Durch einen schmalen Spalt zwischen den schweren Vorhängen fiel ein zarter Streifen Sonnenlicht in das Schlafzimmer des mächtigsten Mannes der Welt. Der feine Strahl fiel auf einen Ausschnitt des Wandfreskos und für einen Wimpernschlag bewunderte Vespasian die friedliche Illusion.
Dann bemerkte er ein neues Detail, welches durch das Morgenlicht angestrahlt und hervorgehoben wurde. An der Stelle, an der die Brandung gegen den Strand donnerte, stieg eine kleine Gestalt aus dem Wasser. Geräuschlos trat Vespasian an das Fresko heran und beugte sich vor, um die Zeichnung besser sehen zu können. Es handelte sich um eine Frau. Vespasian tippte aufgrund der Darstellung zunächst auf Venus und wollte den Blick schon abwenden, da fiel ihm ein weiteres Detail auf: Die langen, honigfarbenen Locken der Göttin schimmerten schmerzlich vertraut im Licht der untergehenden Sonne. Ihre Augen funkelten mit den Wellen in ihren Rücken um die Wette und der Wind spielte zärtlich mit ihren Haaren und Kleidern. Es bestand für ihn kein Zweifel. Die Göttin aus dem Meer war Aurelia.
Ein erstickter Laut riss ihn aus seiner stillen Betrachtung des Freskos. Ertappt fuhr er herum und ihm lag schon eine Ausrede auf der Zunge. Doch erst als Aurelias blaue Augen einfach durch ihn hindurch sahen, erinnerte er sich wieder daran, dass er nur ein Geist war. Unmerklich entspannte er sich und versuchte das friedliche Bild vollkommen auf sich wirken zu lassen.
Kichernd saß Aurelia auf der Bettkante, Gaius' starker Arm war um ihre Taille geschlungen. Verschlafen schmiegte ihr Ehemann sein Gesicht an ihren Rücken und sie legte eine Hand auf seinen Arm, so als wäre sie sich nicht mehr sicher, ob sie sich aus seinem Griff lösen oder sich von ihm wieder in ihr warmes Bett ziehen lassen wollte.
„Ich bin mit meinen Freundinnen verabredet", erinnerte sie ihn leise und Gaius gab ein Grunzen von sich. Dann grummelte er etwas in ihren Rücken, das Vespasian nicht verstehen konnte. Im nächsten Moment erfüllte Aurelias glückliches Lachen den Raum. Beleidigt ließ Gaius seine Frau los und funkelte zu ihr durch halb geöffnete Lider auf. Nur mit Mühe konnte Aurelia bei seinem Anblick ihr Gelächter unterdrücken. Entschuldigend strich sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Blitzschnell schlang Gaius seine Arme um ihre Hüften und zog die überrumpelte Aurelia neben sich. Als er den Kopf an ihrem Hals vergrub, schlang Aurelia lachend ihre Arme um ihn und schmiegt sich an ihn.
Im nächsten Augenblick stand Vespasian in einem Tempel, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Überrascht sah er sich um und betrachtete die Bilder und Verzierungen an den Wänden, so als würden seine Erinnerungen dadurch zurückkommen. Aber die Szenen im Inneren des Tempels erzählten Geschichten, die er nicht kannte. Als er nähertrat und versuchte die Bilder besser sehen zu können, verschwammen sie vor seinen Augen, so als würde eine unsichtbare Macht sie vor seinem unwürdigen Blick schützen. Sofort wurde ihm bewusst, dass er an diesem heiligen Ort nicht willkommen war. Bestürzt blickte er sich um und da sah er sie. Wenige Schritte von ihm entfernt stand Aurelia vor einem eleganten Altar in ein Gebet vertieft, ihre dunkelblaue Palla bedeckte ihre honigblonden Haare. Den Saum ihres kostbaren Gewandes schmückten goldenen Stickereien. Trotz allem war ihre gesamte Aufmachung schlicht, beinahe demütig einfach für eine Frau ihrer Stellung. Immerhin war sie nach dem Selbstmord seiner Patronin Antonia unangefochten die erste Frau Roms. Dennoch unterstrich jedes kleine Detail ihren Rang und ihre Schönheit, ohne die Göttin, der sie zweifellos eben ein Opfer dargebracht hatte, zu beleidigen. Trotzdem konnte Vespasian nicht anders als sie voller Bewunderung anzustarren. War sie in seinem Träumen jemals schöner gewesen als in diesem Moment? Kam es ihm nur so vor oder strahlte sie von innen heraus? Ihre Augen leuchteten vor Glück.
Erst als sich Messalina bei ihr unterhakte, nahm er die andere Frau überhaupt wahr. Aufgeschreckt riss Vespasian sich von Aurelias überirdischer Schönheit los und sah sich im Innenraum des Tempels um und blendete bewusst die Kunstwerke aus, um nicht wieder von ihnen abgelenkt zu werden.
Wenige Schritte von den beiden Frauen betrat Gaius' Schwestern Agrippina und Julia in einem Gespräch vertieft. In ihren Händen hielten sie Blumen, die Vespasian im matten Licht kaum erkennen konnte.
