Kapitel 49: Lass mich dich vergessen

"Nathaniel.", sagt Liam viel steifer als gerade eben noch und verzerrt das Gesicht zu einem eher gequält wirkenden Lächeln.

"Schön dich zu sehen.", fügt er nach kurzem Schweigen knapp hinzu, ohne jedoch den Blickkontakt zu ihm zu unterbrechen.

Nate's Gesicht ist wie immer kalt und ausdruckslos, jedoch liegt diesmal ein dunkler Schatten über seinen Augen, der mir fremd und unheimlich ist. Zum ersten Mal sehe ich in ihm den einen Teil, vor dem er mich einst gewarnt hat und für den er sich offensichtlich verabscheut. Das Dunkle, das ... Böse, das ihn wie dunstige Nebelschwaden umgibt.

Plötzlich treffen sich unsere Blicke und im gleichen Moment ist der Schatten wieder verschwunden.

Ohne Liam zu antworten, wendet er seinen Blick von mir ab und verschwindet dann die Treppe hinauf.

Stirnrunzelnd starre ich ihm hinterher, aber der blonde Junge neben mir seufzt nur.

"Er war schon so seit Tag Eins.", murmelt Liam nachdenklich und sieht in die Richtung, in die Nate verschwunden ist.

"Hm.", antworte ich und schließe kurz meine Augen, aber das stechende Grün lässt nicht nach, wie als hätte sich Nate's Augenfarbe in meine Netzhaut eingebrannt.

"Onkel George hat gar nicht erwähnt, dass ihr zusammen seit.", ertönt Liam's Stimme nach kurzer Pause und ich wirble herum.

"Nate?", lache ich und schüttle heftig den Knopf, "Nein, wir sind nicht zusammen, wir sind nicht mal Freunde, aber ..."

Ich überlege, aber wie auch vor einiger Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt, weiß ich immer noch nicht die Antwort zu der Frage: Was sind Nate und ich?

Ich seufze und sehe dann vorsichtig in Liam's unschuldige, braunen Augen.

"Es ist kompliziert.", seufze ich schulterzuckend und er nickt.

"Liam!", ruft plötzlich eine Stimme hinter mir und genau im richtigen Moment erscheint der kleine, rundliche Mann am Treppenansatz.

"Onkel George!", erwidert Liam begeistert, geht zu seinem Onkel und umarmt ihn fest.

"Na, ich glaube du bist schon wieder gewachsen, Junge. Aber du bist dünner, na, Fiona und ich peppeln dich schon wieder auf.", plappert George vergnügt und zieht Liam und mich mit sanfter Gewalt ins Wohnzimmer.

"Fiona ist auf dem Weg. Wir wussten ja nicht, dass du so früh kommst! Du meintest ja, du wirst erst bei Abendanbruch bei uns sein! Setzt euch doch, setzt euch.", wie als wären wir zwei Puppen, werden wir auf einmal in die Couch gedrückt und werfen uns ein verschmitztes Lächeln zu, bevor Liam zu erzählen beginnt.

Ich höre nur noch mit halben Ohr zu, als Liam wieder von Neuem von seinem Operngesangsstudium an der kleineren Hochschule in Lubbock, eine Stadt etwa zwanzig Minuten entfernt von der etwas abgelegenen Farm, erzählen muss, da nun auch Fiona gekommen ist und ich sehe verträumt aus dem Fenster.

"Warum hasst Nate Fiona so sehr? Und warum auch sogar Liam? Warum hat er so große Schuldgefühle, dass er sogar von ihnen im Traum heimgesucht wird? Oder besser: Durch wen? Tess? Fiona?", Fragen über Fragen schwirren im mir Kopf herum, wie ein Schwarm wütender Bienen und ich seufze so leise auf, dass es niemand außer mir vernehmen kann.

