ich schluckte, bevor ich sie fragte: "Woher hast du gewusst, dass ich heute ein Gespräch mit dem Direktor habe?"

Meine Mutter zögerte einen Moment, bevor sie sich wieder hinsetzte und antwortete: "Weil ich das Gespräch arrangiert habe."

Sofort drehte ich mich zum Direktor und starrte ihn schockiert an. Er hat mir eiskalt ins Gesicht gelogen. "Wir waren uns sicher, dass du sonst nicht gekommen wärst. Es tut mir sehr leid, aber dieses Gespräch ist sehr wichtig für uns alle."

Ich ballte meine Hände leicht zu Fäusten und unterdrückte die aufsteigende Wut in mir. "Was wollen Sie noch hören? Wollen Sie, dass ich Euch wieder erkläre, wie ich beinahe umgebracht wurde und das vor ihr?"

Ich zeigte auf Ibara, die abrupt zusammenzuckte. Es kümmerte mich nicht. Ihre verletzenden Worte haben sich bis in meine Knochen eingebrannt und ich habe immer noch Albträume von dem Vorfall. "Du bist nutzlos." "Eine Hure." "Stirb." Y/N RITZT SICH.

Mir wurde Übel.
Als keine Antwort kam, schüttelte ich meinen Kopf und drehte mich um, um zu gehen. "Ich kann das nicht. Tut mir leid."

"Y/n!", hallte es hinter mir nach und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als ich ihre Stimme hörte. Der Boden quietschte leise, als Ibara ihren Stuhl zurückschob und aufstand.

"Es tut mir von ganzem Herzen leid, was ich dir angetan habe. Du hast es in keinster Weise verdient und ich weiß, dass keine Worte, das ganze ungeschehen machen können. Aber bitte gib mir eine Chance, nur eine, damit ich dir zeigen kann, dass es mir wirklich leid tut. Ich.." Ibara stockte und ich sah, wie ihr eine Träne über die Wange rollte. "Ich kann so nicht weiterleben. Ich bin ein schrecklicher Mensch und ich will es nur wieder gut machen. Bitte gib mir noch eine Chance. Ich weiß, dass ich sie nicht verdient habe."

Es war so still, dass man nur noch unseren Atem hören konnte. Ibara konnte kaum den Blickkontakt mit mir halten und doch erkannte ich tiefste Trauer und Reue in ihren Augen. Meint sie das wirklich ernst?

In meinen Erinnerungen spiegelte sie sich als einer der grausamsten Menschen in meinem Leben ab und jetzt.. jetzt sah sie gebrochen aus. Vertrau ihr nicht, das ist doch alles nur eine Lüge. Sie hasst dich von ganzem Herzen, wieso sollte sie denn jetzt Reue verspüren. Aber..

"Bitte.", stieß sie leise aus und setzte sich hin. Mr. Shiozaki legte eine Hand auf ihre Schulter und auf seinem Gesichtsausdruck spiegelte sich eine große Besorgnis ab. 

Ich presste meine Lippen aufeinander und verspürte ein sanftes Ziehen in meinem Magen. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte noch eine weitere Minute hierzubleiben, nickte ich langsam und setzte mich neben meine Mutter. Wusste Mr. Shiozaki von ihrem Plan? Sicherlich nicht, wenn er sich noch traute neben ihr zu sitzen und sie noch auf freiem Fuß war. Es war eine Ironie die beiden nebeneinander sitzen zu sehen.

"Also, wie wir alle wissen ist die letzte Woche ziemlich.. holprig verlaufen.", fing der Direktor stutzig an. Holprig ist ziemlich nett ausgedrückt.

"Y/n, was dir vorgefallen ist, ist unverzeihlich und Ibara wird die Folgen davon tragen. Sie wird bis zum Schuljahresende suspendiert und dann die Schule wechseln müssen."

Mein Herz blieb für eine Sekunde stehen und ich hörte Ibara nach Luft schnappen. Als ich zu ihr blickte, bemerkte ich, wie eine Träne über ihre Wange lief und sie mit leeren Augen auf den Boden blickte.

"Mobbing wird hier nicht geduldet, besonders nicht auf einer Schule für auszubildende Helden.", sprach der Direktor weiter und seine Worte hallten nur noch hohl in meinen Ohren nach.
Ibara wird einfach von der Schule geschmissen. Sie ist einer der besten Schülerinnen auf der Schule und die Tochter des Bürgermeisters und muss trotzdem die Schule wechseln.