Ehe Aurelia mit Messalina den Tempel verlassen konnte, stellten sich ihre Schwägerinnen ihnen beherzt in den Weg und versuchten sie in ein Gespräch zu verwickeln. Während die Frauen plauderten, schaltete Vespasian gedanklich ab.
Plötzlich entzog Aurelia ihrer Freundin sanft ihren Arm und sagte: „Durch den Rauch schmerzt mein Kopf. Ich gehe schnell an die frische Luft. Bitte entschuldigt mich."
„Ich komme gleich nach", versprach Messalina und blickte ihr besorgt nach, als sie ohne Hast den Tempel verließ. Sofort folgte Vespasian ihr. Wenn er noch eine weitere Klatschgeschichte aus Agrippinas Mund über sich ergehen lassen musste, würde auch sein Kopf zu schmerzen beginnen.
Der Anblick verschlug ihm den Atem. Denn hinter den hohen Mauern, die das Tempelgelände vor den neugierigen Blicken der Männerwelt schützte, erstreckte sich ein atemberaubend schöner Garten. Wohin er auch blickte, überall kümmerten sich die Frauen des Senats um die Pflanzen mit einer solch demütigen Hingabe, die Vespasian den meisten von ihnen niemals zugetraut hätte. Aurelia gesellte sich nicht zu ihnen, sondern blieb am Rand des Podiums stehen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln, als sie den Kopf in den Nacken legte und die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht spürte. Dieser Ort schenkte Vespasians gequältem Geist einen Augenblick des Friedens und gerade als er sich bei der Gottheit für diese wohltuende Auszeit bedanken wollte, rief eine wütende Stimme, die er nur zu gut kannte, neben seinem Ohr Aurelias Namen. Erschrocken fuhr er herum und sprang bei Seite, bevor seine Schwägerin Clementina durch ihn hindurchlief. Jegliches Gefühl von Frieden und Geborgenheit verflog.
„Wie konntest du das nur tun?", zischte sie und funkelte Aurelia wütend an. Derart aufgebracht hatte er die Frau seines Bruders noch nie erlebt. Ohne ihre Haltung auch nur ansatzweise zu verändern, gab Aurelia unbeeindruckt zurück: „Kannst du bitte ein wenig genauer werden, welche meiner Tätigkeiten dich nun wieder erzürnt haben."
Clementinas wütendes Fauchen zog die Aufmerksamkeit aller Frauen auf sich und im nächsten Moment umgab sie eine schaulustige Menge. Rasend vor Zorn packte Clementina Aurelias Arm und zerrte sie näher zu sich, sodass Aurelia mit dem Rücken zu den Stufen stand. Widerwillig schlug Aurelia die Augen auf und bedachte die andere Frau mit einem kühlen Blick.
„Spar dir deine schönen Worte und deine Überlegenheit, alte Freundin", sagte Clementina laut. Sofort schossen Aurelias Augenbrauen vor Belustigung in die Höhe. „Dein Mann hat Sabinus und Vespasian im Senat übergangen! Er hätte sie beide für ihre Treue belohnen sollen! Reicht es dir nicht, dass du unsere Familie vor ganz Rom gedemütigt hast? Musst du jetzt wirklich auch noch ihre Karrieren zerstören?"
Wut flackerte bei diesen Worten in Aurelias Augen auf. Vespasians Herz begann zu rasen. Sofort widersprach sie in beruhigendem Ton: „Mein Gemahl ist der Ansicht, dass beide einer solchen Aufgabe noch nicht gewachsen sind."
Clementina lachte hysterisch auf und schrie: „Weil du ihm das eingeflüstert hast! Er vertraut dir, seiner Hure, die er zu seiner Ehefrau erhoben hat, mehr als jedem anderen Menschen auf dieser Welt. Wir wissen alle, wie du ihn um den Finger gewickelt und ihn gegen Vespasian aufgehetzt hast und wir haben dich gewähren lassen. Aber jetzt gehst du zu weit! Du musst deinen Hass auf die Flavier zum Wohle Roms begraben!"
Die umstehenden Frauen murmelten zustimmend. Aurelia ignorierte sie vollkommen und musterte Clementina aufmerksam. Ein drohender Unterton schlich sich in ihre melodische Stimme, als sie fragte: „Erzähle mir nichts vom Wohle Roms, Clementina! Dir bedeutet Rom nichts! Dir geht es nur um dich selbst, weil du es nicht ertragen kannst, dass dein Mann zu Hause bleiben muss, während andere, weit fähigere Männer als er Rom zum Sieg verhelfen werden! Gestern noch hast du mich auf Knien angefleht mich bei meinem Mann für ihn einzusetzen! Aber sag mir eins, wann hast du mir je geholfen? Wo warst du, als ich dich wirklich gebraucht hätte, alte Freundin?"