"Hör mir zu, Jenny. Nate ist geheimnisvoll, er hat Leichen in einem Keller, von dem du noch nicht einmal weißt. Du kennst ihn nicht, eigentlich niemand kennt ihn, außer vielleicht Alex, aber die kennen sich schon seit Geburt quasi. Vertrau ihm nicht und halt dich gefälligst von ihm fern. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass man ein gebrochenes Herz nicht mal mit der besten Physiotherapeutin der Welt reparieren kann."

Ja, das hatte Scar einst zu mir gesagt.

Er hat Leichen in einem Keller, von dem du noch nicht einmal weißt. Oh ja, das hat er.

Glaub mir, wenn ich dir sage, dass man ein gebrochenes Herz nicht mal mit der besten Physiotherapeutin der Welt reparieren kann.

Ich zucke fast unmerklich zusammen, als der Klang ihrer Worte in meinem Kopf nachhallt.

Es scheint als würde jedes Mal, wenn Nate mich verletzt, der anfangs kaum deutliche Riss in meinem Herzen tiefer und immer tiefer werden. Wie als würde sich ein scharfer Glassplitter seinen Weg zu meinem Herzen bahnen. Jedes Mal ein wenig tiefer. Jedes Mal ein wenig schmerzvoller. Jedes Mal ein wenig tödlicher.

Nate P.O.V

Wenn es jemanden auf dieser Welt gibt, den ich genauso hasse wie meinen Vater oder meine Schwester oder ihren lächerlichen Verlobten, dann ist es er. Liam. Obwohl ... Fiona ist eigentlich ganz oben auf meiner Liste.

Ich weiß nicht warum, aber schon seitdem ich Liam das erste Mal gesehen habe, hasse ich ihn. Und er hasst mich.

Vielleicht ist es seine abartige Perfektion oder einfach die Tatsache, dass er zu Fiona's Familie gehört.

Ich seufze auf.

Ich hätte wissen müssen, dass er kommt. Schließlich ist bald die Hochzeit.

Die Hochzeit.

Stöhnend drehe ich mich auf den Rücken und starre gegen die Decke.

Jennifer.

Ich habe ihr wehgetan. Schon wieder. Wieso kann ich sie nicht verdammt nochmal in Ruhe lassen? Wieso muss ich immer wieder zu ihr zurückkommen - sie jedes Mal ein bisschen mehr zerstören und dabei zusehen, wie sie langsam kaputt geht?

In ihren braunen Augen liegt in letzter Zeit etwas leeres, ausdrucksloses.

Ich mache sie kaputt.

Wut kocht so plötzlich in mir hoch, dass ich vom Bett aufspringe und das erst beste gegen die Wand schleudere, das mir in die Finger kommt. Die hässliche Vase aus blauem Mosaik zerspringt ein tausend Teile an der Tapete und ich lasse mich zitternd auf den Boden sinken.

Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen.

Wieso muss ich alles zerstören?

Ein zitronenartiger Duft steigt mir in die Nase und ich höre ein Lachen.

Wieder dieses Lachen

Bitte nicht ... Nein ...

Ein kindliches, unschuldiges Lachen.

Mir dreht sich der Magen um.

Tess' Lachen.

"Worauf wartest du, Tess?", rufen einige Mädchen lachend. 

"Ich komme!", ruft sie und ich drehe den Kopf. 

Ein Mädchen, vermutlich ein Jahr jünger als ich, rennt an mir vorbei. 

"Sie sieht aus wie ein Engel.", ist mein erster Gedanke.

Ein Engel mit quietsch-gelben Kniestrümpfen. 

Du wirst mein Engel sein, Tess. 

Ihr goldenes Haar glänzt im Schein der Sonne. 

Mein Engel. 

Tess. Tess. Tess. 

Sie ist wie ein Gedicht. 

Wie Rosenblätter. 

Wie Parfum. 

Wie Kunst. 

Sie ist so schön. 

Du wirst meins sein, Tess. Ganz allein meins. Niemand wird mir dich wegnehmen. 