In meinem Leben hätte ich nie damit gerechnet. Ich war es nach all den Monaten unfaire Behandlung gewöhnt und hätte gedacht, dass Ibara nur mit einem leichten Klaps auf den Hintern davonkommen würde. Aber das hier..
Als ich Ibara anstarrte, konnte ich mich jedoch nicht freuen. Ich wusste genau, wie sehr sie sich die Mühe gegeben hatte einer der besten Schülerinnen auf der UA zu werden und obwohl sie es mehr als verdiente rausgeschmissen zu werden, spürte ich nichts außer diese Leere in mir.

"Ibara hat aus ihrem Fehler gelernt und wird deswegen einer anderen Heldenschule beitreten." Eine andere Heldenschule? Es gibt keine, die auch nur annähernd an das Niveau von der UA kommen kann.

Ibara's Miene verdüsterte sich im selben Moment und ich war mir sicher, dass sie an so ziemlich das gleiche dachte.
Es gibt nur einen Weg ein professioneller Held zu werden. Und das war die UA. Wenn du nicht dort hingehst, dann wird auch nie was aus dir werden.
Diese Worte habe ich so ziemlich von jeder Person gehört, die ich gefragt habe, warum sie auf so eine anspruchsvolle Schule wie du UA gehen.

"Aber um jetzt über den richtigen Anlass dieses Gesprächs zu reden, möchte ich dir, Y/n, einen Vorschlag machen. Dem Lehrerpersonal ist nämlich schon seit längerem Mobbing und Schickanen an dieser Schule aufgefallen und wir möchten uns ab sofort aktiv dagegen einsetzen. Deshalb wurde in einer Lehrerbesprechung der Vorschlag gemacht, eine Verkündung über das Thema Mobbing zu machen. Es werden Psychologen über die Auswirkungen von Mobbing sprechen und im Anschluss würden wir gerne jemanden mit eigenen Erfahrungen erzählen lassen, wie diese Person darunter zu leiden hatte. Wir sind uns sicher, dass dadurch die Schüler dieser Schule viel aufmerksamer werden und mehr Rücksicht auf sich nehmen werden."

Hätte ich nicht auf einem Stuhl gesessen, wäre ich schon längst zu Boden gesackt.
Verkündung. Mobbingopfer. Vor der ganzen Schule. Meine Haut wurde abrupt von einer Gänsehaut überzogen.

"Y/n, wir würden gerne dich dazu auswählen, am Sommerfest in drei Wochen bei der Verkündung über deine eigenen Erfahrungen zu sprechen, insofern es dich nicht belastet darüber zu reden. Du hast die Möglichkeit den Schülern deine Sicht mitzuteilen und vielerlei Ansichten über dieses heiklen Thema zu verändern. Es gibt viele weitere Jugendliche, die ebenfalls darunter gelitten haben und es immer noch tun und du kannst deine Stimme für sie erheben. Es ist äußerst wichtig und wir würden es verstehen, wenn du.."

"Ich mache es.", fiel ich ihm ins Wort, bevor meine aufsteigende Angst mich davon abhalten konnte "Nein" zu sagen.
Ich will nie wieder meine Stimme vor anderen senken. Egal, was sie von mir halten, ich werde an dieser Verkündung von meinen Erfahrungen erzählen und Leuten eine Stimme geben, die denken ihre bereits verloren zu haben.
Mein Herz klopfte wie wild gegen meine Brust und ich konnte dieses neue Gefühl in mir nicht in Worte fassen. 

Auf dem Gesicht des Direktor bildete sich ein strahlendes Lächeln ab, bevor er in seine Hände klatschte und sagte: "Das freut mich sehr, Y/n! Du weißt nicht, wie wichtig diese Verkündung für das zukünftige Schulklima sein wird."

Ich war mir dem nicht so sicher, aber ein Versuch war es wert. Auf einmal fiel mir jedoch Ibara ein und ich drehte mich zu ihr und fragte: "Ist das aber okay für dich? Ich meine.."

Sie nickte ruckartig und setzte sich ein leichtes Lächeln auf. "Ja, auf jeden Fall. Ich weiß, dass viele wissen, dass ich es war und das sollen sie auch. Meine Taten sind nicht zu entschuldigen und es ist wichtig, dass niemand das gleiche tut, was ich dir angetan habe."

Ihre Stimme brach am Ende des Satzes und mein Atem stockte. Ihr Gesischtsausdruck war so aufrichtig, dass ihre Worte einfach nicht gelogen sein konnten. Es war nicht möglich.
Der ganze Hass und Frust war aus ihren Augen verschwunden und ich konnte nur noch die Trauer darin sehen.

"Danke.", antwortete ich und neigte etwas den Kopf. "Das bedeutet mir viel."

Sie erwiderte meine Geste und zum ersten mal hatte ich das Gefühl, dass wir einen Waffenstillstand geschlossen haben.

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