Als hätte sich seine Schwägerin an ihr verbrannt, ließ sie Aurelias Arm los. Jegliche Farbe wich aus Clemetinas feinem Gesicht und Vespasian konnte beobachten, wie sich ihre Wut in Hass verwandelte. Neue Röte kroch von ihrem Hals zu ihren Wangen hinauf. Gern wäre er zwischen die beiden Frauen getreten. Aber er war noch immer nur ein stummer, körperloser Zuschauer. Denn nun kam Clementina erst so richtig in Fahrt. Sie warf Aurelia all die schrecklichen Dinge an den Kopf, die ihr seit einer Weile auf der Seele gebrannt haben mussten.
Die Frauen des Senats drängten sich hinter ihnen dicht zusammen. Aus dem Augenwinkel nahm Vespasian wahr, wie sich eine Gestalt durch die Menge zu drängen versuchte, aber diese klatschsüchtigen Weiber wollten keinen Augenblick zwischen den ehemaligen Schwägerinnen verpassen und verharrten stur auf ihren Plätzen. Die meisten von ihnen stimmten in Clementinas Beleidigungsflut ein, wovon sie ermutigt immer mehr Grenzen überschritt.
So leise, dass nur Vespasian so hören konnte, flüsterte Aurelia Clementina zu: „Die Flavier werden niemals aufsteigen."
Eiskalte Entschlossenheit flackerte in Clementinas hellbraunen Augen auf. Gerade als Messalina hinter ihr auftauchte, schnellte die Hand seiner Schwägerin nach vorn und stieß Aurelia. Für einen Herzschlag versuchte sie verzweifelt das Gleichgewicht zu bewahren und über Clementinas Schulter hinweg fanden ihre Augen Messalinas. Grob stieß ihre Freundin die Angreiferin zur Seite, mit einem empörten Aufschrei ging Clementina zu Boden. Messalina achtete nicht auf sie und sprang über ihren Körper. Als sie die Hand nach Aurelia ausstreckte, bekam sie ihre Freundin am Schleier zu fassen, der mit einem abscheulichen Kreischen zerriss. Hilflos musste sie mitansehen, wie Aurelia die Balance verlor. Voller Entsetzen beobachtete Vespasian, wie sie die vielen Stufen des Sockels hinunterrollte und reglos auf dem Pfad am Fuße des Tempels liegen blieb.
Tiefes Schweigen legte sich über den Ort. Sein Schrei des Grauens zerriss die Stille und für einen Moment dachte Vespasian wirklich, dass er zum ersten Mal in diesem Traum eine Stimme besaß. Doch dann ging ihm auf, dass er nicht seinen eigenen Schrei hörte. Direkt hinter ihm stand Gaius' Schwester Julia und blickte voller Panik auf ihre Schwägerin herab. Ihr Schrei verwandelte sich in ein Schluchzen. Hilflos blickte sie zu Messalina herüber. Wortlos rannte Messalina die Stufen hinunter und Julia folgte ihrem Beispiel. Vespasian wurde von der grausamen Gottheit von seinem Platz gerissen und stand im nächsten Augenblick neben Aurelia. Kraftlos sank er auf die Knie. Während ihres Sturzes hatte sie sich in einem verzweifelten Versuch sich zu schützen zu einer Kugel zusammengerollt. Dennoch sah ihr Gesicht ziemlich zugerichtet aus. Ihre Arme waren zerschrammt und schützend um ihren Bauch geschlungen. Sie blutete aus mehreren Schnitten und durch den hellen Stoff ihres Kleides sah er die dunklen Flecken, die sich auf ihrer blassen Haut bildeten. Ihre Augen waren geschlossen und fast hätte Vespasian gedacht, sie hätte das Bewusstsein verloren. Doch auf ihrer Stirn lag eine Falte, die sich bei ihr nur bildete, wenn sie sich stark konzentrierte. Hoffnung flatterte in seinem Herzen auf.
Plötzlich tauchten Messalina und Julia an seiner Seite auf. Behutsam nahm Messalina Aurelias Gesicht in ihre Hände und rief ihren Namen. Aurelias Augen flogen auf und bohrten sich in die ihrer Freundin. In ihrem Blick war so viel Schmerz und Angst, dass Vespasians Herz aussetzte. Im nächsten Moment krümmte sie sich.
„Es ist zu spät", brachte sie voller Verzweiflung mühsam hervor. Tränen rannen ihr über die zerkratzten Wangen.
„Hilf mir sie zu tragen!", wies Messalina Julia barsch an.
„In ihrem Zustand sollten wir die Träger rufen!", widersprach Julia ängstlich. Doch Messalina schüttelte ungeduldig den Kopf.
„Dies ist noch immer das Gebiet der Bona Dea", erinnerte sie gehetzt, ohne den Blick von Aurelia abzuwenden. „Wir müssen sie tragen, bis wir sie den Männern übergeben können. Dein Schrei wird sie sicher alarmiert haben. Los jetzt!"
Julia widersprach nicht weiter. Behutsam ergriff sie Aurelias Füße, während Messalina sie bei den Schultern packte. Ein leises Wimmern entfuhr der Verletzten, als ihre Freundinnen sie vorsichtig hochhoben. Der Boden war voller Blut. Viel mehr, als die kleinen Schnitte und Schrammen hergaben.