"Hey, warte mal.", rufe ich ihr hinterher und sehe wie sie mir über die Schulter einen Blick zuwirft. 

Ich grinse sie dreckig an. Sie errötet. 

Du bist so schön, Tess. 

Ich werfe Alex einen raschen Blick zu und hole sie dann innerhalb ein paar Schritte ein. 

"Geht schon mal vor, ich bin gleich da.", sagt sie zu ihren Freundinnen, die mich erst misstrauisch anschauen, dann aber nicken. 

Ich grinse der Rothaarigen pervers zu und mache einen Schmollmund, sodass sie erbleicht. Hannah. Ich habe sie diesen Sommer gefickt - gleich nachdem sie mir erzählt hat sie sei lesbisch. 

"Um Sicher zu gehen", hatte ich gesagt. Dummes Ding. Weiß sie nicht, wer ich bin? Weiß sie nicht, dass man dem bösen Wolf nicht vertrauen sollte? 

Mich wundert es ehrlich gestanden, dass Tess mit so welchen Leuten befreundet ist, oder hat sie die Gerüchte, die ich höchstpersönlich verbreitet habe nicht gehört? 

Nicht, dass ich etwas gegen Schwule oder Lesben habe, mir war einfach langweilig und sie war da. So ist das eben. Ich bin einfach ein schlechter Mensch. 

"Wir halten dir einen Platz im Bus frei.", meint die eine zu ihr. 

"Beeil dich.", zischt Hannah und Tess nickt. 

"Ich kenn dich nicht. Bist du neu?", frage ich sie, nachdem die Mädchen davon stolziert sind und mustere sie von oben bis unten. 

Sie ist um einiges kleiner als ich und hat eine zierliche Figur, sodass sie mich mit ihrer reinen, fast weißen Haut an eine dieser Keramik-Puppen erinnert. 

Wer bist du nur, Tess? 

"Ja das ist mein erstes Jahr an der High School und davor habe ich mit meinen Eltern in Texas gewohnt. Ich heiße übrigens Teresa, aber nenn mich ruhig Tess.", sagt sie schnell und sieht dabei auf ihre Füße. 

"Und wer bist du?", fragt sie und sieht mir zum ersten Mal direkt in die Augen. 

Ihre Augen sind so schön. Fast wie klares Wasser. Nein wie glitzernde Luft. Hellblau und schimmernd. 

Ich bin dein Anfang und dein Ende, Liebes. 

"Ich heiße Nate. Ich bin eine Klasse über dir.", erwidere ich gelassen und lasse sie dabei keine Sekunde aus den Augen.

"Oh o-ok.", stottert sie und kichert.

Warum lacht sie?

Sie deutet mit dem Finger nach draußen und wirft mir dann einen schüchternen Blick zu.

"Ich muss zum Bus.", sagt sie leise.

Mein Engel, du gehörst mir.

Ich öffne die Augen und reibe mir über's Gesicht.

Mit Jennifer war es anders. Es war intensiver. Heftiger.

"Ich will dich niemals verletzten.", war mein erster Gedanke, als ich sie in die Klasse von Mrs. Brown stolpern habe sehen.

Mit Jennifer war es so unglaublich anders. Sie ist anders.

Es war als würde ich ... als würde ich ihr's sein wollen.

Ich will ihr's sein.

_______♡_______

Uh-Uh ... Nate's Vergangenheit kommt langsam ans Licht ... Ist noch wer am kreischen? (Ich weiß, ich bin die Autorin, aber ich bin trotzdem immer super aufgeregt :D)

Naja, ich hoffe wirklich sehr, dass es euch gefallen hat!♥︎ Ich würde mich super freuen, wenn ihr mir ein Vote und einen Kommentar dalässt. Ich freu mich immer wie n Kind an Weihnachten wenn ich die ganzen Kommis lese :D ♥︎

Eliana

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