Agrippina tauchte schwer atmend neben ihnen auf, ignorierte Messalinas bösen Blick und rannte wortlos zum Tor, um es für die drei zu öffnen. Zeitgleich schrie sie nach der Sänfte. Automatisch setzte sich Vespasian in Bewegung und rannte den Frauen hinterher, als ob er sich irgendwie nützlich machen könnte. Als er die Schwelle des Tores überschritt, verschwamm die Szene vor seinen Augen.
Gequält schloss er die Augen und versuchte sich für die Bilder zu wappnen, welche ihm die grausame Göttin als Nächstes zeigen wollte. Dann brach die Bilderflut auch schon über ihm zusammen. Obwohl er sah, wie sich Münder bewegten, hörte er kein einziges Wort. Erneut schirmte ihn die Gottheit von der Welt ab. So beobachtete er, wie Messalina die Vorhänge einer Sänfte zuzog, während Aurelias Kopf in ihrem Schoß lag. Ein Prätorianer, der Schwager seines Bruders, trug die Verletzte durch das Atrium im Haus des Augustus. Erhaben blickten die wächsernen Gesichter von Gaius' Vorfahren auf die Szenerie herab. Überall sah er Blut. Dieser Umstand fiel ihm erst wirklich auf, als Aurelia weinend in ihrem Bett lag und eine junge Sklavin blutige Tücher aus dem Zimmer brachte. Aurelia umklammerte Messalinas Hand so heftig, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Eine alte Sklavin strich ihr mit mitfühlender Miene tröstend eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht und sie schien diese mütterlich wirkende Geste gar nicht wahrzunehmen. Sie war versunken in ihrer kleinen Welt der Trauer. Ihm kamen die Bilder zu schmerzlich vertraut vor und ihm wurde ganz elend zu Mute.
Plötzlich wurde die Zeit langsamer und der Raum um ihn herum verfestigte sich. Er war wieder im Atrium des Hauses des Augustus. Doch nun war es bis auf eine nervös wirkende Julia und die Ahnenmasken vollkommen leer. Die Haustür öffnete sich mit einem leisen Stöhnen. Mit gehetztem Blick und bleichem Gesicht eilte Gaius in sein Haus und steuerte zielstrebig seine kleine Schwester an. Krank vor Sorge wollte er wissen, wie es seiner Frau ginge. Zittrig holte seine Schwester nach Luft und meinte: „Sie lebt, aber..."
Weiter kam sie nicht, denn Gaius lies sie schon stehen und stürmte die Stufen der Treppe hinauf. Mit tränenverschleiertem Blick schaute Julia ihrem Bruder nach. Vespasian machte sich nicht einmal die Mühe ihm zu folgen und tatsächlich war er im nächsten Augenblick im Schlafzimmer des Princeps und beobachtete, wie Gaius die Tür aufriss. Eilig sprang Messalina auf, um ihm Platz zu machen. Sofort war er an Aurelia Seite und schloss sie behutsam in seine Arme. Weinend klammerte sie sich an ihm fest. Sein gesamter Körper war angespannt und während er ihr beruhigend über ihr honigfarbenes Haar strich, funkelten seine Augen vor Zorn und Schmerz.
Das Herz in seiner Brust wurde Vespasian ganz schwer. Wenn er nur einen Weg finden würde, um den Kummer seiner Freunde zu lindern. Aber er konnte noch nicht einmal tröstend das Wort an sie richten. Plötzlich verschwamm das Paar vor seinen Augen und im nächsten Moment befand er sich in Gaius' privatem Arbeitszimmer. Die Augen lodernd vor Wut stand Gaius am Fenster und starrte auf die Ewige Stadt hinunter. Bevor Vespasian sich sammeln konnte, ertönte eine Stimme in seinem Rücken leise fragend: „Du wolltest mich sprechen?"
Langsam wandten sich Gaius und er zu der Sprecherin um. Von den Ereignissen des Tages sichtbar mitgenommen betrat Messalina das Zimmer durch die Seitentür. Über ihre Schulter konnte Vespasian einen Blick auf die schlafende Aurelia erhaschen und in seinem Hals bildete sich bei ihrem Anblick ein Kloß. Noch immer konnte er die Tränen auf ihren Wangen glitzern sehen.
„Ja", bestätigte Gaius mit matter Stimme und gab Vespasian die Kraft, sich von der melancholischen Gestalt seiner Frau zu lösen und sich auf das eigentliche Geschehen vor ihm zu konzentrieren. Mit einem knappen Nicken bedeutete Gaius Messalina sich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch zu setzen, während er seinen gewohnten Arbeitsplatz einnahm. Die Szene erinnerte Vespasian mit einem Schlag nicht mehr an ein normales Gespräch zwischen Verwandten, sondern an eine offizielle salutatio. Bevor er sich darüber weitere Gedanken machen konnte, gab Gaius mit gedämpfter Stimme müde zu: „Ich muss einfach wissen, was genau passiert ist, damit ich schnell die richtige Entscheidung treffen kann. Aber jeder erzählt mir etwas anderes und ausgerechnet sie kann ich gerade nicht um Rat fragen. In den vergangenen Monaten bist du nicht nur ihre engste Freundin geworden, sondern auch die Einzige, der sie vertraut. Deshalb bitte ich dich um ihretwillen: Erzähl mir, was wirklich geschehen ist."
Tief holte Messalina Luft und begann Gaius ihre Version der Ereignisse zu erzählen. Ihre Stimme brach, als sie zugab, dass sie Aurelia nur für einen kurzen Augenblick allein gelassen hatte. Für einen Herzschlag funkelte Wut in seinen Augen auf, doch er schluckte seinen Zorn hinunter, um den Rest der Geschichte hören zu können. Ein Teil von Vespasian hatte erwartet, dass die beiden nach Messalinas Bericht in Schweigen verfallen würden. Stattdessen ergriff Messalina behutsam Gaius' Hand und sagte aufrichtig: „Ich werde mir nie verzeihen können, dass ich nicht mit ihr gegangen bin, und ich bedauere euren Verlust zutiefst. Sie hat schon so viel gelitten. Nichts von alledem hatte sie verdient."
Sprachlos nickte Gaius dankbar und Messalina zog ihre Hand zurück. Instinktiv schaute Gaius zu seiner schlafenden Frau und Vespasian sah seinem Freund an, wie hilflos er sich in diesem Augenblick fühlte.
„Was wirst du nun tun?", wollte Messalina bekümmert wissen. Gaius' Miene verfinsterte sich. Ohne den Blick von seiner Frau abzuwenden, schwieg er nachdenklich und wog seine Worte ab, ehe er ernst erklärte: „Das alles ist nur geschehen, weil ich sie beide nicht mit all den Mitteln beschützt habe, die mir zur Verfügung standen, obwohl genau dies doch meine Pflicht als Ehemann und Vater gewesen war. Jedes einzelne Mitglied der Oberschicht denkt, dass sie sich ungestraft über unsere Traditionen und Gesetze hinwegsetzen und meine Ehefrau angreifen können. Ich werde alles tun, damit sie endlich sicher vor diesen Monstern ist. Solange ich lebe, soll nie wieder jemand wagen ihr auch nur ein Haar zu krümmen!"
Im nächsten Augenblick war Messalina verschwunden. Eine einzelne Öllampe tauchte das schlichte Arbeitszimmer in ihr sanftes Licht. Unermüdlich saß Gaius an seinem Schreibtisch und machte sich Notizen auf seinen Wachstafeln. Erschrocken fuhr er zusammen, als Aurelias Stimme behutsam seinen Namen rief. Ertappt blickte er auf und Vespasian richtete seine Aufmerksamkeit auf die Sprecherin. Klein und verletzlich stand sie auf der Türschwelle und erwiderte unsicher den Blick ihres Gemahls. Langsam trat sie hinter ihn und strich ihm liebevoll über seinen Nacken, während sie über seine Schulter einen Blick auf seine Notizen erhaschte. Unmerklich weiteten sich ihre Augen vor Überraschung. Mit einem Seufzen ergriff Gaius ihre bleiche Hand und hauchte einen federleichten Kuss auf ihren Handrücken.
„Du solltest im Bett liegen und dich ausruhen, mein Herz", raunte er an ihre Haut. Aurelias Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Behutsam beugte sie sich über ihn und ignorierte den Schmerz, der in ihrem protestierenden Körper aufloderte, als sie seinen Scheitel küsste.
„Du auch. Es ist auch dein Verlust. Bitte verkrieche dich nicht in deine Arbeit und schließe mich von deinen Plänen aus", erwiderte sie bestimmt. Erneut seufzte Gaius. Mit einem Ruck stand er auf, drehte sich zu ihr um und nahm vorsichtig ihr Gesicht in seine Hände.
Fragend schaute er ihr tief in die Augen, ehe er wissen wollte, wie schwer sie verletzt war. Mit zittrigen Fingern ließ Aurelia ihr hauchdünnes Nachtgewand an ihrem Körper herabgleiten. Scharf sogen Vespasian und Gaius die Luft ein, als ihnen die Spuren des Unfalls im matten Licht der Öllampe entgegensprangen. Es war Vespasian unbegreiflich, wie sie überhaupt aufrecht stehen konnte. Gaius' Augen füllten sich mit Tränen. Bekümmert legte ihm Aurelia ihre linke Hand auf die Wange und malte unsichtbare Muster auf seine Haut.
„Es tut mir so leid", wisperte Gaius mit erstickter Stimme. „Ich hätte dich beschützen müssen."
Erschrocken schüttelte Aurelia den Kopf, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft. In diesem Moment begann er zu weinen. Als sie sich von ihm löste, wischte sie sacht seine Tränen fort.
„Das alles ist nicht deine Schuld!", widersprach sie eindringlich. „Wenn du jemandem die Schuld geben willst, dann mir. Ich hätte einfach bei dir bleiben sollen."
Protestierend öffnete Gaius den Mund, doch in diesem Augenblick verdrehte Aurelia die Augen und ihre Beine gaben unter ihr nach. Geschockt fing er sie auf und hob sie behutsam hoch. Vorsichtig trug er sie zurück zum Bett und bettete sie auf die weichen Kissen. Flatternd öffneten sich ihre Augen und sie streckte fordernd die Hand nach ihm aus. Bedachtsam legte er sich neben sie und zog sie in seine Arme. Augenblicklich kuschelte sich Aurelia an ihn. Eine Weile versuchte sie in aller Stille seine Nähe zu genießen. Aber Vespasian sah ihr an, dass ein Gedanke sie beschäftigte.
„Ich habe den Arzt sagen hören, dass ich wahrscheinlich keine weiteren Kinder mehr bekommen kann", wisperte sie schließlich und Gaius' Körper spannte sich sofort an.
„Du weißt genau, dass sich wegen der Vermutung eines Arztes zwischen uns nicht ändern wird – selbst wenn sich diese als wahr herausstellen sollte", gab er zurück und küsste besänftigend ihr Haar. Als sie schon zum Weitersprechen ansetzen wollte, erklärte Gaius bestimmt: „Wir haben einen gesunden Sohn. Wir sind bereits gesegnet, meine Liebste. Ich werde dich immer lieben. Bedingungslos."
Als Aurelia den Kopf hob und Gaius verliebt anschaute, erwartete ein Teil von Vespasian, dass sie sich ihm nun trotz ihrer Verletzungen hingeben würde. Denn auf diese Art handelten Caenis und er. Egal wie schlecht es ihnen ging, ein Hauptgrund ihrer Treffen war immer die körperliche Vereinigung. Doch als Aurelia ihrem Gemahl lediglich einen Kuss auf die Wange hauchte, sich danach wieder an ihn kuschelte und mit einem leisen Seufzen die Augen schloss, schämte sich Vespasian zutiefst. Denn er beneidete das Paar um ihre Liebe, die so rein und vollkommen ohne Eigennutz zu sein schien. Ihnen war es genug, einander nah zu sein, und er sehnte sich aus ganzem Herzen nach einer solchen Liebe. Gequält schloss er die Augen.
Selbst als ihn der Lärm einer Baustelle mit all ihrem Krach umfing, weigerte er sich, wieder einen Blick auf die Welt zu riskieren, die ihn umgab. Er war nur ein Geist, körperlich konnte er nicht verletzt werden. Doch das süße Bild des Ehepaares hatte sich in seine Gedanken eingebrannt und peinigte seine Seele.
Erst der Klang seiner eigenen Stimme brachte seine Entschlossenheit ins Wanken und drängte ihn, sich den weiteren Bildern seines Traumes zu stellen. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er sich nach ihr gesehnt hatte, bis sie aus dem Mund seines Doppelgängers erklang. Vorsichtig öffnete er die Augen und nahm sich einen Augenblick, um die Szene richtig zu erfassen. Das goldene Licht der Abendsonne erstrahlte einen ihm fremden Raum, in dem Aurelia auf einer eleganten Liege saß. Eng schmiegte sich an sie ein kleiner Junge, um dessen Hals eine goldene Bulla hing. Vor einer Weile war Vespasian im Haus seiner Patronin Antonia ein Bild vom Triumph des Germanicus ins Auge gefallen, auf dem der große Feldherr mit seinen Kindern auf dem Wagen stand. Auch wenn das Kind noch nicht im gleichen Alter war, sah es genauso aus wie Gaius. Doch Vespasian hatte das Gefühl, als würde man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen, als der Junge den Kopf hob und seinen Doppelgänger mit Aurelias Augen misstrauisch musterte. Instinktiv verstärkte der Kleine seinen Griff um seine Mutter und Vespasian sah, wie stark sich Aurelia konzentrieren musste, damit sie keine Schwäche zeigte.
Um den Augen des Jungen zu entfliehen, lenkte Vespasian seinen Blick auf seinen Doppelgänger und musste überrascht feststellen, dass dieser nicht allein war. An der Spitze einer kleinen Gruppe an Männern, die er flüchtig aus dem Senat kannte, stand sein böser Zwilling flankiert von seinem Bruder Sabinus und dessen Schwager Clemens. Aus der Ferne meinte er gedämpft Schreie zu hören. Aurelias Aufmerksamkeit richtete sich auf ihren Prätorianerpräfekten, als sie mit fester Stimme kalt zu erfahren verlangte, wieso diese Männer in dieses Zimmer vorgelassen worden waren. Demütig senkte Clemens den Kopf und erwiderte sachlich: „Ich fürchte, worüber sie mit Euch sprechen wollen, duldet keinen weiteren Aufschub."
Unmerklich verengte Aurelia ihre Augen, dann fuhr sie besänftigend ihrem Sohn über den Kopf und löste sich sanft von ihm. Langsam erhob sie sich von ihrer Liege und trat den Männern zu ihrer vollen Größe aufgerichtet entgegen. Jede Pore ihres Körpers strahlte die Stärke und Würde ihrer gesellschaftlichen Position aus. In diesem Moment war sie unverkennbar die mächtigste Frau der Welt. Gelassen erwiderte sie den Blick der Gesandten und gab ihnen stumm zu verstehen, dass sie ihr Anliegen vortragen sollten.
„Weißt du, was dein Mann im Circus Maximus veranstaltet?", platzte es aus seinem Alter Ego heraus. Für einen Wimpernschlag flackerte Wut in Aurelias meerblauen Augen auf. Ungeduldig nickte sie. Ein ehemaliger Konsul Mitte 60, dessen Name Vespasian entfallen war, drängte sich bestimmt an seinem Doppelgänger vorbei und richtete mit flehendem Ton das Wort an Aurelia: „Ihr müsst ihn dazu überreden, damit aufzuhören unsere Frauen wie niedrige Sklavinnen dem gemeinen Volk als Huren zu überlassen! Das ist Wahnsinn! Auf uns hört er nicht, aber vielleicht könnt Ihr mit Eurer Güte und Gnade zu ihm durchdringen."
Amüsiert schnaubte Aurelia und der Senator verstummte. Eindringlich blickte sie ihm in die Augen, als sie fragte: „Habt ihr wirklich nicht verstanden, weshalb mein Gemahl diese Frauen bestraft?"
Sämtliche Farbe wich aus dem Gesicht des älteren Mannes. Vorsichtig meinte er: „Er behauptet, dass unsere Frauen gegen Eure sacrosanctitas verstoßen haben."
Als er weitersprechen wollte, hob Aurelia gebieterisch die Hand. Das Licht der untergehenden Sonne betonte die Male auf der hellen Haut ihres Armes. Ihre makellose Fassade der Erhabenheit und Stärke löste sich auf und gab den Blick auf die verletzte Frau frei, die sie vor der Gesandtschaft zu verbergen versucht hatte. Augenblicklich schien die Temperatur im Raum zu sinken und ein Großteil der Männer senkten betreten den Kopf.
„Seht mich an!", befahl Aurelia kalt und die Senatoren leisteten sofort Folge. Eindringlich fuhr sie fort. „Eure Frauen, Schwestern und Töchter haben im Tempel der Bona Dea – den wohl heiligsten Ort für eine verheiratete Römerin - die Hand gegen mich erhoben und damit eines unserer heiligsten Gesetze gebrochen! Allein der Gnade der großen Göttin habe ich es zu verdanken, dass ich in diesem Moment vor Euch stehen kann, meine Herren! Mein Mann sowie das römische Volk haben das Recht sie zu bestrafen und ich werde die Tradition unserer Ahnen nicht beleidigen, indem ich dieses Vergehen ungestraft und ungerächt erdulde. Wenn Ihr kein weiteres Anliegen habt, welches Ihr mir vortragen könnt, bitte ich Euch mich wieder mit meinem Sohn allein zu lassen."
Ein Großteil der Senatoren machte mit unzufriedenen Mienen auf dem Absatz kehrt und verließen eilig den Raum. Zu Vespasians Überraschung verharrten Clemens, Sabinus und sein Doppelgänger stur auf ihren Plätzen. Falls Aurelia diese offene Gehorsamsverweigerung ebenfalls überraschte, verbarg sie geschickt hinter einer undurchdringlichen Miene. Ungerührt verschränkte sie die Arme vor der Brust und wartete, bis der Rest der Gesandtschaft sie nicht mehr hören konnte. Dann meinte sie spitz: „Euch habe ich auch gemeint."
„Im Gegensatz zu den anderen haben wir aber noch eine Angelegenheit, die wir mit dir besprechen wollen", sagte Sabinus galant, worauf Aurelia ihn nur mit einem kühlen Blick bedachte. Schnell fuhr der älteste Flavier fort: „Ich flehe dich an, schütze meine Frau vor dem Zorn deines Gatten und sorge dafür, dass er sie verschont. Ich schwöre dir, dass ich mich mit ihr und unseren Kindern auf das Land zurückziehen werde oder auch mit ihr ins Exil gehen werde, wenn es das ist, was er verlangt. Aber bitte, lass sie weiterleben."
Empört schnappte Aurelia nach Luft und verschränkte aufgebracht die Arme vor der Brust. Nur mit Mühe konnte sie die Wut im Zaum halten, die in ihrem Körper zu brodeln schien. Wie gern hätte Vespasian seinem Bruder aufgezeigt, wie sehr er sich in seiner Frau getäuscht hatte. Zuhause mochte Clementina die liebevolle und vor allem makellose Ehefrau und Mutter spielen, indem sie sich voller Hingabe um die gemeinsamen Kinder kümmerte, den Haushalt mit eiserner Hand führte und ihrem Gemahl treu und pflichtbewusst diente. Mit einem Mal wurde Vespasian das Gefühl nicht los, dass sein Bruder seine Frau gezielt auf Aurelia angesetzt hatte und sich nun schuldig fühlte, weil nun nur sie den Zorn des Herrscherpaares abbekam.
„Das werde ich ganz sicher nicht!", widersprach Aurelia aufgebracht. „Diese Frau hat versucht mich umzubringen und dabei mein unschuldiges Baby getötet! Dafür fordere ich von Euch, durch die ich so sehr gelitten habe, Gerechtigkeit! All die Jahre habe ich mich nicht für Eure Grausamkeit an Euch gerächt! Ihr habt Eure Karrieren fortsetzen können, als hätte es diese ganze rechtswidrige Ehe niemals gegeben! Und wieso? Weil ich diejenige war, die sich bei Gaius für Euch eingesetzt und ihn vom Weg der Milde und des Friedens überzeugt hat! Aber ich schwöre Euch, wenn Ihr diese Frau vor uns versteckt und sie beschützt, werden wir nicht nur sie zerstören, sondern auch Euch! Ich werde dafür sorgen, dass Ihr an ihrer Seite hingerichtet werdet und Eure Namen aus der Geschichte gestrichen wird! Liefert sie mir aus oder ich werde alles zerstören, was Ihr Euer Leben lang aufgebaut habt."
Schweigen legte sich über die Szene, während die Männer die Worte der mächtigsten Frau der Welt verarbeiteten und jeder für sich eine Entscheidung zu treffen versuchte. Wenig überraschend rang der Prätorianerpräfekt am meisten mit sich.
„Sie ist meine Schwester!", protestierte Clemens schwach und Aurelias eiskalter Blick traf ihn mit seiner vollen Härte. Gefährlich ruhig erklärte sie: „Wenn sie bis Sonnenaufgang nicht in meiner Obhut ist, seid Ihr meine Feinde und ich werde keine Gnade walten lassen, bis ich Euch vernichtet habe."
Mit einer unbeschreiblichen Endgültigkeit kehrte sie den drei Männern den Rücken zu und schlenderte ohne Hast zu ihrem Sohn. Plötzlich legte sich eine Hand auf ihren Arm und hielt sie zurück. Vor Schmerz zuckte Aurelia getroffen zusammen und instinktiv versuchte Vespasian ihr zu helfen. Doch als er in sein eigenes Gesicht blickte, wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er dies nicht konnte. Sabinus und Clemens waren nicht mehr zu sehen.
„Lass mich los!", verlangte Aurelia, doch sein böser Zwilling dachte gar nicht daran. Aus dem Augenwinkel nahm Vespasian eine Bewegung wahr. Mit raschelnder Toga kletterte der Junge von der Liege, auf der er bis eben brav auf die Rückkehr seiner Mutter gewartet hatte. Bestimmt trat er neben sie und fixierte den fremden Mann mit finsterer Miene, während er besitzergreifend die Hand seiner Mutter ergriff. Zutiefst bewunderte Vespasian den Mut dieses Kindes. Denn in seinem Alter wäre sein erster Impuls in einer solchen Situation gewesen, sich hinter seiner Mutter zu verstecken.
„Einst waren wir Freunde", erinnerte sein Doppelgänger sie eindringlich. „Das können wir wieder sein. Ein Wort von dir genügt und ich bringe dich vor diesem grausamen Scheusal in Sicherheit."
Vehement machte sich Aurelia von ihm los und funkelte ihn entrüstet an. Bestimmt trat ihr Sohn vor sie, doch sie zog ihn mühelos hinter sich und baute sich drohend vor seinem Alter Ego auf.
„Wie kannst du nur so etwas sagen!", fuhr sie ihn wütend an. „Nach allem, was du mir angetan hast, wagst du es, ihn als grausames Scheusal zu bezeichnen! Ausgerechnet du! Gaius ist das Beste, was mir jemals in meinem Leben widerfahren ist! Ich liebe ihn – mit all seinem Licht und seiner ganzen Dunkelheit. Bedingungslos. Er ist mein Zuhause."
Forschend musterte sie sein böser Zwilling und versuchte ihren Worten etwas anderes als die offenkundige Wahrheit zu entnehmen. In ihrer Geschichte waren die Rollen so klar verteilt: Vespasian war der Böse, Gaius ihr Held. Niemals würde sich daran etwas ändern und es war naiv von seinem Alter Ego anzunehmen, dass sie plötzlich wieder zu den Personen werden konnten, die sie bei ihrer ersten Begegnung gewesen waren. Dieser Mann und diese Frau existierten in diesem Traum nicht mehr. Sogar der andere Vespasian schien dies nun zu begreifen. Kurz nickte er, dann wandte er sich mit demütig gesenktem Kopf von ihr ab und ging entschlossen zur Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen. Ein letztes Mal drehte er sich zu ihr um und meinte matt: „Du weißt, dass du ihn nicht retten kannst. Heute seid ihr beide zu weit gegangen. Der Adel wird euch niemals vergeben."
Ein trauriges Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie sagte: „Ich würde lieber sterben, als auch nur einen einzigen Tag ohne ihn zu sein. Wenn er fällt, werde ich mich ihm fallen."
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